Urteil des HessVGH vom 04.12.2008

VGH Kassel: stadt, störfall, verordnung, öffentlich, subjektives recht, genehmigung, kommission, gartencenter, anwendungsbereich, untätigkeitsklage

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Gericht:
Hessischer
Verwaltungsgerichtshof
4. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
4 A 882/08
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 75 VwGO, § 68 VwGO, § 3
Abs 3 BImSchV 12 2000, §
34 Abs 1 S 2 Halbs 1
BauGB, § 50 BImSchG
(Untätigkeitsklage auf Zurückweisung des
Nachbarwiderspruchs; Einfügen eines Gartencenters mit
Freiverkaufsfläche; Umfang der Pflicht zur Begrenzung
eines Dennoch-Störfalls; Heranrücken der Bebauung und
Rücksichtnahmegebot; Verhältnis des BImSchG § 50 zu
BauGB § 34; Folgerungen aus dem Vorliegen einer Gefahr
eines sog. Dennoch-Störfalls)
Tenor
Die Berufungen des Beklagten und der Beigeladenen gegen das Urteil des
Verwaltungsgerichts Darmstadt vom 27. November 2007 - 9 E 2454/05(3) -
werden zurückgewiesen.
Der Beklagte und die Beigeladene haben die Kosten des
Berufungsverfahrens je zur Hälfte zu tragen.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die
Kostenschuldner dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder
Hinterlegung in Höhe der vollstreckbaren Kosten abwenden, sofern nicht der
Kostengläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leistet.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Zurückweisung eines Widerspruchs der Beigeladenen, den
diese gegen einen der Klägerin erteilten Bauvorbescheid eingelegt hat.
Die Klägerin ist Eigentümerin der Grundstücke U.-Straße ... und ... in der
Gemarkung C-Stadt (Flur ..., Flurstück-Nrn.: .../1, ... und .../3). Die Grundstücke
haben eine Gesamtfläche von 30.806 qm. Das Grundstück wird u. a. für eine
immissionsschutzrechtlich genehmigte Schrott- und Metallrecyclinganlage
genutzt. Die Grundstücke liegen im sogenannten Gewerbegebiet Nordwest. Ein
rechtswirksamer Bebauungsplan liegt für dieses Gebiet nicht vor. Westlich
schließen sich an die klägerischen Grundstücke Bürogebäude sowie ein
Gewerbepark mit Hochregallager bis zum Wöhlerweg hin an. Noch weiter westlich,
jenseits des Wöhlerwegs, befinden sich ein ALDI-Markt und ein Möbelhaus. Das
unmittelbar östlich an die klägerischen Grundstücke angrenzende Grundstück wird
von einem Farbengroßhandel (mit Büro- und Lagergebäude) genutzt. Weiter
östlich (U.-Straße 51) befindet sich ein großflächiger Einzelhandelsbetrieb
(Praktiker-Baumarkt). Südlich der klägerischen Grundstücke, jenseits der U.-
Straße, befinden sich ein Autohaus (SEAT), ein Autoteile-Fachgeschäft und
Werkstätten (Bosch, DEKRA, TetraPak) sowie weitere großflächige
Einzelhandelsbetriebe (ein Hornbach-Baumarkt und ein Bauhaus-Baumarkt).
Etwas weiter entfernt befindet sich in südwestlicher Richtung noch ein Hotel (U.-
Straße 84). Die genannten großflächigen Einzelhandelsbetriebe (Praktiker,
Hornbach und Bauhaus) verfügen jeweils auch über dem Verkauf dienende
Außengelände. Im Norden der klägerischen Grundstücke grenzen mehrere
Bahntrassen an. Das Betriebsgelände der Beigeladenen befindet sich nördlich
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Bahntrassen an. Das Betriebsgelände der Beigeladenen befindet sich nördlich
dieser Bahntrassen. In einer Entfernung von ca. 70 m zu den klägerischen
Grundstücken befindet sich die zentrale Abwasserbehandlungsanlage des Betriebs
der Beigeladenen. Das eigentliche Betriebsgelände der Beigeladenen ist ca. 250 m
von den klägerischen Grundstücken entfernt. Bei dem Werksgelände handelt es
sich um einen Betriebsbereich im Sinne des Störfallrechts, der nach § 1 Abs. 1
Satz 1 der 12. BImSchV unter die erweiterten Pflichten der 12. BImSchV (Störfall-
Verordnung) fällt.
Die Klägerin beantragte am 29. Juni 2004 bei der Stadt C-Stadt einen
Bauvorbescheid für die Errichtung eines Gartencenters mit einer
Bruttogeschossfläche von ca. 13.000 m² (Verkaufsfläche 9.368 m², davon 1.340
m² Freiflächen).
Unter dem 27. April 2005 erteilte die Stadt C-Stadt den beantragten
Bauvorbescheid über die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit des Vorhabens. Sie
ging hierbei davon aus, dass bei der Beurteilung des Bauvorhabens nach § 34
BauGB § 50 BImSchG nicht anwendbar sei, da es sich nicht um eine
raumbedeutsame Planung handele. Auch Art. 12 Abs. 1 Seveso-II-Richtlinie sei
nicht unmittelbar anwendbar. In der vorliegenden Gemengelage lasse sich ein
ausreichender Schutzabstand nicht bestimmen. Die vorhandene Bebauung habe
sich im vorliegenden Fall bereits so verfestigt, dass mit dem Hinzutreten einer
weiteren baulichen Anlage keine signifikante Vergrößerung der
Störfallauswirkungen verbunden sei.
Mit Schreiben vom 11. Mai 2005 legte die Beigeladene gegen den Bauvorbescheid
Widerspruch ein. Mit der Genehmigung von öffentlich genutzten Gebäuden in der
Nachbarschaft zu der immissionsschutzrechtlich genehmigten Störfallanlage
verletze die Stadt C-Stadt die ihr nach den Bestimmungen des europäischen und
nationalen Immissionsschutzrechts gegenüber der Beigeladenen obliegenden
Pflichten. Die Stadt müsse einen angemessenen Abstand zwischen dem
Betriebsbereich der Beigeladenen und der Umgebung gewährleisten. Die
Ansiedlung von Örtlichkeiten mit Publikumsverkehr verschlimmere die Folgen eines
schweren Unfalls im Sinne des Art. 3 Nr. 5 Seveso-II-Richtlinie. Über das in § 34
Abs. 1 BauGB enthaltene Merkmal des Einfügens, in das auch das
Rücksichtnahmegebot falle, seien die Anforderungen an den Umgebungsschutz
von Störfallanlagen auch für die Einzelgenehmigung von Bauvorhaben erheblich
und drittschützend. Das Gebot der Rücksichtnahme sei verletzt, weil durch die
Errichtung des Gartencenters bodenrechtlich relevante Nachteile für das
Grundstück der Beigeladenen zu erwarten seien. Die Beigeladene sei verpflichtet,
die Auswirkungen von Störfällen so gering wie möglich zu halten. Es sei
rücksichtslos, der Beigeladenen zuzumuten, gegen diese Pflichten zu verstoßen,
indem notwendige Sicherheitsabstände durch heranrückende Wohnbebauung
nicht eingehalten würden. Auch seien die Anforderungen von Art. 12 Seveso-II-
Richtlinie nicht erfüllt. Dieser verpflichte die zuständigen Behörden, die Ansiedlung
von Schutzobjekten in der Umgebung von Störfallanlagen zu überwachen. Dieser
Pflicht sei die Stadt C-Stadt nicht nachgekommen. In Deutschland sei dieses
Gebot in § 50 BImSchG umgesetzt worden. Nach herrschender Meinung im
Schrifttum falle die Erteilung von Baugenehmigungen auf der Grundlage von § 34
BauGB in den sachlichen Anwendungsbereich von § 50 BImSchG.
Nachdem der Beklagte als Widerspruchsbehörde über den Drittwiderspruch der
Beigeladenen nicht entschieden hatte, hat die Klägerin am 23. Dezember 2005
Untätigkeitsklage erhoben.
Zur Begründung hat sie vorgetragen: Der Bauvorbescheid sei rechtmäßig und
verletze die Beigeladene nicht in ihren Rechten. Die bauplanungsrechtliche
Zulässigkeit des Vorhabens beurteile sich nach § 34 BauGB, da sich das
Baugrundstück im unbeplanten Innenbereich befinde. Das Bauvorhaben füge sich
nach Art und Maß der baulichen Nutzung, der Bauweise und der
Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, in die Eigenart der näheren
Umgebung ein. In die vorhandene Gemengelage, in der auch großflächige
Einzelhandelsbetriebe vorhanden seien, füge sich das Bauvorhaben ein. § 50
BImSchG sei im Anwendungsbereich von § 34 BauGB nicht zu beachten. Für das
Verhältnis zwischen § 50 BImSchG und § 34 BauGB sei die Leitentscheidung des
Bundesverwaltungsgerichts (Beschluss vom 12. Juni 1990 - 7 B 72/90 - NVwZ
1990, 962) maßgeblich, wonach im Rahmen des § 34 BauGB für eine
"planersetzende" Entscheidung in dem Sinne, dass die Behörde eine planerische
Abwägung unter Berücksichtigung des Planungsgrundsatzes in § 50 BImSchG zu
Abwägung unter Berücksichtigung des Planungsgrundsatzes in § 50 BImSchG zu
treffen hätte, kein Raum sei. Auch seien die europarechtlichen Vorgaben des Art.
12 Seveso-II-Richtlinie durch das 5. Gesetz zur Änderung des Bundes-
Immissionsschutzgesetzes vom 19. Oktober 1998 im Wege einer Änderung von §
50 BImSchG in nationales Recht transformiert worden. Diese Norm beschränke
sich ihrem Anwendungsbereich nach auf das Planungsrecht. Selbst wenn Art. 12
Abs. 1 Seveso-II-Richtlinie für den Bereich des Planungsrechts mit der Änderung
von § 50 BImSchG nicht vollständig umgesetzt worden wäre, bedeute dies nicht,
dass § 50 BImSchG dahingehend richtlinienkonform auszulegen sei, dass ihr
Anwendungsbereich auch auf Fälle außerhalb des Planungsrechts auszudehnen
sei. Art. 12 Seveso-II-Richtlinie überlasse es grundsätzlich den Mitgliedstaaten, auf
welche Weise ihre Vorgaben in nationales Recht umgesetzt würden (vgl. Art. 249
EGV). Dies gelte umso mehr, als Art. 12 Abs. 1 Seveso-II-Richtlinie offen gefasst
sei und lediglich von der "Politik der Flächennutzung und/oder anderen
einschlägigen Politiken sowie den Verfahren für die Durchführung dieser Politiken"
spreche. Schon die Formulierung "einschlägige Politiken" deute darauf hin, dass
das angestrebte Ziel nicht nur mit einer Norm oder in einem Rechtsgebiet
umgesetzt werden könne. Daher greife es zu kurz, ausschließlich § 50 BImSchG
als Zielnorm für eine vollständige Umsetzung heranzuziehen. Darüber hinaus
dürfe nicht übersehen werden, dass das angestrebte Ziel "langfristig" zu erreichen
sei. Dies bedeute, dass sich der Richtliniengeber offenbar darüber im Klaren
gewesen sei, dass eine kurzfristige Auflösung bestehender Gemengelagen
unmöglich sei und sich deshalb das Ziel der Trennung von Störfallbetrieben und
schutzwürdigen Gebieten nur auf längere Sicht erreichen lasse. Dies führe
allerdings dazu, dass eine Umsetzung der Richtlinie auf der Planungsebene
erforderlich sei, weil diese zukunftsgerichtet über die Flächennutzung entscheide.
Auch das Gebot der Rücksichtnahme, das Bestandteil des Einfügensgebots des §
34 BauGB sei, werde durch das Bauvorhaben nicht verletzt. Weder gingen von
dem Vorhaben der Klägerin unzumutbare Emissionen aus, noch sei es
Immissionen durch den Betrieb der Beigeladenen ausgesetzt. Zwar könne auch
die aus einem Heranrücken einer schutzwürdigen Bebauung an einen
bestehenden Betrieb resultierende Forderung, Schutzmaßnahmen zu ergreifen,
eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots begründen. Fraglich sei in diesem
Zusammenhang insbesondere, ob sich bei einem Heranrücken des Bauvorhabens
an das Betriebsgelände der Beigeladenen für diese aus der Störfall-Verordnung
Pflichten ergäben und ob dies gegebenenfalls eine Verletzung des
Rücksichtnahmegebots begründen könne. Denkbar sei, dass die
Gefahrenabwehrpflichten aus § 3 Abs. 1 und 3 Störfall-Verordnung neue Pflichten
begründen, falls ein Vorhaben an einen bestehenden Störfallbetrieb heranrücke.
Zur Erfüllung der Pflichten zur Verhinderung des Eintritts von Störfällen gemäß § 3
Abs. 1 Störfall-Verordnung und zur Begrenzung der Auswirkungen etwaiger
("Dennoch"-) Störfälle gemäß § 3 Abs. 3 Störfall-Verordnung könnten nämlich
erforderlichenfalls die Einhaltung von ausreichenden Abständen zu Schutzobjekten
(Sicherheitsabstände) und die Einrichtung von Schutzzonen sowie
Schutzbereichen behördlich verlangt werden (vgl. Hessischer VGH, Urteil vom
23.01.2001 - 2 UE 2899/96 - NVwZ 2002, 742). Die Anordnung von
Sicherheitsabständen als immissionsschutzrechtliche Maßnahme zur Begrenzung
von Störfallauswirkungen auf der Grundlage der Störfall-Verordnung werde von der
Rechtsprechung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs unter bestimmten
engen Voraussetzungen anerkannt. Es fehle bislang aber an einer normativen
Festlegung dieser Abstände. Nach Ansicht des Hessischen
Verwaltungsgerichtshofs stehe es allein im pflichtgemäßen Ermessen der
Behörde, unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zu
bestimmen, mit welchen Auswirkungen bei Störfällen aufgrund der konkreten
Beschaffenheit und Lage der gefährlichen Anlage zu rechnen sei. Die danach
erforderliche Risikoermittlung und -bewertung der Behörden könne, müsse aber
nicht zur Anordnung von Sicherheitsabständen führen. In Bezug auf das
Betriebsgelände der Beigeladenen seien von der zuständigen Behörde bislang
keine Sicherheitsabstände verlangt worden, obwohl in der Umgebung des Betriebs
der Beigeladenen bereits eine Reihe von publikumsträchtigen Nutzungen
vorhanden seien. Dies sei für den vorliegenden Rechtsstreit insofern von
Bedeutung, als u. a. der Farbengroßhandel und der Praktiker-Markt genauso weit
vom Betriebsgelände der Beigeladenen entfernt seien wie die Baugrundstücke.
