Urteil des HessVGH vom 14.12.2006

VGH Kassel: bundesamt für migration, afghanistan, asylverfahren, bad, hauptsache, abschiebung, rechtsschutz, erlass, anerkennung, ermessen

Gericht:
Hessischer
Verwaltungsgerichtshof
8. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
8 Q 2642/06.A
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 24 Abs 2 AsylVfG 1992, §
42 S 1 AsylVfG 1992, § 71
Abs 1 AsylVfG 1992, § 71
Abs 5 AsylVfG 1992, § 80
AsylVfG 1992
(Folgeschutzantrag nach Asylverfahren)
Leitsatz
1. Der nach Abschluss eines Asylverfahrens gestellte Folgeschutzantrag auf
Feststellung zielstaatsbezogener Abschiebungshindernisse gemäß § 60 Abs. 7
AufenthG stellt zwar keinen Asylfolgeantrag gemäß § 71 Abs. 1 AsylVfG dar, er
begründet aber wegen der alleinigen Entscheidungskompetenz des Bundesamtes für
Migration und Flüchtlinge eine asylrechtliche Streitigkeit.
2. Gegen eine drohende Abschiebung aufgrund der früheren asylrechtlichen
Abschiebungsandrohung während der (erneuten) Prüfung zielstaatsbezogener
Abschiebungshindernisse kommt einstweiliger Rechtsschutz zunächst nur durch eine
einstweilige Anordnung an das Bundesamt in Frage, womit dieses zu der Mitteilung an
die Ausländerbehörde verpflichtet wird, dass eine Abschiebung vorläufig bis zum
Abschluss des Folgeschutzverfahrens nicht vorgenommen werden darf.
3. Ein solcher vorläufiger Rechtsschutzantrag kann nach erstinstanzlicher Ablehnung
nur als Abänderungsantrag in entsprechender Anwendung des § 80 Abs. 7 VwGO
gestellt werden und zwar im Berufungszulassungsverfahren auch beim
Oberverwaltungsgericht/Verwaltungsgerichtshof als Gericht der Hauptsache.
Tenor
Auf den Antrag des Antragstellers gegen die Antragsgegnerin zu 1. wird der
Beschluss des Verwaltungsgerichts Frankfurt am Main vom 6. Dezember 2005 – 3
G 5116/05.A(1) – im Sachausspruch wie folgt geändert:
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge wird im Wege der einstweiligen
Anordnung verpflichtet, der Oberbürgermeisterin der Antragsgegnerin zu 2. als
deren Ausländerbehörde mitzuteilen, dass der Antragsteller vorläufig nicht auf
Grund der bestandskräftigen Abschiebungsandrohung in dem
Asylablehnungsbescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer
Flüchtlinge vom 18. September 2003 nach Afghanistan abgeschoben werden darf,
bis über den auf die Feststellung von Abschiebungshindernissen gemäß § 60 Abs.
7 AufenthG gerichteten Folgeschutzantrag vom 4. Juni 2005 bestands- bzw.
rechtskräftig entschieden worden ist.
Der Antrag des Antragstellers gegen die Antragsgegnerin zu 2. wird abgelehnt.
Die Antragsgegnerin zu 1. hat dem Antragsteller die außergerichtlichen Kosten
des vorliegenden Abänderungsverfahrens zu erstatten.
Der Antragsteller hat der Antragsgegnerin zu 2. die außergerichtlichen Kosten
dieses einstweiligen Rechtsschutzverfahrens zu erstatten.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
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7
Der gegen die Antragsgegnerin zu 1. gerichtete Antrag des Antragstellers auf
Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 123 VwGO ist als
Abänderungsantrag in entsprechender Anwendung des § 80 Abs. 7 VwGO zulässig
und begründet.
Der Statthaftigkeit dieses Antrags steht der Beschwerdeausschluss gemäß § 80
AsylVfG nicht entgegen.
Es liegt eine asylverfahrensrechtliche Streitigkeit im Sinne dieser Vorschrift vor.
Der nach rechtskräftigem Abschluss seines ersten Asylverfahrens durch Urteil des
Verwaltungsgerichts Frankfurt am Main vom 29. Juni 2004 – 5 E 5604/03.A – beim
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) mit
Schreiben seiner Verfahrensbevollmächtigten vom 4. Juni 2005 gestellte und mit
Bescheid des Bundesamtes vom 27. September 2005 und dem im
Berufungszulassungsverfahren angefochtenen Urteil des Verwaltungsgerichts
Frankfurt am Main vom 20. Januar 2006 abgelehnte „Asylfolgeantrag“ des Klägers
stellt zwar – trotz dieser Bezeichnung - keinen Folgeantrag gemäß § 71 Abs. 1
i.V.m. § 13 Abs. 1 und 2 AsylVfG dar, weil er ausdrücklich nur die Feststellung der
Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG hinsichtlich Afghanistan beantragt und
dies auch nur mit einer fehlenden Existenzmöglichkeit bzw. einer erheblichen
Gefährdung im Falle seiner Rückkehr, nicht aber mit drohender politischer
Verfolgung begründet hat, so dass das Wiederaufgreifen des Verfahrens nicht
durch § 71 Abs. 1 AsylVfG beschränkt, sondern in unmittelbarer Anwendung des §
51 VwVfG zu prüfen ist und deshalb auch nach behördlichem Ermessen gemäß §
51 Abs. 5 i.V.m. §§ 48, 49 VwVfG eröffnet werden kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 7.
September 1999 – 1 C 6/99 – NVwZ 2000 S. 204 ff. = juris Rdnr. 16 und Urteil vom
21. März 2000 – 9 C 41/99 – BVerwGE 111 S. 77 ff. = NVwZ 2000 S. 940 f. = juris
Rdnrn. 10 f.; Ns. OVG, Urteil vom 1. März 2001 – 1 L 593/00 – AuAS 2001 S. 140 ff.
= juris Rdnr. 24).
Es liegt aber trotzdem eine asylrechtliche Streitigkeit vor, weil das Bundesamt
wegen seiner durch das erste Asylverfahren gemäß § 24 Abs. 2 AsylVfG
begründeten Zuständigkeit auch für die Feststellung gemäß § 60 Abs. 7 AufenthG
und wegen der für die Ausländerbehörde gemäß § 42 Satz 1 AsylVfG bestehenden
Bindungswirkung seiner auf Dauer angelegten negativen Feststellung auch für das
erneut auf die Feststellung zielstaatsbezogener Abschiebungshindernisse
gerichtete Wiederaufnahmeverfahren allein zuständig bleibt (vgl. BVerwG, Urteil
vom 21. März 2000 a.a.O. juris Rdnrn. 8 f.; Ns. OVG, Urteil vom 1. März 2001 a.a.O.
juris Rdnr. 25 m.w.N.) und es deshalb in Wahrnehmung seiner ihm vom
Asylverfahrensgesetz übertragenen Aufgaben tätig wird, auch wenn die begehrte
Entscheidung ihre Rechtsgrundlagen in anderen Gesetzen – hier §§ 51, 48, 49
VwVfG und § 60 Abs. 7 AufenthG – hat (vgl. BVerwG, Beschluss vom 6. März 1996 -
9 B 714/95 - NVwZ-RR S. 255 f. = juris Rdnrn. 4 f.; VGH Bad.-Württ., Beschluss vom
2. Dezember 1997 – A 14 S 3104/97 – InfAuslR 1998 S. 193 f. = juris Rdnr. 3
m.w.N.).
Der danach anwendbare Beschwerdeausschluss gemäß § 80 AsylVfG würde auch
nach der bereits erfolgten Ablehnung des einstweiligen Rechtsschutzantrags des
Antragstellers durch Beschluss des Verwaltungsgerichts Frankfurt am Main vom 6.
Dezember 2005 – 3 G 5116/05.A(1) – eine bloße zweitinstanzliche Wiederholung
dieses Antrags im Rahmen des Berufungszulassungsverfahrens ausschließen; das
gilt aber nicht für einen Abänderungsantrag entsprechend § 80 Abs. 7 VwGO, weil
es sich dabei nicht um ein Rechtsmittel handelt, mit dem die Rechtmäßigkeit des
erstinstanzlichen Beschlusses überprüft wird, sondern um ein neues
eigenständiges Verfahren über die Fortdauer der bisher über den begehrten
einstweiligen Rechtsschutz getroffenen gerichtlichen Entscheidung, für das
während des durch den Zulassungsantrag eingeleiteten Berufungsverfahrens das
Oberverwaltungsgericht/der Verwaltungsgerichtshof als Gericht der Hauptsache
zuständig ist (vgl. für ähnliche Sachverhalte u. a. Hamb. OVG, Beschluss vom 1.
November 1995 – Bs V 150/95 – juris Rdnrn. 2 und 3; Saarl. OVG, Beschluss vom
6. Mai 2002 – 3 U 9/01 – juris Rdnr. 9; s. a. Renner, Ausländerrecht, 8. Aufl., § 80
AsylVfG Rn 6).
Im Interesse einer effektiven Rechtsschutzgewährung gemäß Art. 19 Abs. 4 GG ist
der vorliegende Antrag des Antragstellers vom 1. November 2006 gemäß § 88
i.V.m. § 122 Abs. 1 VwGO in diesem Sinne auszulegen, weil er sich zur Begründung
auf eine erhebliche Änderung der Sach- und Rechtslage beruft, die seit dem
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auf eine erhebliche Änderung der Sach- und Rechtslage beruft, die seit dem
Ablehnungsbescheid des Bundesamtes vom 27. September 2005, auf den das
Verwaltungsgericht Frankfurt am Main zur Begründung seines Beschlusses vom 6.
Dezember 2005 Bezug genommen hat, eingetreten sei.