Noch näher an dem Betriebsgelände (ca. 100 m Abstand) lägen sogar die weiter
östlich gelegenen Dauerkleingärten zwischen L.-Ring und M.-Straße. Der
Nordbahnhof an der M.-Straße sei sogar weniger als 100 m von dem
Betriebsgelände entfernt. Im Übrigen befänden sich die Baugrundstücke auch
nicht im sicherheitsrelevanten Bereich. Soweit bekannt sei, werde die Einhaltung
von Sicherheitsabständen in der Praxis bislang nur für Flüssiggas-Tanklager
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von Sicherheitsabständen in der Praxis bislang nur für Flüssiggas-Tanklager
verlangt (vgl. Hessischer VGH, Urteil vom 23.01.2001, a. a. O.). In dem Entwurf der
Bundesregierung für eine auf der Grundlage von § 7 Abs. 1 BImSchG zu
erlassende Flüssiggaslager-Verordnung vom 20. Januar 1998 sei ein maximaler,
auswirkungsbegrenzender Abstand von 60 m vorgeschlagen worden. In dem
genannten Urteil des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs würden
Sicherheitsabstände bis höchstens 170 m diskutiert. Selbst die für die äußerst
gefährlichen Flüssiggas-Tanklager angenommenen Sicherheitsabstände würden
im vorliegenden Fall somit noch weit überschritten. Normativ ungeregelt sei im
Übrigen auch nicht nur, ob Sicherheitsabstände einzuhalten seien, sondern auch,
wie groß ein solcher Abstand zu sein habe. In der Literatur werde vertreten, dass
der angemessene Abstand anhand der Relation von Eintrittshäufigkeit und
Schadensumfang und damit einzelfallbezogen zu bestimmen sei. Dies setze
jedoch voraus, dass rein tatsächlich etwa erforderliche ausreichend große
Abstandsflächen vorhanden seien. Seien diese nicht vorhanden, werde man die
Angemessenheit des Abstands nicht losgelöst von der bestehenden
Siedlungsstruktur bestimmen können. Dabei werde man berücksichtigen müssen,
dass sich bei bestehenden Gemengelagen optimale Abstände ohnehin nicht
erreichen ließen, und es deshalb darum gehe, einen angemessenen
Interessenausgleich herbeizuführen. Art. 12 Seveso-II-Richtlinie nehme hierauf
Rücksicht, indem er ausdrücklich "bestehende Betriebe" und damit Gemengelagen
erwähne und bei ihnen nicht ebenfalls die Wahrung eines angemessenen
Abstandes verlange, sondern lediglich zusätzliche technische Maßnahmen zur
Gefahrenabwehr fordere. Art. 12 Abs. 1 Seveso-II-Richtlinie enthalte damit weder
einen Vorrang für bestehende Störfallbetriebe noch für die schutzwürdige
Umgebung. Deshalb verbiete sich auch eine Auslegung dieser Norm, die in
Gemengelagen zu einem einseitigen Vorrang einer der beiden Normbetroffenen
führe. Auch das Bundesverwaltungsgericht habe in einer Entscheidung vom 13.
Mai 2004 (- 4 BN 15.04 -) noch einmal für § 50 BImSchG bestätigt, dass das
Trennungsgebot für die Überplanung einer bereits bestehenden Gemengelage
keine strikte Geltung beanspruche. Keinen Einfluss auf die vorliegende
Entscheidung habe der Leitfaden "Empfehlungen für Abstände zwischen
Betriebsbereichen nach der Störfall-Verordnung und schutzbedürftigen Gebieten
im Rahmen der Bauleitplanung - Umsetzung § 50 BImSchG" der SFK/TAA-
Arbeitsgruppe "Überwachung der Ansiedlung" vom 18. Oktober 2005. Danach
seien für die Bewertung der Frage, ob von einem vorhandenen Betriebsbereich
Gefahren für benachbarte Wohnbebauung ausgehen können, die
Abstandsempfehlungen des Leitfadens nicht geeignet. Letzteres gelte
insbesondere für Gemengelagen, in denen historisch Wohnen und Gewerbe
und/oder Industrie nebeneinander entstanden seien (vgl. Seite 6). Bei dem
Baugrundstück handele es sich um die letzte Baulücke in einem dicht bebauten
Bereich. Optimale Abstände zu eventuellen Störfallanlagen seien wegen der
gewachsenen Gemengelage nicht herstellbar. Könnte Art. 12 Seveso-II-Richtlinie
eine Bebauung auf einem Baugrundstück wie dem vorliegenden tatsächlich
verhindern, weil die Abstandsinteressen des Störfallbetriebes die
Nutzungsinteressen der benachbarten Grundstückseigentümer von vornherein
ohne Ausnahmen überwögen, würde dies das Ende jeder Flächennutzung und
damit städtebaulichen Entwicklung in der Nähe von Störfallanlagen bedeuten. Art.
12 Seveso-II-Richtlinie mache mit der Verwendung des Begriffs "wahren" deutlich,
dass Abstände nur dort einzuhalten seien, wo dies tatsächlich noch möglich sei.
Dort, wo eine Bebauung in der Nähe einer Störfallanlage bereits so verfestigt sei,
dass mit dem Hinzutreten einer weiteren baulichen Anlage keine signifikante
Vergrößerung der Störfallauswirkungen verbunden sei, ließen sich Abstände nicht
wahren.
Die Klägerin hat beantragt,
den Beklagten zu verurteilen, den Widerspruch der Beigeladenen vom 11.
Mai 2005 gegen den Bauvorbescheid der Stadt C-Stadt vom 27. April 2005
zurückzuweisen;
hilfsweise:
den Beklagten zu verurteilen, über den Widerspruch der Beigeladenen vom
11. Mai 2005 gegen den Bauvorbescheid der Stadt C-Stadt vom 27. April 2005
unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.
Der Beklagte hat beantragt,
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die Klage abzuweisen.
Die Klage sei bereits unzulässig. Im Falle der Anfechtung einer Baugenehmigung
durch einen Dritten verbleibe dem Bauherrn, um eine "vollwertige", d. h.
bestandskräftige, Baugenehmigung zu erhalten, u. U. nur die Möglichkeit der
Erhebung einer Untätigkeitsklage auf Entscheidung über einen von einem Dritten
erhobenen Widerspruch. Habe diese Klage Erfolg und werde der Widerspruch des
Dritten zurückgewiesen, werde die Baugenehmigung bestandskräftig und könne
ausgenutzt werden. Dagegen könne der Erfolg der Untätigkeitsklage im Falle eines
erteilten Bauvorbescheids nicht zu diesem Ziel führen, da ein bestandskräftiger
Bauvorbescheid noch nicht zur Ausführung des Bauvorhabens berechtige. Darüber
hinaus liege ein zureichender Grund im Sinne des § 75 VwGO dafür vor, dass über
den Widerspruch der Beigeladenen bisher nicht entschieden worden sei. Dem
Vorhaben der Klägerin stünden erhebliche immissionsschutzrechtliche Bedenken
entgegen. Nach § 50 BImSchG seien die für eine bestimmte Nutzung
vorgesehenen Flächen einander so zuzuordnen, dass schädliche
Umwelteinwirkungen und Auswirkungen von schweren Unfällen auf Wohngebiete
und andere schutzbedürftige Gebiete soweit wie möglich vermieden würden. Durch
das Einfügen des Passus "von schweren Unfällen… hervorgerufene Auswirkungen"
fielen ausdrücklich auch Auswirkungen von Unfällen im Sinne der Seveso-II-
Richtlinie unter diese Regelung. In Deutschland gebe es zur Umsetzung dieser
Richtlinie, die keine "Achtungsgrenzen" im Sinne absoluter Abstände enthalte,
bisher keine Regelungen. Im Juni 2005 sei von der Stadt C-Stadt bei der RWTÜV
Systems GmbH (ab 01.01.2006 TÜV Nord Systems GmbH & Co. KG) ein
Gutachten in Auftrag gegeben worden, dessen Gegenstand die Frage der
Verträglichkeit des Betriebsbereichs der Beigeladenen mit den Planungen in
dessen Umfeld unter dem Gesichtspunkt des § 50 BImSchG bzw. Art. 12 Seveso-II-
Richtlinie sei. Erst nach Erstellung des Gutachtens könne über den Widerspruch
entschieden werden. Zwischenzeitlich sei durch die Klägerin auch ein Bauantrag
für das streitige Vorhaben gestellt worden. Die Entscheidung über den Widerspruch
sei nicht erforderlich, um der Klägerin die Verwirklichung des geplanten
Bauvorhabens zu ermöglichen.
Die Klage sei überdies unbegründet. Der Auffassung der Klägerin, dass § 50
BImSchG im Rahmen der Prüfung nach § 34 BauGB nicht herangezogen werden
könne, sei entgegenzutreten. Es sei fraglich, ob die von der Klägerin für ihre
Auffassung herangezogene Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 12.
Juni 1990 (a. a. O.) noch uneingeschränkt Gültigkeit habe, denn sie habe sich
weder mit der durch Art. 12 Seveso-II-Richtlinie geschaffenen neuen Rechtslage
noch mit der daraus resultierenden neuen Fassung des § 50 BImSchG
auseinandersetzen können. Auch das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit habe in einem Schreiben an den Oberbürgermeister der
Stadt C-Stadt vom 6. Juli 2004 (Bl. 107 ff. Behördenakte) ausgeführt, dass sich die
Geltung der Anforderungen des § 50 BImSchG bereits aus dem Wortlaut des § 34
Abs. 1 Satz 2 BauGB ergebe, wonach auch im nicht beplanten Innenbereich die
Anforderungen an gesunde Wohn- und Arbeitsverhältnisse gewahrt bleiben
müssten. Bei richtlinienkonformer Auslegung sei § 34 BauGB als eine der
Möglichkeiten der "Politiken der Flächenausweisung oder Flächennutzung" des Art.
12 Seveso-II-Richtlinie anzusehen. Gegen die Anwendung des § 50 BImSchG
spreche im vorliegenden Fall auch nicht, dass der Wortlaut dieser Vorschrift
"raumbedeutsame Planungen" voraussetze und es sich bei dem klägerischen
Bauvorhaben möglicherweise nicht um eine solche handele. Für die Anwendbarkeit
des § 50 BImSchG reiche es aus, dass das Vorhaben, von dem die Auswirkungen
ausgehen könnten, hier also der Betrieb der Beigeladenen, raumbedeutsam sei.
Die Anwendung des § 50 BImSchG im Rahmen des § 34 BauGB bedeute, dass
jedes Vorhaben unzulässig sei, das dem störfallrechtlichen Umgebungsschutz
nicht durch einen angemessenen Sicherheitsabstand Rechnung trage. Dies führe
nicht zu einer schematischen Anwendung der Abstandsempfehlungen der Störfall-
Kommission und des Technischen Ausschusses für Anlagensicherheit vom 18.
Oktober 2005; vielmehr seien die einzuhaltenden Abstände anhand des jeweiligen
Risikopotentials der Störfallanlage im konkreten Fall zu bestimmen. Diese
Bestimmung sei im vorliegenden Fall durch das von der Stadt C-Stadt in Auftrag
gegebene Gutachten des TÜV Nord (Systems GmbH & Co. KG) vom Juni 2006
erfolgt. Dieses gelange zu dem Ergebnis, dass das geplante Gartencenter "mitten
in der Achtungsgrenze" liege und daher nicht befürwortet werden könne. Gegen
dieses Ergebnis spreche auch nicht, dass der fragliche Bereich hinsichtlich eines
möglichen Störfallrisikos bereits vorbelastet sei. Das geplante Gartencenter sei
aufgrund seines hohen Anteils von Verkaufsflächen im Freien und der besonderen
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aufgrund seines hohen Anteils von Verkaufsflächen im Freien und der besonderen
räumlichen Nähe zum Betriebsgelände der Beigeladenen als wesentlich
empfindlicher einzustufen als die bereits vorhandenen Einzelhandelsbetriebe.
Die Beigeladene hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hat auf ihre Widerspruchsbegründung verwiesen und zusätzlich ausgeführt:
Das Vorhaben der Klägerin sei nach § 34 BauGB bauplanungsrechtlich unzulässig,
weil es an der gebotenen Rücksichtnahme auf den in unmittelbarer Nähe
befindlichen Störfallbetrieb fehle. Die Erteilung von Baugenehmigungen im
unbeplanten Innenbereich sei als "raumbedeutsame Maßnahme" einzustufen, die
in den Anwendungsbereich des § 50 BImSchG falle. Denn durch § 50 BImSchG
werde ausdrücklich anerkannt, dass es im öffentlichen Interesse liege, den
bodenrechtlichen Nutzungskonflikt zwischen Störfallbetrieben und öffentlich
genutzten Gebäuden durch sinnvolle Flächenzuordnung zu vermeiden. Die
Rechtsordnung anerkenne somit das öffentliche Interesse an der Wahrung
angemessener Mindestabstände zwischen Störfallbetrieben einerseits und
schutzwürdigen Nutzungen andererseits. Diese Systementscheidung der
Rechtsordnung sei bei der Anwendung des Rücksichtnahmegebots im Rahmen von
§ 34 BauGB zu berücksichtigen. Es liege nahe, dass das durch Art. 12 Seveso-II-
Richtlinie bzw. § 50 BImSchG normativ geregelte Abstandserfordernis die
Interessenabwägung, die bei der Prüfung des "Einfügens" einer Bebauung unter
dem Aspekt des Gebots der Rücksichtnahme durchzuführen sei, inhaltlich
anreichere. Auch bei Berücksichtigung des eigentumsgrundrechtlichen Schutzes
der Baufreiheit erscheine es zumutbar, die Eigentümer von benachbarten
Grundstücken auf andere Nutzungen zu verweisen, die im Hinblick auf das
Störfallrisiko nicht so sensibel seien wie Gartencenter mit erheblichem
Publikumsverkehr oder andere öffentlich genutzte Gebäude, die nach nationalem
und europäischem Recht durch Wahrung angemessener Abstände vor den
Auswirkungen von (Dennoch-) Störfällen zu schützen seien. Der (vorhandene)
Anlagenbetreiber unterliege nicht dem rechtlichen Erfordernis der Wahrung
angemessener Abstände.
Durch Grundstückskaufvertrag vom 24. Juni 2004 hatte die Klägerin das
streitgegenständliche Grundstück an die Firma J.- GmbH & Co. KG veräußert. Der
Vertrag wurde unter der aufschiebenden Bedingung eines bestandskräftigen
Bauvorbescheids für das geplante Gartencenter geschlossen. Mit
Änderungskaufvertrag vom 14. Dezember 2005 wurde zusätzlich vereinbart, dass
der Kaufvertrag erst wirksam wird, wenn u. a. der Nachweis des Vorliegens der
Bestandskraft des Bauvorbescheids der Stadt C-Stadt vom 27. April 2005 oder
einer bestandskräftigen Baugenehmigung vorliegt.
Die Firma J.- GmbH & Co. KG hatte am 15. März 2006 bei der Stadt C-Stadt die
Erteilung einer Baugenehmigung für ein Gartencenter entsprechend der
Bauvoranfrage beantragt. Nachdem die Beklagte über den
Baugenehmigungsantrag nicht entschieden hatte, erhob die Erwerberin des
Baugrundstücks Untätigkeitsklage. Mit Urteil des Verwaltungsgerichts Darmstadt
vom 27. November 2007 (9 E 735/07(3)) wurde die Stadt C-Stadt verpflichtet, die
Baugenehmigung zu erteilen. Das hiergegen gerichtete Berufungsverfahren ist
ebenfalls beim Hessischen Verwaltungsgerichtshof anhängig (Az.: 4 A 884/08).
Im Juni 2006 ist ein von der Stadt C-Stadt in Auftrag gegebenes Gutachten des
TÜV Nord Systems GmbH & Co. KG "zur Verträglichkeit des Betriebsbereichs der
C. (der Beigeladenen) mit den Planungen in dessen Umfeld unter dem
Gesichtspunkt des § 50 BImSchG bzw. Art. 12 Seveso-II-Richtlinie" erstellt worden.
Darin sind für bestimmte, vom Gelände der Beigeladenen ausgehende
Gefahrenpotentiale Achtungsgrenzen in Anlehnung an den Leitfaden bestimmt
worden, der vom Technischen Ausschuss für Anlagensicherheit und der Störfall-
Kommission beim Bundesumweltministerium am 18. Oktober 2005 verabschiedet
worden war. Die ermittelten Achtungsgrenzen wurden zu einer "Umhüllenden"
zusammengefasst. Das für das Gartencenter vorgesehene Baugrundstück liegt
hiernach vollständig innerhalb dieser "Umhüllenden". Im Ergebnis wurde das
geplante Gartencenter von den Gutachtern nicht befürwortet.
Am 14. Juli 2006 wurde zwischen dem Beklagten, der Beigeladenen und der Stadt
C-Stadt eine Vereinbarung (vgl. Bl. 336 ff. Gerichtsakte) geschlossen, wonach die
Aussagen und Bewertungen des genannten Gutachtens des TÜV Nord als
"technische Grundlage ihrer gemeinsamen Abstandsfindung" anerkannt werden (§
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"technische Grundlage ihrer gemeinsamen Abstandsfindung" anerkannt werden (§
1 der Vereinbarung). Nach § 2 Abs. 1 dieser Vereinbarung werden die
Achtungsgrenzen von den Parteien bei ihren Planungen, Vorhaben und
Genehmigungen wie folgt berücksichtigt:
"a) Die Stadt erkennt bei ihrer Bauleitplanung die Vorgaben der Seveso-II-
Richtlinie und die Interessen von C. an. Sie wird dabei in den dargestellten
Gebieten innerhalb der Abstandsgrenze keine zusätzlichen Nutzungen zulassen,
die unter den Schutzzweck der Seveso II-Richtlinie fallen […]
b) Die Stadt wird im Vorfeld von raumbedeutsamen Planungen und bei
Anträgen zur Errichtung von raumbedeutsamen Einzelvorhaben, die innerhalb
oder in unmittelbarer Nähe der Abstandsgrenze liegen, C. und das RP frühzeitig
unterrichten."
[…]
d) Das RP wird weiterhin als Fachbehörde im Rahmen des § 50 BImSchG die
Einhaltung der Abstandsgrenzen bei der Bauleitplanung und bei
raumbedeutsamen Einzelvorhaben auf Basis der vorgelegten Nachweise gem.
Buchst. c) prüfen."
Im Folgenden hatte der Beklagte die Stadt C-Stadt angewiesen, den
streitgegenständlichen Bauvorbescheid zurückzunehmen und den Bauantrag
abzulehnen. Gegen diese Weisung hatte die Stadt C-Stadt remonstriert.
Der Beklagte hatte mit Widerspruchsbescheid vom 16. Mai 2007 den der Klägerin
erteilten Bauvorbescheid zurückgenommen, den Widerspruchsbescheid im Termin
zur mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht aber wieder aufgehoben.
Durch Urteil vom 27. November 2007 hat das Verwaltungsgericht den Beklagten
verurteilt, den Widerspruch der Beigeladenen gegen den der Klägerin erteilten
Bauvorbescheid der Stadt C-Stadt vom 27. April 2005 zurückzuweisen.
Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt:
Die Klage sei als Untätigkeitsklage zulässig und auch begründet. Der zugunsten
der Klägerin ergangene Bauvorbescheid sei objektiv rechtmäßig.
Bauplanungsrechtlich sei das Vorhaben nach § 34 BauGB zu beurteilen. Es füge
sich in die nähere Umgebung ein. Auch aus § 50 BImSchG ergebe sich nichts
anderes. Das zur Genehmigung stehende Vorhaben falle nicht in den
Anwendungsbereich des § 50 BImSchG, da es sich nicht um eine
raumbedeutsame Planung oder Maßnahme im Sinne dieser Vorschrift handele.
Zwar könnten auch raumbedeutsame Einzelvorhaben von § 50 BImSchG erfasst
werden, soweit in den Entscheidungen planerische Elemente eine Rolle spielten,
wie etwa beim Planfeststellungsbeschluss. Die Vorschrift könne aber im
Baugenehmigungsverfahren - jedenfalls nicht in den nach § 34 BauGB zu
beurteilenden Fällen - keine Anwendung finden, weil es sich hierbei um eine
gebundene Entscheidung der Behörde handele, die planerischen Erwägungen nicht
zugänglich sei. Auch wenn man aber § 50 BImSchG in Baugenehmigungsverfahren
nach § 34 BauGB für grundsätzlich anwendbar hielte, führe dies vorliegend zu
keinem anderen Ergebnis, denn bei dem streitgegenständlichen Gartencenter
handele es sich nicht um eine raumbedeutsame Planung oder Maßnahme. Auch
komme eine unmittelbare Anwendung des dem § 50 BImSchG zugrunde liegenden
Art. 12 Abs. 1 Seveso-II-Richtlinie nicht in Frage. Das Bauvorhaben verstoße
schließlich nicht gegen das bauplanungsrechtliche Rücksichtnahmegebot, welches
im Merkmal des Einfügens enthalten sei. Zwar seien hier auch Gesichtspunkte des
Störfallrechts in den Blick zu nehmen, denn es liege auf der Hand, dass die Frage,
ob und wie das Grundstück der Klägerin baulich genutzt werde, grundsätzlich
Rückwirkungen auf den Betrieb der Beigeladenen haben könne. Das Vorhaben
verstoße aber nicht gegen die gebotene Rücksicht auf die Verpflichtungen der
Beigeladenen, die Auswirkungen eines sogenannten "Dennoch-Störfalles" in ihrem
Betriebsbereich zu begrenzen. Zwar könne die Störfallverhinderungspflicht (§ 3
Abs. 1 Störfall-Verordnung) und die Pflicht zur Begrenzung der
Störfallauswirkungen (§ 3 Abs. 3 Störfall-Verordnung) im Einzelfall auch die
Verpflichtung des Betreibers zur Einhaltung von Sicherheitsabständen umfassen.
Damit sei aber noch nicht entschieden, ob aus dem Rücksichtnahmegebot auch
eine Verpflichtung der Nachbarn einer Störfallanlage folgen könne, bei der
baulichen Nutzung ihrer Grundstücke auf eine Wohnbebauung oder eine andere
schutzbedürftige Bebauung zu verzichten. Dies folge jedenfalls nicht aus Art. 12
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schutzbedürftige Bebauung zu verzichten. Dies folge jedenfalls nicht aus Art. 12
Seveso-II-Richtlinie. Diese Norm räume dem Betreiber einer Anlage keinen
Abwehranspruch gegenüber dem Heranrücken geschützter Gebiete ein. Selbst
wenn man aber grundsätzlich aufgrund des Rücksichtnahmegebots die Möglichkeit
bejahen wollte, dass ein Grundstückseigentümer bei der baulichen Nutzung seines
Grundstücks aus Rücksicht auf eine benachbarte Störfallanlage auf die
Verwirklichung eines Vorhabens verzichten muss, würde dies im vorliegenden Fall
nicht zu einer Unzulässigkeit des Vorhabens führen. Angesichts der Art und des
Maßes der bereits vorhandenen Bebauung des Gebiets könne nicht davon
ausgegangen werden, dass sich das störfallrechtliche Konfliktpotential durch den
hinzukommenden Gartenmarkt so vergrößere, dass der Beigeladenen neue oder
andere störfallrechtliche Auflagen aufgegeben werden könnten, als sie ohnehin
schon durch die vorhandene Bebauung angezeigt seien.
Das Verwaltungsgericht hat die Berufung wegen besonderer tatsächlicher und
rechtlicher Schwierigkeiten und der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache
zugelassen.
Am 8. bzw. 9. April 2008 haben der Beklagte und die Beigeladene gegen dieses
Urteil Berufung eingelegt.
Zur Begründung der Berufung macht der Beklagte geltend:
Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts sei das geplante Gartencenter
als eine raumbedeutsame Maßnahme im Sinne des § 50 BImSchG anzusehen.
Sowohl § 3 Nr. 6 Raumordnungsgesetz als auch § 3 Nr. 6 des Hessischen
Landesplanungsgesetzes verlangten für das Merkmal der Raumbedeutsamkeit
lediglich die Inanspruchnahme von Raum. Nach dem Erlass des Ministeriums für
Bau, Landesentwicklung und Umwelt des Landes Mecklenburg-Vorpommern vom
6. Mai 1996 sei bei Einzelhandelseinrichtungen mit mehr als 700 qm
Verkaufsfläche eine raumbeanspruchende Wirkung in der Regel vorhanden. Auch
die Tatsache, dass die Stadt C-Stadt für das Vorhaben ein Verkehrsgutachten
gefordert habe, spreche dafür, dass die Stadt von der Raumbedeutsamkeit des
Vorhabens ausgegangen sei. Jedenfalls bei einer Gesamtbetrachtung des
gewerblichen Umfeldes müsse eine Raumbedeutsamkeit des Vorhabens
angenommen werden. Ferner könne der in dem angefochtenen Urteil vertretenen
Auffassung, § 50 BImSchG sei bei der Beurteilung eines Vorhabens nach § 34
BauGB nicht anzuwenden, nicht gefolgt werden. Die gesetzliche Zulässigkeitsnorm
des § 34 BauGB sei bei richtlinienkonformer Auslegung als eine der Möglichkeiten
der "Politiken der Flächenausweisung oder Flächennutzung" des Art. 12 Abs. 1
Seveso-II-Richtlinie anzusehen. Zwar sei dem Verwaltungsgericht Darmstadt
insoweit zuzustimmen, als gebundene Entscheidungen (, bei denen eine
umfassende Abwägung nicht möglich sei,) grundsätzlich nicht von § 50 BImSchG
erfasst würden. Soweit allerdings solche Verwaltungsentscheidungen an
Voraussetzungen gebunden seien, die eine Abwägung erforderten, und diese
Abwägung auch die Frage des Immissionsschutzes und Störfallschutzes erfassten,
wie Baugenehmigungen im Bereich des § 34 BauGB, komme die Anwendung des §
50 BImSchG in Betracht. In der vom Verwaltungsgericht herangezogenen
Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 12. Juni 1990 werde zwar
ausgeführt, dass die Genehmigungsbehörde bei der Beurteilung, ob ein Vorhaben
nach § 34 BauGB zulässig sei, die Genehmigung nicht aufgrund einer
planersetzenden Abwägung nach § 50 BImSchG versagen dürfe. Diese
Rechtsprechung werde jedoch in der Literatur (vgl. Weidemann, DVBl. 2006, 1143)
als überholt angesehen. Denn sie habe sich weder mit der durch Art. 12 Seveso-II-
Richtlinie geschaffenen neuen Rechtslage noch mit der daraus resultierenden
neuen Fassung des § 50 BImSchG auseinandersetzen können. Die gegenteilige
Auffassung hätte darüber hinaus zur Konsequenz, dass eine Gemeinde, die sich
ihrer Verpflichtung zur Aufstellung von Bauleitplänen entziehe, auch keine
Vorkehrungen zur Abstandswahrung im Sinne des § 50 BImSchG zu treffen
bräuchte. Bei dem Betrieb der Beigeladenen handele es sich unstreitig um einen
solchen im Sinne der 12. BImSchV (Störfall-Verordnung) mit der Folge der sich aus
der Verordnung ergebenden Verpflichtungen nach § 3 ff. Störfall-Verordnung.
Diese könnten auch die Verpflichtung des Betreibers zur Einhaltung von
Sicherheitsabständen umfassen. Das angegriffene Urteil verneine allerdings - im
Gegensatz zum Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 14. Juli 2006
(- 1 BV 03.2179 u. a. - BauR 2007, 505) - eine entsprechende Verpflichtung des
Nachbarn einer Störfallanlage zur Einhaltung eines entsprechenden Abstandes im
Falle einer schutzwürdigen Bebauung. Die vom Verwaltungsgericht hierfür (unter
Berufung auf die Entscheidung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom
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Berufung auf die Entscheidung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom
24.10.2006 - 12 A 2216/05 -) gegebene Begründung, Art. 12 Seveso-II-Richtlinie
gewähre keinen Abwehranspruch gegen das Heranrücken geschützter Betriebe,
vermöge jedoch nicht zu überzeugen. Der Begründung des sog. Ticona-Urteils sei
zu entnehmen, dass die genannten europarechtlichen Vorschriften a l l e i n
keinen Abwehranspruch gegen eine an einen Störfallbetrieb heranrückende
schutzwürdige Bebauung begründen sollen. Im hier streitigen Fall gehe es aber um
die Frage der Auslegung des in § 50 BImSchG enthaltenen Trennungsgrundsatzes
unter Berücksichtigung der europarechtlichen Vorgaben des Art. 12 Seveso-II-
Richtlinie. Diese Auslegung erfordere es, unter "einschlägigen Politiken sowie den
Verfahren für die Durchführung dieser Politiken" im Sinne des Art. 12 Seveso-II-
Richtlinie auch Verfahren zur Genehmigung von Vorhaben nach § 34 BauGB zu
verstehen. Nur hierdurch könne dem in dieser Richtlinie normierten öffentlichen
Interesse an der Wahrung angemessener Mindestabstände zwischen
Störfallbetrieben und öffentlich genutzten Gebäuden Rechnung getragen werden.