Der Antrag ist auch begründet, denn die vom Antragsteller unter Heranziehung
neuer Erkenntnismittel abgegebene eingehende Darstellung der Verschlechterung
der Sicherheits- und insbesondere der Versorgungslage in Afghanistan, vor allem
auch in seiner Heimatprovinz Paktia und in Kabul, begründet ernstliche Zweifel an
der Annahme des Bundesamtes und des Verwaltungsgerichts, selbst für einen
alleinstehenden Rückkehrer bestehe insbesondere im Raum Kabul keine extreme
Gefahrenlage, die eine verfassungskonforme Anwendung des § 60 Abs. 7
AufenthG rechtfertigen könnte. Daher hat der Senat mit Beschluss vom heutigen
Tage im Zulassungsverfahren 8 UZ 583/06.A die Berufung des Klägers gegen das
abweisende Urteil des Verwaltungsgerichts Frankfurt am Main vom 20. Januar 2006
- 3 E 3629/05.A(1) - zugelassen, weil sich aus der dort vom Antragsteller
angeführten Stellungnahme des Sachverständigen Dr. B. vom 13. Januar 2006 vor
dem Verwaltungsgericht Wiesbaden Anhaltspunkte für die Klärungsbedürftigkeit
dieser hier entscheidungserheblichen Frage ergeben, vor allem dahingehend, ob
für afghanische Rückkehrer aus dem europäischen Ausland ohne familiäre und
sozioökonomische Bezüge wegen der katastrophalen Verschlechterung der
Lebensbedingungen in Afghanistan und auch im Bereich Kabul eine
lebensbedrohliche Unterversorgung drohe.
Entgegen dem Antrag des Antragstellers kann die einstweilige Anordnung
inhaltlich jedoch nicht auf den Widerruf der in § 71 Abs. 5 Satz 1 AsylVfG
vorgesehenen Vollziehbarkeitsmitteilung des Bundesamtes gegenüber der
Ausländerbehörde gerichtet werden, weil der vorliegende Folgeschutzantrag
keinen Asylfolgeantrag gemäß § 71 Abs. 1 AsylVfG darstellt, so dass auch Absatz
5 dieser Vorschrift nicht anwendbar ist (vgl. u. a. Marx, AsylVfG, 6. Aufl. 2005, Rdnr.
82 zu § 71; Bayer. VGH, Beschluss vom 29. November 2005 – 24 CE 05.3107 –
juris Rdnr. 11; für entsprechende Anwendung Ns. OVG, Beschluss vom 1.
November 2004 – 8 UE 254/04 – AuAS 2005 S. 58 ff. = juris Rdnr. 6). Die
einstweilige Anordnung verpflichtet deshalb das Bundesamt lediglich zu der
Mitteilung an die Ausländerbehörde, dass der Antragsteller vorläufig bis zum
Abschluss der Prüfung der von ihm geltend gemachten zielstaatsbezogenen
Abschiebungshindernisse nicht abgeschoben werden darf (vgl. auch VGH Bad.-
Württ., Beschluss vom 2. Dezember 1997 a.a.O. im Senatsbeschluss vom 13.
Dezember 2006 - 8 UZ 583/06.A -).
Der gegen die Antragsgegnerin zu 2. (hilfsweise) gestellte Antrag, sie im Wege
einstweiliger Anordnung zu verpflichten, von Abschiebemaßnahmen gegenüber
dem Antragsteller bis zu einer Entscheidung im anhängigen Hauptsacheverfahren
abzusehen, ist jedoch nicht zulässig und deshalb abzulehnen.
Der Antrag konnte nicht „hilfsweise“ gestellt werden, weil der gegen eine andere
Rechtsträgerin gerichtete Rechtsschutzantrag ein eigenes, selbständiges
Prozessrechtsverhältnis begründet hat, der Antrag also nicht von einer
„innerprozessualen Bedingung“ abhängig gemacht werden konnte.
Der vorläufige Rechtsschutzantrag konnte auch nicht gegen die Antragsgegnerin
zu 2. als Trägerin der Ausländerbehörde gerichtet werden, weil allein das
Bundesamt für das Wiederaufgreifen des Verfahrens über die Feststellung der
Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG in Bezug auf die geltend gemachten
zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernisse zuständig und die
Ausländerbehörde an dessen Entscheidung gemäß § 42 Satz 1 AsylVfG gebunden
ist (vgl. u. a. Ns OVG, Beschluss vom 1. November 2004 a. a. O.); etwas anderes
könnte allenfalls dann gelten, wie sie erkennbar unter Missachtung dieser Bindung
einen Folgeschutzantragsteller abschieben wollte, wofür hier aber Anhaltspunkte
weder geltend gemacht noch ersichtlich sind.
Die Entscheidungen über die Erstattung außergerichtlicher Kosten ergeben sich
aus § 154 Abs. 1 VwGO; Gerichtskosten werden gemäß § 83 b AsylVfG nicht
erhoben.
Dieser Beschluss ist gemäß § 80 AsylVfG und § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.