In Übereinstimmung mit dem angefochtenen Urteil sei festzustellen, dass im
deutschen Recht nicht festgelegt sei, welche Sicherheitsabstände einzuhalten
seien. Dies bedeute jedoch nicht, dass es im Ermessen der Behörden stehe, ob
überhaupt Sicherheitsabstände anzuordnen seien. Vielmehr sei die
Genehmigungsbehörde gehalten, den jeweils im Einzelfall zu wahrenden Abstand
zu ermitteln. Eine entsprechende Prüfung habe die Stadt C-Stadt jedoch nicht
vorgenommen. Im Ergebnis erweise es sich daher als rücksichtslos, ein öffentlich
genutztes Gebäude mit Verkaufsflächen im Freien an einem Standort zu
verwirklichen, der wegen seiner unmittelbaren Nähe zu einem Störfallbetrieb den
Auswirkungen eines Störfalles ausgesetzt wäre.
Der Beklagte beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Klage abzuweisen.
Die Beigeladene beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Klage abzuweisen.
Die Beigeladene macht zur Begründung ihrer Berufung geltend:
Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts sei dem Abstandserfordernis
auch bei der Genehmigung über die Zulassung von Bauvorhaben im unbeplanten
Innenbereich gemäß § 34 BauGB Rechnung zu tragen. Bei richtlinienkonformer
Auslegung des nationalen Immissionsschutz- und Bauplanungsrechts sei es ein
nicht überwindbares Genehmigungshindernis, dass das Baugrundstück, auf dem
die Klägerin ein öffentlich genutztes Gebäude errichten möchte, den Abstand
unterschreite, der nach dem Gutachten des TÜV Nord zur Begrenzung der
Auswirkungen von Unfällen auf dem Betriebsgelände der Beigeladenen erforderlich
und angemessen sei. Nach Art. 12 Seveso-II-Richtlinie stünden die Mitgliedstaaten
in der Verpflichtung, öffentlich genutzte Gebäude im Rahmen der staatlichen
Ansiedlungsüberwachung durch Wahrung angemessener Abstände vor den
Auswirkungen schwerer Unfälle zu schützen. Die Auffassung des
Verwaltungsgerichts, es kollidiere nicht mit dieser staatlichen Verpflichtung, dass
die zuständige Behörde eines Mitgliedstaats ein öffentlich genutztes Gebäude
genehmige, obwohl der zur Auswirkungsbegrenzung bzw. -vermeidung gemessene
Abstand nicht eingehalten sei, sei bei zutreffender Berücksichtigung von Wortlaut
und Entstehungsgeschichte schon mit § 50 BImSchG unvereinbar. Sie sei auch
gemeinschaftsrechtlich unhaltbar. Die Gemeinschaft habe ungeachtet der
Sicherheitspflichten, die den Anlagenbetreibern schon nach der Seveso-I-Richtlinie
oblägen hätten, die an vielen Orten vorzufindende bestehende Gemengelage, also
das räumliche Nebeneinander von gefährlichen Anlagen einerseits und
schutzwürdigen Wohnvierteln andererseits, als Missstand erkannt. Um diesen
Missstand zu bekämpfen, sollten im Rahmen der Flächennutzungsplanung nach
der Seveso-II-Richtlinie einerseits die Genehmigung neuer Industriebetriebe,
andererseits aber auch städtische Ansiedlungen in der Nähe bestehender Anlagen
kontrolliert werden. Art. 12 Abs. 1 Satz 2 Seveso-II-Richtlinie begründe deshalb
eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten, die Neuansiedlung von öffentlich genutzten
Gebäuden und anderen schutzwürdigen Nutzungen zur Begrenzung der
Unfallauswirkungen "zu überwachen". Dieser Verpflichtung zur
Ansiedlungsüberwachung könne die Bundesrepublik Deutschland nur durch das
Genehmigungserfordernis des § 34 BauGB für Bauvorhaben im unbeplanten
Innenbereich Rechnung tragen. Stufe man den Genehmigungsvorbehalt gemäß §
34 BauGB nicht als Instrument zur Überwachung der Ansiedlung von öffentlich
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34 BauGB nicht als Instrument zur Überwachung der Ansiedlung von öffentlich
genutzten Gebäuden ein, so kollidiere das nationale Recht nicht nur mit der
Verpflichtung zur Abstandswahrung gemäß Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 2 der Seveso-
II-Richtlinie, sondern auch mit der Überwachungspflicht gemäß Art. 12 Abs. 1
Unterabs. 1 Seveso-II-Richtlinie. Die Auffassung des Verwaltungsgerichts, bei Art.
12 Abs. 1 Unterabs. 2 Seveso-II-Richtlinie handele es sich um einen bloßen
Programmsatz, sei gemeinschaftsrechtlich unhaltbar. Das Abstandserfordernis sei
nach den Grundsätzen, die dazu in der Rechtsprechung des Europäischen
Gerichtshofs entwickelt worden seien, inhaltlich unbedingt und hinreichend
bestimmt. Dem stehe auch nicht die einschränkende Formulierung im Normtext
entgegen, wonach dem Erfordernis der Wahrung angemessener Abstände
"langfristig" Rechnung zu tragen sei. Die Langfristigkeit der staatlichen
Pflichterfüllung sei dadurch zwingend vorgegeben, dass die Gemeinschaft nach
dem Konzept der Seveso-II-Richtlinie darauf verzichte, bestehende Gemengelagen
durch aktive Eingriffe in vorhandene Nutzungen räumlich zu entzerren. Die
Abstandswahrung sei eine rechtlich zwingende Vorgabe, so dass für eine
einzelfallbezogene Abwägung der gegenseitigen Belange, wie sie vom
Verwaltungsgericht vorgenommen werde, kein Raum sei. Insgesamt sei der
Prüfungsansatz des Verwaltungsgerichts zu kritisieren. Das Verwaltungsgericht sei
der Ansicht, die Ansiedlung des öffentlich genutzten Gebäudes verstoße nicht
gegen die gebotene Rücksicht auf die Verpflichtung der Beigeladenen, die
Auswirkungen eines sogenannten "Dennoch-Störfalls" zu begrenzen. Dahinter
stehe die mit der Seveso-II-Richtlinie nicht zu vereinbarende Vorstellung,
ausschließlich Anlagenbetreiber müssten gemäß § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BImSchG
vorsorgeorientierte Sicherheitspflichten erfüllen, nicht aber die Städte und
Gemeinden bei der Überwachung des Baugeschehens in der Nachbarschaft der
Betriebe. Vom Verwaltungsgericht werde grundlegend verkannt, dass die Seveso-
II-Richtlinie den Bestandsinteressen der Inhaber von bestehenden Betrieben
Rechnung trage, wenn sie die Mitgliedstaaten mit dem Ziel der Abstandswahrung
zur Überwachung von Ansiedlungsvorhaben in der Nachbarschaft von
Anlagen/Betrieben verpflichte. Zu kritisieren sei auch die Auffassung des
Verwaltungsgerichts, das "störfallrechtliche Konfliktpotential" werde wegen der
schutzwürdigen Nutzungen, die in der Nachbarschaft des Betriebs der
Beigeladenen schon vorhanden seien, nicht bzw. nur unerheblich vergrößert, da
die Neuansiedlung einer weiteren schutzbedürftigen Nutzung schon für sich allein
die Folgen eines Unfalls verschlimmern könne und deshalb dem verpflichtend
vorgeschriebenen Ziel der Auswirkungsbegrenzung grob zuwiderlaufe. Die
Beigeladene habe auch ein Recht auf Einhaltung der Verpflichtungen, die die
Bundesrepublik Deutschland gemäß Art. 12 Abs. 1 Seveso-II-Richtlinie erfüllen
müsse. Dies sei Folge der vertikalen Direktwirkung dieser Richtlinie. Es komme
nicht darauf an, ob die betreffende Richtlinienbestimmung den Einzelnen
ausdrücklich begünstige oder ihm ein subjektives Recht gegenüber dem
Mitgliedstaat einräume. Schon deshalb sei der Hinweis des Verwaltungsgerichts
auf das "Ticona-Urteil" des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 24. Oktober
2006 verfehlt.
Die Klägerin beantragt,
die Berufungen des Beklagten und der Beigeladenen zurückzuweisen.
Zur Begründung bezieht sie sich zunächst auf ihr erstinstanzliches Vorbringen.
Ergänzend führt sie aus:
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und der im
Schrifttum nahezu einhellig vertretenen Meinung habe § 50 BImSchG lediglich für
Planungsentscheidungen Bedeutung und nicht für die Zulassung konkreter
Einzelvorhaben. Der Planungsgrundsatz des § 50 BImSchG sei als ein
Optimierungsgebot anzusehen, das darauf gerichtet sei, ein Nebeneinander von
Wohn- und Industriegebieten mit den Mitteln des Planungsrechts so weit wie
möglich zu vermeiden. Entgegen der Auffassung der Beigeladenen habe mit der
Erweiterung von § 50 BImSchG um den Begriff "öffentlich genutzte Gebäude" im
Jahr 2005 der Anwendungsbereich dieser Norm nicht auf das
Baugenehmigungsverfahren ausgedehnt werden sollen. Nach der
Gesetzesbegründung habe lediglich der im Gesetz bereits vorhandene Oberbegriff
"sonstige schutzbedürftige Gebiete" präzisiert werden sollen. Unabhängig hiervon
handele es sich bei dem geplanten Gartencenter auch nicht um ein "öffentlich
genutztes Gebäude" im Sinne von § 50 BImSchG und Art. 12 Seveso-II-Richtlinie.
Nicht jedes Gebäude mit Publikumsverkehr erfülle die Voraussetzungen dieses
Tatbestandsmerkmals. Nach dem Schutzzweck von Art. 12 Seveso-II-Richtlinie sei
Tatbestandsmerkmals. Nach dem Schutzzweck von Art. 12 Seveso-II-Richtlinie sei
vielmehr erforderlich, dass eine hinreichend große Menge von Menschen sich über
einen längeren Zeitraum in dem Gebäude aufhalte. Dies bedeute, dass vor allem
größere Gebäude, wie z. B. Stadien, Konzerthallen, Krankenhäuser, Theater und
ähnliche Einrichtungen, zu den öffentlich genutzten Gebäuden zählten, da sich in
ihnen viele Menschen über längere Zeiträume hinweg aufhielten. Anders sei dies
bei dem klägerischen Vorhaben. Darüber hinaus beziehe sich der Begriff
"öffentlich" nicht nur auf den tendenziell unbestimmbaren Kreis der Nutzer,
sondern auch auf den Zweck der Nutzung. Die Errichtung des Gartencenters diene
keinem solchen öffentlichen Zweck. Für eine unmittelbare Anwendung des Art. 12
Seveso-II-Richtlinie sei kein Raum, da diese Bestimmung vollständig in deutsches
Recht umgesetzt worden sei. Unabhängig hiervon lägen auch die
Voraussetzungen für eine unmittelbare Anwendung des Art. 12 Seveso-II-Richtlinie
nicht vor, da diese Bestimmung weder inhaltlich unbedingt noch hinreichend
genau sei. Das Verwaltungsgericht habe zu Recht angenommen, dass
Bestimmungen programmatischen Charakters nicht die Kriterien für die
unmittelbare Anwendung erfüllten. Um einen solchen Programmsatz handele es
sich hier jedoch, weil Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 2 Seveso-II-Richtlinie keine konkrete
und vor allem keine abschließende Handlungsverpflichtung der Mitgliedstaaten
enthalte. Ferner habe das Verwaltungsgericht zutreffend festgestellt, dass die
Richtlinie auch gerade offen lasse, wie mit dem Abstandserfordernis in
Gemengelagen umzugehen sei. Aber selbst wenn Art. 12 Abs. 1 Seveso-II-
Richtlinie unmittelbar anwendbar wäre, könnte sich die Beigeladene hierauf nicht
berufen, weil sie durch diese Norm nicht begünstigt werde. Es sei in der
Rechtsprechung des EuGH anerkannt, dass sich auch bei einer unmittelbar
anwendbaren Richtlinie nur der von der Richtlinie tatsächlich Begünstigte auf diese
berufen könne. Wie der Erwägungsgrund Nr. 1 der Änderungsrichtlinie 2003/105/EG
zeige, gehe es der Richtlinie allein um die Gewährleistung eines hohen
Schutzniveaus für die Umgebung von Störfallbetrieben, nicht aber um den Schutz
der Störfallbetriebe selbst vor den finanziellen Auswirkungen eines Dennoch-
Störfalles. Dass auch der Betreiber eines Störfallbetriebs von der Begrenzung der
Auswirkungen für Mensch und Umwelt profitiere, stelle sich für ihn nur als
Rechtsreflex dar, verleihe ihm aber kein begünstigendes Recht auf
"Abstandswahrung" durch staatliche Ansiedlungsüberwachung. Auch im Falle einer
unmittelbaren Anwendbarkeit von Art. 12 Seveso-II-Richtlinie ließe sich ihm nicht
das von der Beigeladenen postulierte "Gebot zur räumlichen Entzerrung"
entnehmen. Nach Ansicht der Beigeladenen ziele das Abstandserfordernis auf die
räumliche Entzerrung bestehender Gemengelagen ab. Dieser Ansicht sei nicht
zuzustimmen, da der langfristig angelegte Grundsatz, bei Planungen
angemessene Abstände zu wahren, nur die Entstehung von Gemengelagen
verhindern solle. Es werde gerade nicht verlangt, nicht vorhandene Abstände
wieder zu schaffen. Für diese Auslegung spreche bereits der Wortlaut von Art. 12
Abs. 1 Unterabs. 1 Satz 2 lit. c Seveso-II-Richtlinie. Hiernach überwachten die
Mitgliedstaaten "neue Entwicklungen in der Nachbarschaft bestehender Betriebe".
Sowohl die Seveso-II-Richtlinie als auch deren Gesetzesmaterialien machten
deutlich, dass es um eine langfristige und deshalb planerische Lösung des
Problems von zu geringen Abständen zwischen Störfallanlagen und
schutzbedürftigen Nutzungen gehe. Das Anliegen von Art. 12 Seveso-II-Richtlinie
sei es also, die zukünftige Raumordnung und Flächennutzungsplanung zu
beeinflussen. In deren Rahmen sollten auf noch zu entwickelnden Methoden
beruhende Risikoabwägungen stattfinden. Diese Aufgabe könnten die deutschen
Baugenehmigungsbehörden mit ihren strikt konditionierten
Entscheidungsprogrammen nicht erfüllen. Der deutsche Gesetzgeber habe
deshalb richtigerweise die Anforderungen des Art. 12 Seveso-II-Richtlinie allein
über die Planungsnorm des § 50 BImSchG umgesetzt. Entgegen der Auffassung
der Beigeladenen führe die Pflicht nach Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 1 Satz 2 Seveso-
II-Richtlinie zur Überwachung neuer Entwicklungen in der Nachbarschaft
bestehender Betriebe nicht automatisch auch zu einer Verpflichtung,
Ansiedlungen in der Nachbarschaft von Störfallbetrieben zu verhindern. Die
Überwachung nach Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 1 Satz 2 Seveso-II-Richtlinie schaffe
vielmehr erst die Voraussetzungen für die in der Richtlinie enthaltene weitere
Verpflichtung, dem Erfordernis der Wahrung angemessener Abstände planerisch
langfristig Rechnung zu tragen. Darüber hinaus begründe Art. 12 Seveso-II-
Richtlinie kein Abwehrrecht der Beigeladenen. Der 12. Senat des Hessischen
Verwaltungsgerichtshofs habe in seiner Ticona-Entscheidung deutlich
herausgestellt, dass es kein Anliegen der Richtlinie sei, dem Betreiber einer
Störfallanlage Rechte gegen Nutzungen in der Umgebung seines Betriebes
einzuräumen. § 34 BauGB könne nicht in dem Sinne richtlinienkonform ausgelegt
werden, dass mit ihm nicht nur der Überwachungspflicht aus Art. 12 Abs. 1
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werden, dass mit ihm nicht nur der Überwachungspflicht aus Art. 12 Abs. 1
Unterabs. 1 Satz 2 Seveso-II-Richtlinie entsprochen werde, sondern zusätzlich das
"Abstandsziel" aus Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 2 Seveso-II-Richtlinie strikt
durchgesetzt werde. Eine richtlinienkonforme Auslegung scheitere bereits daran,
dass die Richtlinie nicht unbedingt und hinreichend genau sei. Zudem enthalte die
Seveso-II-Richtlinie nur einen Planungsleitsatz und könne deshalb zu einer
Auslegung der strikten Konditionalnorm des § 34 BauGB nichts beitragen. Eher
abwegig erscheine die Ansicht der Beigeladenen, das Bauvorhaben verstoße
gegen "die Anforderungen an gesunde Wohn- und Arbeitsverhältnisse" im Sinne
des § 34 Abs. 1 Satz 2 BauGB. Diese Vorschrift diene der Abwehr städtebaulicher
Missstände. Ziel sei eine Nutzung des Grundstücks ohne Gefahr für Leib und
Leben. Vorliegend seien keine schweren und unerträglichen Immissionen
erkennbar, denen das klägerische Vorhaben ausgesetzt sein könnte. Es gehe
lediglich um nicht auszuschließende Dennoch-Störfälle, deren
Eintrittswahrscheinlichkeit weit unterhalb der Gefahrenschwelle liege. Ein derart
geringes Gefährdungspotential genüge nicht, um von "ungesunden
Arbeitsverhältnissen" sprechen zu können. Das Verwaltungsgericht habe
schließlich zu Recht festgestellt, dass das Bauvorhaben nicht gegen das
Rücksichtnahmegebot verstoße. Das in § 34 Abs. 1 BauGB enthaltene
Rücksichtnahmegebot dürfe nicht als Einfallstor für planerische Erwägungen
missbraucht werden. Zunächst werde ausdrücklich bestritten, dass das
Bauvorhaben innerhalb des angemessenen Abstandes im Sinne von Art. 12 Abs. 1
Seveso-II-Richtlinie liege. Die in dem Gutachten des TÜV Nord ermittelten
Achtungsgrenzen seien in Anlehnung an den Leitfaden der Störfall-Kommission
ermittelt worden. Wie bereits ausgeführt, könne der Leitfaden für den vorliegenden
Fall jedoch keine Grundlage für die Bestimmung angemessener Abstände sein.
Gegen das Rücksichtnahmegebot werde auch nicht deshalb verstoßen, weil das
Bauvorhaben die Umgebungsbebauung des Störfallbetriebes zum Nachteil der
Beigeladenen verfestige. Ein emittierender Betrieb müsse in Gemengelagen bei
Hinzutreten einer weiteren schutzbedürftigen Nutzung nicht mehr Rücksicht
nehmen als auf die bereits vorhandene schutzbedürftige Bebauung. Anderes gelte
nur, wenn sich das hinzutretende Vorhaben stärkeren Belastungen ausgesetzt
sehe. Rechte der Beigeladenen, die bei einer Verwirklichung des klägerischen
Vorhabens verletzt werden könnten, seien nicht ersichtlich. Sie ergäben sich weder
aus § 50 BImSchG bzw. aus Art. 12 Seveso-II-Richtlinie noch aus dem in § 34 Abs.
1 BauGB enthaltenen Rücksichtnahmegebot. Die Erteilung des Bauvorbescheides
stelle auch keinen Eingriff in Art. 12 Abs. 1 GG dar.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt
der Gerichtsakte des vorliegenden Verfahrens, der Gerichtsakte des Verfahrens 4
A 884/08 sowie der Behördenvorgänge (2 Hefter) Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die nach Zulassung durch das Verwaltungsgericht statthaften und auch sonst
zulässigen Berufungen sind nicht begründet.
Das Verwaltungsgericht hat der Klage zu Recht stattgegeben.
Die Klage ist als Verpflichtungsklage in Form der Untätigkeitsklage gemäß § 75
VwGO zulässig. Die Klägerin begehrt die Verpflichtung des Regierungspräsidiums
als Widerspruchsbehörde zum Erlass eines den Widerspruch der Beigeladenen
gegen den der Klägerin erteilten Bauvorbescheid vom 27. April 2005
zurückweisenden Widerspruchsbescheids und damit eines sie begünstigenden,
bisher unterlassenen Verwaltungsakts. Unzulässig ist die Klage nicht deshalb, weil
sie nicht vom Widerspruchsführer (der Beigeladenen), sondern von einem
"Dritten", nämlich von dem durch den angefochtenen Bauvorbescheid
Begünstigten erhoben wird. Schon der Wortlaut des § 75 Satz 1 VwGO beschränkt
die abweichend von § 68 VwGO eröffnete Klagemöglichkeit nicht auf denjenigen,
der selbst den Widerspruch eingelegt hat (Rennert, in: Eyermann, VwGO, 12. Aufl.,
§ 73 Rdnr. 18; § 75 Rdnr. 4; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 09.02.1993 - 5 S
1650/92 - BRS 55 Nr. 193). Darüber hinaus würde in Fällen eines eingelegten
Drittwiderspruchs der angefochtene Bauvorbescheid nicht bestandskräftig werden
und die Rechtsstellung des Bauherrn in der Schwebe bleiben, wenn nicht auch der
Adressat eines Verwaltungsakts, der nicht Widerspruchsführer ist,
Untätigkeitsklage erheben könne (vgl. hierzu: Kopp/Schenke, VwGO, 15. Aufl., § 75
Rdnr. 2).
Die Klägerin ist auch klagebefugt im Sinne des § 42 Abs. 2 VwGO. Zwar gibt es
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Die Klägerin ist auch klagebefugt im Sinne des § 42 Abs. 2 VwGO. Zwar gibt es
nach wohl überwiegender Meinung (vgl. Rennert, a. a. O., § 73 Rdnr. 16 ff. m. w. N.;
Geis, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 2. Aufl., § 73 Rdnr. 2, § 68 Rdnr. 5 ff.; VGH
Mannheim, Urteil vom 09.02.1993, a. a. O.; a. A.: Kopp/Schenke, a. a. O., § 75
Rdnr. 5) kein einklagbares subjektives Recht auf Erlass eines
Widerspruchsbescheides, da der objektiv-rechtlichen Verpflichtung der
Widerspruchsbehörde nach § 73 Abs. 1 Satz 1 VwGO zur sachlichen
Verbescheidung des Widerspruchs grundsätzlich kein Anspruch des
Widerspruchsführers korrespondiert. Zur Begründung wird darauf verwiesen, dass
die Verwaltungsgerichtsordnung das Widerspruchsverfahren aus Gründen der
Gesetzgebungskompetenz (Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG) als Vorverfahren eines
Verwaltungsprozesses regele und damit nur eine prozessuale Verpflichtung der
Behörde normiere. Etwas anderes ist aber bei geltend gemachten Ansprüchen auf
Erlass eines den Nachbarwiderspruch zurückweisenden Widerspruchsbescheids
anzunehmen, da in diesen Fällen - bei Annahme einer fehlenden Klagebefugnis -
der Zugang zum Gericht entgegen Art. 19 Abs. 4 GG vereitelt würde (Rennert, a.
a. O., § 73 Rdnr. 18; Brenner, in: Sodan/Ziekow, a. a. O., § 75 Rdnr. 23; VGH
Baden-Württemberg, Urteil vom 10.11.1993 - 3 S 1120/92 - NVwZ 1995, 280).
Wenn die Widerspruchsbehörde über den gegen eine Baugenehmigung (bzw. einen
Bauvorbescheid) eingelegten Nachbarwiderspruch nicht entscheidet, diese (dieser)
aber infolge des Widerspruchs vor Unanfechtbarkeit nicht ausgenutzt werden kann,
kann nur die Einräumung einer Klagemöglichkeit nach § 75 VwGO effektiven
Rechtsschutz garantieren.
Auch die besonderen Sachurteilsvoraussetzungen, nämlich dass die Behörde ihre
Sachentscheidung ohne zureichenden Grund nicht in angemessener Frist
getroffen hat, liegen jedenfalls zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen
Verhandlung (vgl. hierzu: Kopp/Schenke, a. a. O., § 75 Rdnr. 11) vor. Der von dem
Beklagten für seine Untätigkeit angeführte Umstand, nämlich die Notwendigkeit
der Einholung einer gutachterlichen Stellungnahme, stellt jedenfalls im Zeitpunkt
der mündlichen Verhandlung keinen zureichenden Grund im Sinne des § 75 Satz 1
und 3 VwGO dar, weil das fragliche Gutachten seit dem Juni 2006 vorliegt.
Der Untätigkeitsklage fehlt auch nicht deshalb das erforderliche
Rechtsschutzbedürfnis, weil die Klägerin das Grundstück zwischenzeitlich veräußert
hat und es daher an einem Sachbescheidungsinteresse für das beantragte
Bauvorhaben fehlen würde. Zwar kann es an einem Sachbescheidungsinteresse
fehlen, wenn die erstrebte Baugenehmigung bzw. der erstrebte Bauvorbescheid
für den Bauherrn wegen bestehender offenkundiger privatrechtlicher Hindernisse
ersichtlich nutzlos wäre. Wie sich aus § 64 Abs. 5 HBO(, wonach die
Baugenehmigung unbeschadet der privaten Rechte Dritter erteilt wird,) ergibt,
kann die Behörde auch bei fehlender Eigentümerstellung des Antragstellers die
Baugenehmigung (Bauvoranfrage) mit dem Verweis auf ein fehlendes
Sachbescheidungsinteresse aber nur versagen, wenn deren fehlender Nutzen für
den Antragsteller offensichtlich ist (OVG Schleswig-Holstein, Urteil vom 27.06.1995
- 1 L 89/94 - BRS 57 Nr. 199). Bei Verschiedenheit von Antragsteller und
Eigentümer muss feststehen, dass der Antragsteller die privatrechtliche
Berechtigung zur Nutzung des Grundstücks sicher nicht erreichen kann (BVerwG,
Urteil vom 23.03.1973 - BVerwG IV C 49.71 - BRS 27 Nr. 130; BVerwG, Beschluss
vom 31.07.1992 - BVerwG 4 B 140/92 - zitiert nach Juris). Im vorliegenden Fall
ergibt sich das Rechtschutzbedürfnis daraus, dass der Grundstückskaufvertrag
vom 24. Juni 2004 erst dann wirksam wird, wenn entweder der Bauvorbescheid
vom 27. April 2005 oder eine auf der Grundlage dieses Bauvorbescheids erteilte
Baugenehmigung bestandskräftig geworden ist.
Die danach zulässige Klage ist auch begründet.
Der der Klägerin erteilte Bauvorbescheid ist rechtmäßig und verletzt die
Beigeladene nicht ihren Rechten, so dass die Unterlassung des mit der Klage
begehrten, den Nachbarwiderspruch der Beigeladenen zurückweisenden
Widerspruchsbescheids die Klägerin ihrerseits in ihren Rechten verletzt (§ 113 Abs.
5 Satz 1 VwGO).
Das Bauvorhaben ist bauplanungsrechtlich zulässig und verstößt auch nicht gegen
das bauplanungsrechtliche Gebot der Rücksichtnahme.
Bauplanungsrechtlich ist das Bauvorhaben nach § 34 BauGB zu beurteilen, da das
Baugrundstück innerhalb eines im Zusammenhang bebauten Ortsteils liegt, für
den ein Bebauungsplan nicht besteht. Die danach für das Erfordernis des
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den ein Bebauungsplan nicht besteht. Die danach für das Erfordernis des
Einfügens maßgebliche nähere Umgebung hat das Verwaltungsgericht zutreffend
auf die Bebauung beiderseits der U.-Straße, in westlicher Richtung bis zum
Wöhlerweg und in südöstlicher Richtung beiderseits des L.-Ring, begrenzt. Insoweit
haben die Beteiligten im Berufungsverfahren auch nichts erinnert. Das
Verwaltungsgericht ist ferner zutreffend davon ausgegangen, dass sich die
vorhandenen Nutzungsarten keinem der in der Baunutzungsverordnung
bezeichneten Baugebiete eindeutig zuordnen lassen, und hat die Zulässigkeit des
Bauvorhabens daher zu Recht nach § 34 Abs. 1 BauGB beurteilt. Der Senat macht
sich insoweit die Darlegungen im angefochtenen Urteil zu eigen (§ 130 b Satz 2
VwGO).
Fügt sich das Bauvorhaben in die Eigenart der näheren Umgebung ein, kann die
Beigeladene Nachbarschutz nur nach Maßgabe des im Tatbestandsmerkmal des
"Sich-Einfügens" im Sinne des § 34 Abs. 1 BauGB enthaltenen
Rücksichtnahmegebots verlangen. Welche Anforderungen sich daraus im
Einzelnen ergeben, hängt maßgebend davon ab, was dem
Rücksichtnahmebegünstigten einerseits und dem Rücksichtnahmeverpflichteten
andererseits nach Lage der Dinge zuzumuten ist. Dies beurteilt sich nach der
jeweiligen Situation der benachbarten Grundstücke. Je empfindlicher und
schutzwürdiger die Stellung desjenigen ist, dem die Rücksichtnahme zugute
kommt, umso mehr kann er an Rücksichtnahme verlangen. Je verständlicher und
unabweisbarer die mit dem Vorhaben verfolgten Interessen sind, umso weniger
braucht derjenige, der das Vorhaben verwirklichen will, Rücksicht zu nehmen
(BVerwG, Urteil vom 25.02.1977 - BVerwG IV C 22.75 - BRS 32 Nr. 155; BVerwG,
Urteil vom 28.10.1993 - BVerwG 4 C 5/93 - BRS 55 Nr. 168). In Bereichen, in denen
Nutzungen unterschiedlicher Art mit unterschiedlicher Schutzwürdigkeit
zusammentreffen, ist die Grundstücksnutzung mit einer spezifischen
gegenseitigen Pflicht zur Rücksichtnahme belastet. Dies führt nicht nur zu einer
Pflichtigkeit dessen, der Immissionen verursacht, sondern auch zu einer
Duldungspflicht desjenigen, der sich solchen Beeinträchtigungen aussetzt
(BVerwG, Urteil vom 22.06.1990 - BVerwG 4 C 6/87 - BRS 50 Nr. 84; BVerwG, Urteil
vom 23.09.1999 - BVerwG 4 C 6/98 - BVerwGE 109, 314; BVerwG, Beschluss vom
29.10.2002 - BVerwG 4 B 60/02 - Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 165). Nicht
nur Vorhaben, von denen Beeinträchtigungen ausgehen, sondern auch solche, die
an eine emittierende Anlage heranrücken und sich deren störenden Einwirkungen
aussetzen, können gegen das Rücksichtnahmegebot verstoßen (BVerwG,
Beschluss vom 05.09.2000 - BVerwG 4 B 56.00 - BRS 63 Nr. 107). Auch
demjenigen, der Emissionen verbreitet, muss dafür Raum zur Verfügung gestellt
werden. Treffen unverträgliche Nutzungen aufeinander, hat das Gebot der
Rücksichtnahme nicht nur die Aufgabe, schädliche Umwelteinwirkungen von einer
störanfälligen Nutzung fernzuhalten, sondern auch die Aufgabe, emittierende
Betriebe in ihrer Existenz zu sichern. In diesem Sinne fügt sich ein Vorhaben in die
Eigenart der unmittelbaren Umgebung nicht ein, wenn es sich schädlichen
Umwelteinwirkungen aussetzt, etwa zu nah an einen vorhandenen emittierenden
Betrieb heranrückt. Eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots kann auch dann
vorliegen, wenn der Betrieb durch heranrückende schutzwürdige Bebauung mit
nachträglichen immissionsschutzrechtlichen Anordnungen rechnen muss (Söfker,
in: Ernst-Zinkahn-Bielenberg, Baugesetzbuch, Stand: 1. Februar 2008, § 34 Rdnr.
54).
Zur Bestimmung der Grenze der Zumutbarkeit von Umwelteinwirkungen ist auf die
Begriffsbestimmungen des Bundes-Immissionsschutzgesetzes zurückzugreifen, in
denen das Rücksichtnahmegebot ebenso eine spezielle gesetzliche Ausprägung
erfahren hat, wie in dem Gebot des Einfügens in § 34 Abs. 1 BauGB (BVerwG,
Urteil vom 27.08.1998 - BVerwG 4 C 5/98 - BRS 60 Nr. 83; BVerwG, Urteil vom
23.09.1999, a. a. O.). Es gibt kein baurechtliches Rücksichtnahmegebot, das dem
Verursacher von Umwelteinwirkungen mehr an Rücksichtnahme zu Gunsten von
Nachbarn gebieten würde, als es das Bundes-Immissionsschutzgesetz gebietet.
Dieses Gesetz hat vielmehr die Grenze der Zumutbarkeit von Umwelteinwirkungen
für Nachbarn und damit das Maß der gebotenen Rücksichtnahme mit Wirkung
auch für das Baurecht allgemein bestimmt (BVerwG, Urteil vom 30.09.1983 -
BVerwG 4 C 74/78 - BRS 40 Nr. 206). Danach sind Immissionen unzumutbar, die
im Sinne von § 3 Abs. 1 BImSchG geeignet sind, Gefahren, erhebliche Nachteile
oder erhebliche Belästigungen für die Allgemeinheit oder die Nachbarschaft
herbeizuführen. Die Erheblichkeitsgrenze richtet sich dabei nach der jeweiligen
Schutzwürdigkeit und Schutzbedürftigkeit der Umgebung. In welchem Maße die
Umgebung schutzwürdig ist, lässt sich nicht unabhängig von etwaigen
Vorbelastungen bewerten. Ist der Standort schon durch Belästigungen in einer
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Vorbelastungen bewerten. Ist der Standort schon durch Belästigungen in einer
bestimmten Weise vorgeprägt, so vermindern sich entsprechend die
Anforderungen des Rücksichtnahmegebots (BVerwG, Urteil vom 27.08.1998, a. a.
O.).
Nach diesen Maßstäben verstößt das Bauvorhaben der Klägerin nicht gegen das
Gebot der Rücksichtnahme gegenüber dem Betrieb der Beigeladenen. Von dem
Bauvorhaben selbst gehen keine unzumutbaren Immissionen aus. Das
Bauvorhaben setzt sich auch keinen von dem Betrieb der Beigeladenen
ausgehenden unzumutbaren Immissionen aus, da nichts dafür ersichtlich ist, dass
von dem Betriebsgelände Luftverunreinigungen, Geräusche, Erschütterungen,
Strahlen oder ähnliche Umwelteinwirkungen ausgehen.
Fraglich ist, ob - wie das Verwaltungsgericht angenommen hat - die Klägerin
Rücksicht auf eine Verpflichtung der Beigeladenen, die Auswirkungen eines
sogenannten "Dennoch-Störfalls" in ihrem Betrieb durch Einhaltung eines
Sicherheitsabstandes zu begrenzen, zu nehmen hat. (Diese Frage ist - soweit
ersichtlich - obergerichtlich bislang noch nicht entschieden worden. Der Bayerische
VGH hat in einem Urteil vom 14. Juli 2006 <- 1 BV 03.2179 u. a. - BRS 70 Nr. 165>
zwar ausgeführt, dass Vieles dafür spreche, dass die Pflicht zur Begrenzung der
Störfallauswirkungen nach § 3 Abs. 3 Störfall-Verordnung auch die Pflicht zur
Einhaltung eines Sicherheitsabstandes von schutzwürdiger Bebauung umfassen
könne. Er hat dies aber letztlich dahingestellt lassen, da im konkreten Fall die
Vorhaben außerhalb des in Betracht kommenden Abstandsbereichs geplant
waren.)
Auf den Betrieb der Beigeladenen ist die Zwölfte Verordnung zur Durchführung des
Bundes-Immissionsschutzgesetzes (Störfall-Verordnung - 12. BImSchV -, im
Folgenden: Störfall-Verordnung) in der Fassung vom 8. Juni 2005 (BGBl. I S. 1591)
anzuwenden, weil in dem Betrieb - nach den übereinstimmenden Angaben der
Beteiligten - gefährliche Stoffe in Mengen vorhanden sind, die die in Anhang I
Spalte 4 genannten Mengenschwellen erreichen oder überschreiten (§ 1 Abs. 1
Satz 1 Störfall-Verordnung). Die Beigeladene hat somit die in der Störfall-
Verordnung normierten Verpflichtungen zu erfüllen. § 3 Störfall-Verordnung erlegt
dem Anlagenbetreiber - in Konkretisierung der allgemeinen Schutz- bzw.
Gefahrenabwehrpflicht des § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BImSchG - "allgemeine
Betreiberpflichten" auf. Nach § 3 Abs. 1 Störfall-Verordnung muss der Betreiber die
Vorkehrungen treffen, die nach Art und Ausmaß der möglichen Gefahren
erforderlich sind, um Störfälle durch Gefahrenquellen und Eingriffe, die
vernünftigerweise nicht ausgeschlossen werden können, zu verhindern. Für den
Fall, dass trotz dieser Vorkehrungen - etwa wegen menschlichen Versagens oder
unerkannter Anlagenmängel und Funktionsstörungen - ein Störfall eintritt
("Dennoch-Störfall"), sind vorbeugend Maßnahmen zu treffen, um dessen
Auswirkungen so gering wie möglich zu halten. Mit dieser Regelung berücksichtigt
die Verordnung, dass Schadensereignisse auch dann nicht vollkommen
auszuschließen sind, wenn der Betreiber seine Pflichten zur Verhinderung von
Störfällen erfüllt. Welche Maßnahmen nach § 3 Abs. 3 Störfall-Verordnung zu
treffen sind, ist zunächst der Vorschrift des § 5 Störfall-Verordnung zu entnehmen.
Die dortige Aufzählung ist jedoch nicht abschließend ("insbesondere"). Der
Hessische Verwaltungsgerichtshof (Urteil vom 23.01.2001 - 2 UE 2899/96 - UPR
2001, 396) hat entschieden, dass auch die Einhaltung eines ausreichenden
Abstandes zu Schutzobjekten grundsätzlich neben den in § 5 Störfall-Verordnung
beispielhaft aufgezählten Vorkehrungen als eine weitere Maßnahme zur
Begrenzung der Auswirkungen von Störfällen geboten sein kann (vgl. in diesem
Sinne auch: Bayerischer VGH, Urteil vom 14.07.2006, a. a. O.; OVG Nordrhein-
Westfalen, Beschluss vom 18.07.1988 - 21 B 1092/88 - NVwZ 1989, 172;
Hansmann, in: Landmann/Rohmer, Umweltrecht, Stand: April 2008, 12. BImSchV,
§ 3 Rdnr. 25). Gegen diese Auffassung wird eingewendet, sie habe zur
Konsequenz, dass eine Genehmigung zu versagen bzw. ein bestehender Betrieb
möglicherweise zu untersagen wäre, wenn der vorsorgeorientierte Abstand zur
Verhinderung von Dennoch-Störfällen am projektierten Standort nicht eingehalten
ist bzw. werden kann. Der Verzicht auf die Realisierung des Vorhabens bzw. auf
den Betrieb der Anlage komme als rechtlich gebotene Vorsorgemaßnahme aber
nicht in Betracht, da die Verpflichtung des Anlagenbetreibers, am Stand der
Technik orientierte Maßnahmen zur Gefahrenvorsorge zu treffen, nicht
Maßnahmen umfasse, die eine Standortverlagerung notwendig machten. Schon
aus dem rechtlichen Charakter der immissionsschutzrechtlichen Genehmigung als
gebundener Kontrollerlaubnis ergebe sich, dass die Errichtung der Anlage an
einem anderen, "weniger problematischen" Standort als rechtlich gebotene
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einem anderen, "weniger problematischen" Standort als rechtlich gebotene
Vorsorgemaßnahme ausscheide. Ein Gebot der vorsorgeorientierten
Risikominimierung komme allenfalls im Sinne einer Optimierung der konkreten
Anlage am konkreten Standort in Betracht (Weidemann, DVBl. 2006, 1143 <1146
f.>; ders., StoffR 2006, 114 <123 f.> ; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom
29.06.1994 - 10 S 25110/93 - NVwZ 1995, 292; Bayerischer VGH, Beschluss vom
20.09.1990 - 20 CS 89.2392 u. a. - NVwZ-RR 1991, 463; OVG Nordrhein-Westfalen,
Urteil vom 18.11.1997 - 21 D 10.95 - in: Feldhaus, Entscheidungssammlung zum
BImSchG, § 6 - 8, S. 2 f.; Jarass, BImSchG, 7. Aufl., § 6 Rdnr. 27; s. auch: Büge,
GewArch 1995, 190; vgl. auch Ziff. 4.2, Seite 12, der im Auftrag des
Unterausschusses "Anlagensicherheit" des Länderausschusses für
Immissionsschutz (LAI) erarbeiteten "Arbeitshilfe zur Anwendung der Vorgaben
aus Art. 12 der Richtlinie 96/82/EG ") vom Februar 2004.
Wollte man dieser Auffassung folgen, würde die Forderung nach Einhaltung eines
ausreichenden Sicherheitsabstandes bei Realisierung des klägerischen Vorhabens
ausscheiden, wenn der vorsorgeorientierte Abstand am Betriebsstandort nicht
eingehalten werden könnte.
Im vorliegenden Fall bedarf die Frage, welcher der beiden Auffassungen zu folgen
ist, aber keiner Entscheidung. Allerdings ist dies - entgegen der Auffassung der
Klägerin - nicht bereits deswegen der Fall, weil das Gebot der Rücksichtnahme hier
mangels Vorliegens einer Gefährdungslage unanwendbar wäre. Wie oben
ausgeführt wurde, ist zur Bestimmung der Grenze der Zumutbarkeit von
Umwelteinwirkungen und des Maßes der gebotenen Rücksichtnahme auf die
Begriffsbestimmung des § 3 Abs. 1 BImSchG zurückzugreifen. Dies könnte
möglicherweise zur Folge haben, dass das Gebot der Rücksichtnahme eine
Gefährdungslage voraussetzt und es bei Risiken unterhalb der Gefahrenschwelle
nicht zur Anwendung kommen kann. Die Störqualität der schädlichen
Umwelteinwirkungen im Sinne des § 3 Abs. 1 BImSchG ist u. a. durch die
Eigenschaft gekennzeichnet, für die Allgemeinheit oder die Nachbarschaft
Gefahren herbeizuführen. Mit dem aus dem Polizeirecht stammenden Begriff der
Gefahr wird die objektive Möglichkeit eines Schadens bezeichnet oder präziser:
eine Lage, in der bei ungehindertem Ablauf des Geschehens ein Zustand oder ein
Verhalten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu einem Schaden führen würde
(Feldhaus, Bundesimmissionsschutzrecht, Stand: Juni 2008, § 3 Rz. 7). § 5 Abs. 1
Satz 1 Nr. 1 BImSchG dient allgemein der Abwehr solcher Gefahren. Bei der in § 3
Abs. 3 Störfall-Verordnung geregelten Verpflichtung handelt es sich - anders als
die Klägerin meint - nicht um eine Konkretisierung der gesetzlichen Vorsorgepflicht
gemäß § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BImSchG (, die der Vorbeugung potentiell
schädlicher Umwelteinwirkungen unterhalb der Gefahrenschwelle dient (Dietlein, in:
Landmann/Rohmer, a. a. O., § 5 BImSchG Rdnr. 136), sondern um eine
Konkretisierung des § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BImSchG (vgl. auch Ziffer 3 der
Vollzugshilfe zur Störfall-Verordnung vom März 2004 des Bundesministeriums für
Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit). Es entspricht nämlich bereits der
Pflicht zur (vorbeugenden) Gefahrenabwehr und dient damit dem Grundsatz des §
5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BImSchG, die erforderlichen und zumutbaren Vorkehrungen
zu treffen, um die Auswirkungen eines von der Anlage ausgehenden Störfalls so
gering wie möglich zu halten (Hansmann, in: Landmann/Rohmer, a. a. O., § 3 12.
BImSchV Rdnr. 2, 24; Hessischer VGH, Urteil vom 23.01.2001, a. a. O., m. w. N.;
Spindler, UPR 1997, 170 <171>; a. A.: Sellner/Reidt/Ohm, Immissionsschutzrecht
und Industrieanlagen, 3. Aufl., Rdnr. 171, S. 59). Auch die vorbeugenden
Maßnahmen zur Begrenzung von Störfallauswirkungen dienen somit der
Verhinderung von als möglich erkannten Gefahren und erfüllen nicht den Zweck
der Minimierung eines - grundsätzlich tolerierbaren - Restrisikos im Sinne einer
Vorsorgepflicht, die schon im Vorfeld von Gefahren Rechtspflichten begründet
(Hessischer VGH, Urteil vom 23.01.2001, a. a. O.).
Eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots scheidet im vorliegenden Fall aber
deswegen aus, weil - auch bei etwaiger Nichteinhaltung eines erforderlichen
Sicherheitsabstandes - die Beigeladene nicht mit einer Verschärfung der
Immissionsschutzauflagen rechnen muss. Auch bei Zulassung des
streitgegenständlichen Bauvorhabens würde sich keine andere
Zumutbarkeitsgrenze ergeben als die, die die Beigeladene bereits aufgrund der
vorhandenen Bebauung beachten muss. Ebenfalls innerhalb der in dem Gutachten
des TÜV Nord Systems GmbH und Co. KG vom Juni 2006 ausgewiesenen
"Achtungsgrenzen" befinden sich bereits verschiedene gewerbliche Nutzungen,
darunter auch die Baumärkte "Hornbach", "Praktiker" und "Bauhaus", die ebenfalls
Freiverkaufsflächen aufweisen und nur unwesentlich weiter vom Betriebsgelände
der Beigeladenen entfernt liegen. Es ist nicht erkennbar, dass es durch das
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der Beigeladenen entfernt liegen. Es ist nicht erkennbar, dass es durch das
Heranrücken einer weiteren schutzwürdigen Bebauung zu einer Verschärfung
immissionsschutzrechtlicher Anforderungen für die Beigeladene kommen kann. Im
Übrigen hängt nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl.
Urteil vom 25.01.2007 - BVerwG 4 C 1/06 - BVerwGE 128, 118) das Maß der
gebotenen Rücksichtnahme von den besonderen Umständen des Einzelfalls ab. Es
sind die Schutzwürdigkeit des Betroffenen, die Intensität der Beeinträchtigung, die
Interessen des Bauherrn und das, was beiden Seiten billigerweise zumutbar oder
unzumutbar ist, gegeneinander abzuwägen. Wesentlich hierfür sind die
tatsächlichen Verhältnisse (Söfker, in: Ernst-Zinkahn-Bielenberg, a. a. O., § 34
Rdnr. 53). In Anbetracht des Umstandes, dass der Beigeladenen in der
Vergangenheit nicht aufgegeben wurde, einen Sicherheitsabstand einzuhalten,
und die zuständige Behörde auch nicht zu erkennen gegeben hat, dass sie - im
Falle der Errichtung des streitgegenständlichen Bauvorhabens - zusätzliche
immissionsschutzrechtliche Anforderungen stellen will, bestehen daher auch
Zweifel, ob durch das Vorhaben der Klägerin für die Beigeladene überhaupt
tatsächliche Beeinträchtigungen entstehen.
Unabhängig hiervon ist auch fraglich, ob die im Gutachten des TÜV Nord Systems
GmbH & Co. KG vom Juni 2006 ermittelten "Achtungsgrenzen" einer
Abstandsbetrachtung zugrunde gelegt werden können. Bislang fehlt es in
Deutschland an normativen Vorgaben für die Ermittlung von Abständen als
Maßnahme zur Begrenzung von Störfallauswirkungen. Erforderlich sein dürfte eine
Einzelfallbetrachtung, die den angemessenen Abstand anhand der Relation von
Eintrittshäufigkeit und Schadensumfang bestimmt (vgl. auch Sellner/Scheidmann,
NVwZ 2004, 267 <270>; Weidemann/Freytag, StoffR 2004, 225 <231>). Das
Gutachten des TÜV Nord Systems GmbH & Co. KG bestimmt die
Achtungsgrenzen in Anlehnung an den Leitfaden der Störfall-Kommission (SFK)
und des Technischen Ausschusses für Anlagensicherheit (TAA) "Empfehlungen für
Abstände zwischen Betriebsbereichen nach der Störfall-Verordnung und
schutzbedürftigen Gebieten im Rahmen der Bauleitplanung - Umsetzung § 50
BImSchG (SFK-TAA-GS 1)" vom 18. Oktober 2005. Nach Ziffer 2.3.1 (Seite 6)
dieses Leitfadens sind indes für die Beurteilung der Frage, ob bei einem
vorhandenen Betriebsbereich Gefahren auf eine benachbarte Wohnbebauung
ausgehen können, die Abstandsempfehlungen des Leitfadens gerade nicht
geeignet. Auch sind nach Ziffer 2.3.2 des Leitfadens die Abstandsempfehlungen
nach Kapitel 3 und 4 nicht als Beurteilungsmaßstab bei der Genehmigung von
Einzelvorhaben geeignet. (Maßstabsbildend zur Festlegung angemessener
Abstände dürften künftig die gemäß Art. 12 Abs. 1 a Seveso-II-Richtlinie
erlassenen Leitlinien der Europäischen Kommission zur Definition einer
technischen Datenbank einschließlich Risikodaten und Risikoszenarien sein, die der
Beurteilung der Vereinbarkeit zwischen den unter diese Richtlinie fallenden
Betrieben und den in Art. 12 Abs. 1 Seveso-II-Richtlinie genannten Gebieten dient).
Eine Verpflichtung der Klägerin zur Einhaltung eines Abstandes zu dem
Störfallbetrieb der Beigeladenen ergibt sich auch nicht aus § 50 BImSchG. Nach
dieser Vorschrift sind bei raumbedeutsamen Planungen und Maßnahmen die für
eine bestimmte Nutzung vorgesehenen Flächen einander so zuzuordnen, dass
schädliche Umwelteinwirkungen und von schweren Unfällen im Sinne des Art. 3 Nr.
5 der Richtlinie 96/82/EG in Betriebsbereichen hervorgerufene Auswirkungen auf
die ausschließlich oder überwiegend dem Wohnen dienenden Gebiete sowie auf
sonstige schutzbedürftige Gebiete, insbesondere öffentlich genutzte Gebäude,
wichtige Verkehrswege, Freizeitgebiete und unter dem Gesichtspunkt des
Naturschutzes besonders wertvolle oder besonders empfindliche Gebiete und
öffentlich genutzte Gebäude, soweit wie möglich vermieden werden. Wie bereits
die Überschrift des § 50 BImSchG ("Planung") zeigt, handelt es sich hierbei um
einen Planungsgrundsatz allgemein anerkannten Inhalts, der die Vorschriften des
Raumordnungs- und Bauplanungsrechts sowie des Fachplanungsrechts ergänzt.
Dieser immissionsschutzrechtliche Planungsgrundsatz, der nach heute
überwiegender Meinung ein Optimierungsgebot enthält, schließt sich an das
allgemeine planungsrechtliche Trennungsgebot an (Kloepfer, Umweltrecht, 3. Aufl.,
§ 14 Rdnr. 289; vgl. auch OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 06.03.2008 - 10 D
103/06.NE - ZUR 2008, 434). Die Bestimmung soll die im Planungsrecht
vorhandenen immissionsschutzbezogenen Ansätze verstärken sowie
konkretisieren und verdeutlicht die Verzahnung des Immissionsschutzrechts und
des Planungsrechts (Hansmann, in: Landmann/Rohmer, a. a. O., § 50 BImSchG
Rdnr. 16 f. m. w. N.). Bezweckt wird ein präventiver Umweltschutz durch Planung
(Schulze-Fielitz, in: Koch/Scheuing, GK-BImSchG, Stand: Dezember 2007, § 50
BImSchG Rdnr. 25).
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Das Optimierungsgebot des § 50 BImSchG ist "bei raumbedeutsamen Planungen
und Maßnahmen" zu beachten. Als Planungen im Sinne dieser Vorschrift sind u. a.
anzusehen: Raumordnungsprogramme, Landesentwicklungspläne, gemeindliche
Entwicklungspläne, Investitionsprogramme, Raumordnungspläne,
Flächennutzungspläne. Auch Entscheidungen über raumbedeutsame
Einzelvorhaben können in den Anwendungsbereich dieser Bestimmung fallen,
soweit in den Entscheidungen planerische Elemente eine Rolle spielen (Jarass, a. a.
O., § 50 BImSchG Rdnr. 7, Hansmann, in: Landmann/Rohmer, a. a. O., § 50
BImSchG Rdnr. 25; Schulze-Fielitz, in: Koch/Scheuing, a. a. O., § 50 BImSchG Rdnr.
78, 80). Dies ist z. B. der Fall bei Planfeststellungen und Plangenehmigungen. Ob
auch Baugenehmigungen, insbesondere im Bereich des § 34 BauGB, von dieser
Vorschrift erfasst werden, ist umstritten. Teilweise wird dies im
immissionsschutzrechtlichen Schrifttum bejaht. So nimmt Jarass (a. a. O., § 50
BImSchG Rdnr. 8) an, dass § 50 BImSchG für Baugenehmigungen im Bereich der
§§ 34, 35 BauGB zumindest entsprechend anwendbar sei, auch wenn im
Allgemeinen gebundene Entscheidungen nicht von dieser Vorschrift erfasst würden
(vgl. in diesem Sinne auch: Hansmann, in: Landmann/Rohmer, a. a. O., § 50
BImSchG Rdnr. 25; Weidemann/Freytag, StoffR 2004, 225 [229];
Sellner/Scheidmann, NVwZ 2004, 267 <269>; Marcks, NuR 1984, 44 <45>;
widersprüchlich: Tophoven, in: Beck’scher Online-Kommentar, Stand: 01.07.2008,
§ 50 BImSchG Rdnr. 6). Dem ist entgegen zu halten, dass die Anwendung des § 50
BImSchG einen Entscheidungsspielraum voraussetzt, der die Wahl zwischen
mehreren Alternativen ermöglicht. Dies ist bei gebundenen Entscheidungen, wie
der nach § 34 BauGB, gerade nicht der Fall. Darüber hinaus regelt § 34 BauGB
über das Gebot des Einfügens die Zuordnung der Nutzungen umfassend und auch
feinmaschiger als der Trennungsgrundsatz, weshalb für eine Anwendung des § 50
BImSchG kein Raum bleibt (vgl. Söfker, in: Ernst-Zinkahn-Bielenberg, a. a. O., § 34
Rdnr. 53; Hofherr, in: Berliner Kommentar, BauGB, Stand: April 2008, § 34 Rdnr.
51; Schulze-Fielitz, in: Koch/Scheuing, a. a. O., § 50 BImSchG Rdnr. 80; Mager, in:
Kotulla, BImSchG-Kommentar, Stand: Oktober 2007, § 50 BImSchG Rdnr. 13).
Diese Auffassung steht im Einklang mit der Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts (Beschluss vom 12. Juni 1990 - BVerwG 7 B 72/90 -
NVwZ 1990, 962), wonach weder § 34 BauGB noch § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1
BImSchG Raum für eine planerische Abwägung, unter Berücksichtigung des
Planungsgrundsatzes in § 50 BImSchG, gibt. Die genannte Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts ist auch nicht etwa deswegen obsolet geworden, weil
sie vor der Novellierung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes und der in
Umsetzung der Seveso-II-Richtlinie erfolgten Ergänzung des Satzes 1 des § 50
BImSchG ergangen ist. Die Implementierung des Störfallschutzes in § 50 BImSchG
lässt den Norminhalt und Anwendungsbereich des § 34 BauGB unberührt. Nach §
34 BauGB begründet und begrenzt die Umgebungsbebauung den Rechtsanspruch
auf Erteilung einer Baugenehmigung. Sie übt einen lenkenden Einfluss aus und
erfüllt insoweit im unbeplanten Innenbereich dieselbe Funktion wie ein
Bebauungsplan in einem überplanten Gebiet (vgl. BVerwG, Urteil vom 11.02.1993 -
BVerwG 4 C 15.92 - BRS 55 Nr. 174). Für die Berücksichtigung weiterer, die
Zulässigkeit mitbestimmender Planungen bzw. Planungsgrundsätze ist daneben
kein Raum.
Aus dem Umstand, dass § 50 Satz 1 BImSchG aufgrund von Art. 1 Nr. 5 des
Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2003/105/EG des Europäischen Parlaments
und des Rates vom 16. Dezember 2003 zur Änderung der Richtlinie 96/82/EG des
Rates zur Beherrschung der Gefahren bei schweren Unfällen mit gefährlichen
Stoffen vom 25. Juni 2005 (BGBl. I S. 1865) dahingehend geändert wurde, dass
auch "öffentlich genutzte Gebäude" zu den Schutzobjekten zählen, kann nicht
gefolgert werden, dass der Anwendungsbereich des § 50 BImSchG generell auf
Baugenehmigungsverfahren erstreckt werden sollte. Nach der
Gesetzesbegründung soll der Änderung des § 50 Satz 1 BImSchG nur klarstellende
Bedeutung zukommen (BT-Drucks. 15/5220, S. 8). Es ist daher davon
auszugehen, dass lediglich der Oberbegriff "sonstige schutzbedürftige Gebiete"
präzisiert werden sollte; ein inhaltlich neues Begriffsverständnis ist damit nicht
verbunden (vgl. Tophoven, a. a. O., § 50 BImSchG Rdnr. 12).
Selbst wenn man § 50 BImSchG grundsätzlich auch im Rahmen von § 34 BauGB
für anwendbar halten wollte, würde eine Anwendbarkeit im vorliegenden Fall daran
scheitern, dass es sich bei dem streitgegenständlichen Vorhaben nicht um eine
raumbedeutsame Maßnahme im Sinne dieser Vorschrift handelt.
Der Begriff "raumbedeutsame Planungen und Maßnahmen" entspricht dem in § 3
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Der Begriff "raumbedeutsame Planungen und Maßnahmen" entspricht dem in § 3
Nr. 6 ROG verwendeten Begriff (Jarass, a. a. O., § 50 BImSchG Rdnr. 5; Mager, in:
Kotulla, a. a. O., § 50 BImSchG Rdnr. 30). Raumbedeutsam sind demnach
Planungen und Maßnahmen, durch die Raum in Anspruch genommen oder die
räumliche Entwicklung oder Funktion eines Gebiets beeinflusst wird.
Raumbeanspruchende Vorhaben zeichnen sich dadurch aus, dass für ihre
Verwirklichung regelmäßig Flächen in erheblichem Umfang benötigt werden.
Raumbeeinflussende Planungen und Maßnahmen sind solche mit regelmäßig
erheblichen Auswirkungen auf die Struktur und Entwicklung eines größeren
Raumes (Schulze-Fielitz, in: Koch/Scheuing, a. a. O., § 50 BImSchG Rdnr. 74;
Feldhaus, a. a. O., § 50 BImSchG Rz. 4; Reidt, ZfBR 2004, 430 <433>). Beide
Voraussetzungen erfüllt das streitgegenständliche Bauvorhaben nicht. Für das
Merkmal der Raumbeanspruchung ist kennzeichnend, dass Grund und Boden in
erheblichem Umfang in Anspruch genommen wird. Gemeint sind damit in erster
Linie Großvorhaben (von der Heide, in: Cholewa/Dyong/von der Heide/Arenz,
Raumordnung in Bund und Ländern, Stand: September 2007, § 3 Rdnr. 48; Runkel,
in: Bielenberg/Runkel/Spannowsky, Raumordnungs- und Landesplanungsrecht des
Bundes und der Länder, Stand: Februar 2007, § 3 Rdnr. 148). Das Kriterium der
Raumbeanspruchung will damit solche Planungen und Maßnahmen erfassen, die
nach den Maßstäben des Planungsraums bereits wegen ihrer Größenordnung
herausragen und daher der raumordnerischen Einordnung bedürfen (Runkel, a. a.
O., § 3 Rdnr. 249). Das streitgegenständliche Bauvorhaben weist mit einer Fläche
von ca. 30.000 m² zwar eine nicht unerhebliche Größe auf. Stellt man jedoch auf
die regionale Maßstäblichkeit ab, ist das Vorhaben nicht als raumbeanspruchend
einzustufen, da sich in seiner Umgebung bereits eine Reihe weiterer Vorhaben
vergleichbarer Größenordnung befinden und daher das Bauvorhaben keiner
raumordnerischen Einordnung bedarf. Das streitgegenständliche Vorhaben kann
auch nicht als raumbeeinflussend angesehen werden. Die räumliche Entwicklung
eines Gebietes kann dann beeinflusst werden, wenn von der Planung oder
Maßnahme regional bedeutsame, über den Standort hinausgehende, Wirkungen
oder Effekte, ausgehen (Runkel, a. a. O., § 3 Rdnr. 255; Reidt, ZfBR 2004, 430
<433>), die sich z. B. auf den regionalen Arbeitsmarkt, auf die
Einkommenssituation, auf die Bevölkerungsentwicklung oder auf die regionale
Umweltsituation beziehen. Wie sich aus § 1 Nr. 19 Raumordnungsverordnung
(ROV) (, wonach für die Errichtung von Einkaufszentren, großflächigen
Einzelhandelsbetrieben und sonstigen großflächigen Handelsbetrieben ein
Raumordnungsverfahren durchgeführt werden soll, wenn sie im Einzelfall
raumbedeutsam sind und überörtliche Bedeutung haben,) ergibt, kann nicht jedes
Einzelhandelsgroßprojekt als regional bedeutsam angesehen werden. Vielmehr ist
zu prüfen, ob eine überörtliche Bedeutung vorliegt. Hierbei sind vor allem der
jeweilige Betriebstyp und die raumstrukturelle Situation am vorgesehenen
Standort von Bedeutung. Aufgrund der vorgesehenen Größenordnung des
Vorhabens (ca. 10.000 m² Verkaufsfläche) und des Warensortiments
(Gartenartikel), das der Deckung des Bedarfs der lokal ansässigen Bevölkerung
dient, ist eine überörtliche Ausstrahlung nicht zu erwarten. Leitvorstellung der
Raumordnung ist darüber hinaus ein attraktiver und funktionsfähiger Handelsplatz
"Innenstadt". Planungen und Maßnahmen im großflächigen Einzelhandel sind
daher auch daran zu messen, inwieweit sie sich auf die Funktionsfähigkeit von
Innenstädten, Stadtteilzentren und Ortskernen auswirken. Das Warensortiment
des geplanten Gartencenters ist nicht als innenstadtrelevant einzustufen, weshalb
auch eine negative Beeinflussung der Innenstadt auszuschließen ist.
§ 50 BImSchG ist entgegen der Auffassung des Beklagten hier auch nicht deshalb
anwendbar, weil der Betrieb der Beigeladenen als raumbedeutsam anzusehen
wäre. Das Optimierungsgebot des § 50 BImSchG regelt die Z u l a s s u n g
raumbedeutsamer Maßnahmen (Hansmann, a. a. O., § 50 BImSchG, Rdnr. 25), d.
h. die Vorschrift bezieht sich nur auf noch zu verwirklichende Vorhaben.
Da die Anwendbarkeit des § 50 BImSchG bereits aus den oben dargelegten
Gründen ausscheidet, kommt es nicht mehr entscheidungserheblich darauf an, ob
es sich bei dem geplanten Gartencenter um ein "öffentlich genutztes Gebäude" im
Sinne des § 50 Satz 1 BImSchG handelt. Es kann folglich dahingestellt bleiben, ob
jedes Gebäude mit Publikumsverkehr ein öffentliches genutztes Gebäude darstellt
oder nur Gebäude mit öffentlicher Zweckbestimmung von der Vorschrift erfasst
werden. Allerdings legt der enge Bezug zur Seveso-II-Richtlinie und der in Art. 1
dieser Richtlinie bestimmte Schutzzweck, wonach schwere Unfälle mit gefährlichen
Stoffen verhütet und die Unfallfolgen für Mensch und Umwelt begrenzt werden
sollen, eine weite Auslegung des Begriffs "öffentlich genutztes Gebäude" nahe.
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Im Übrigen ist auch deshalb zweifelhaft, ob eine Anwendung von § 50 BImSchG im
Rahmen von § 34 BauGB im vorliegenden Fall zu einer Abstandsverpflichtung der
Klägerin führen kann, weil der Trennungsgrundsatz für eine bereits bestehende
Gemengelage - wie sie hier vorliegt - nicht uneingeschränkt gilt. Nach der
Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 13. Mai 2004 -
BVerwG 4 BN 15.04 - zitiert nach Juris) lässt der Grundsatz insbesondere dann
Ausnahmen zu, "wenn das Nebeneinander unverträglicher Nutzungen schon seit
längerer Zeit und offenbar ohne größere Probleme bestanden hat" (vgl. auch
BVerwG, Beschluss vom 20.01.1992 - BVerwG 4 B 71/90 - NVwZ 1992, 663).
Entgegen der Auffassung des Beklagten und der Beigeladenen verstößt das
Bauvorhaben auch nicht gegen § 34 Abs. 1 Satz 2 1. Halbs. BauGB. Die gemäß §
34 Abs. 1 Satz 2 BauGB zu wahrenden Anforderungen an gesunde Wohn- und
Arbeitsverhältnisse haben neben § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB und insbesondere
auch neben § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BImSchG nur geringe praktische Bedeutung. In
der Regel wird ein Vorhaben, das gesunde Wohn- und Arbeitsverhältnisse nicht
wahrt, sich auch unter den in § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB genannten
Gesichtspunkten nicht einfügen (Bracher, in: Gelzer/Bracher/Reidt,
Bauplanungsrecht, 7. Aufl., Rdnr. 2059; Sellner/Reidt/Ohms, a. a. O., 3. Aufl., Rdnr.
360, S. 117). Bedeutung gewinnt diese Anforderung dann, wenn ein unter
gesundheitlichen Aspekten zu missbilligendes Vorhaben auf eine ebenso
geschaffene Umgebung trifft mit der Folge, dass es sich zwar in sie einfügt, aber
damit zugleich den Missstand perpetuieren würde (Bracher, in:
Gelzer/Bracher/Reidt, a. a. O., Rdnr. 2059; Sellner/Reidt/Ohms, a. a. O., Rdnr. 316;
S. 117, OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 29.06.1989 - 7 A 2087/87 - BRS 49
Nr. 119). Der zusätzlichen Anforderung des § 34 Abs. 1 Satz 2 1. Halbs. BauGB
kommt nur in besonders gelagerten Fällen eine selbstständige Bedeutung zu und
ist auf die Abwehr städtebaulicher Missstände beschränkt (Söfker, a. a. O., § 34
Rdnr. 66; Schrödter, Baugesetzbuch, 7. Aufl., § 34 Rdnr. 63; BVerwG, Urteil vom
12.12.1990 - BVerwG 4 C 40.87 - BRS 50 Nr. 72). Hiernach werden nur bestimmte
Mindestanforderungen verlangt. Denn nur damit wird berücksichtigt, dass ein
Vorhaben, das sich im Sinne des § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB einfügt, auf eine
vorhandene Situation trifft, so dass die Maßstäbe nicht aus den Regeln für
Neuplanungen entnommen werden können. Daher reicht beispielsweise ein
Überschreiten der Grenzwerte der 16. BImSchV für Verkehrslärm nicht aus, um
ungesunde Wohnverhältnisse anzunehmen (BVerwG, Urteil vom 12.12.1990, a. a.
O.). Zur Frage der Vermeidung schädlicher Umwelteinwirkungen kann auf die
Begriffsbestimmung des § 3 BImSchG zurückgegriffen werden (vgl. Söfker, a. a. O.,
§ 34 Rdnr. 67), wonach Gefahren, aber auch erhebliche Nachteile oder
Belästigungen ausschlaggebend sein können. (Der Bundesgerichtshof
01.10.1981 - III ZR 109/80 - BRS 45 Nr. 8> hat die Schwelle, bis zu der ein
Vorhaben den allgemeinen Anforderungen an gesunde Wohn- und
Arbeitsverhältnisse entspricht, "nicht allzu weit unterhalb der Grenze zur
Polizeigefahr" angesetzt). Von dem Störfallbetrieb ausgehende erhebliche
Belästigungen oder Gefahren liegen nicht vor. Es gehen von dem Betrieb der
Beigeladenen auch keine durch schädliche Immissionen verursachten konkreten
Gesundheitsgefahren aus. In Betracht kommt hier die Gefahr von Störfällen, die
trotz ausreichender Vorkehrungen gegen vernünftigerweise zu erkennende
Schadensereignisse eintreten können (sogenannte Dennoch-Störfälle). Das
Vorliegen eines derartigen, unterhalb der Schwelle einer konkreten Gefahr
liegenden Gefährdungspotentials begründet indes nicht schon die Annahme, dass
die Anforderungen an gesunde Wohn- und Arbeitsverhältnisse nicht gewahrt sind.
Es besteht nicht die objektive Möglichkeit einer konkreten Gefahr, da
auswirkungsbegrenzende Sicherheitsabstände nach § 3 Abs. 3 Störfall-Verordnung
- sofern eine Verpflichtung zur Einhaltung von solchen Sicherheitsabständen
überhaupt rechtlich anzuerkennen ist - gerade keine Abwehrmaßnahmen einer
konkreten Gefahr darstellen, sondern auf der abstrakten Gefahrengeneigtheit
einer Anlage und einer Gefahrenabwehr in zweiter Linie (vgl. hierzu: Spindler, UPR
1997, 170 <176>) beruhen.
Eine unmittelbare Anwendung des dem § 50 BImSchG zugrundeliegenden Art. 12
Abs. 1 Seveso-II-Richtlinie bzw. eine richtlinienkonforme Auslegung des § 50
BImSchG kommt nicht in Betracht. Die Seveso-II-Richtlinie (Richtlinie 96/82/EG des
Rates vom 9. Dezember 1996 zur Beherrschung der Gefahren bei schweren
Unfällen mit gefährlichen Stoffen, ABl. L 10 vom 14.01.1997, S. 3, geändert durch
die Richtlinie 2003/105/EG vom 16.12.2003, ABl. L 345 vom 31.12.2003) regelt
Sicherheitspflichten der Betreiber von Störfallanlagen zur Verhinderung von
Störfällen und zur Störfallvorsorge. Der deutsche Verordnungsgeber hat diese
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Störfällen und zur Störfallvorsorge. Der deutsche Verordnungsgeber hat diese
Vorgaben im Wege des Erlasses der 12. BImSchV (der sogenannten Störfall-
Verordnung) umgesetzt. Art. 12 Seveso-II-Richtlinie fordert aber zugleich, dass alle
Nutzungen in der Nachbarschaft von gefährlichen Industrieanlagen so angeordnet
werden, dass die Folgen eines schweren Unfalls keine zusätzlichen Risiken
eröffnen. In der Literatur wird teilweise angenommen, dass Art. 12 Seveso-II-
Richtlinie ein zwingendes Gebot der Abstandswahrung enthält, das nicht nur bei
planerischen Ausweisungen sensibler Gebiete, sondern auch bei der
Neuansiedlung öffentlich genutzter Gebäude, also im Rahmen der Zulassung von
Einzelvorhaben gemäß §§ 34, 35 BauGB, zu beachten sei (vgl. Weidemann, DVBl.
2006, 1143 <1148 ff.>; Sellner/Scheidmann, NVwZ 2004, 267 <269>;
Weidemann/Freytag, StoffR 2004, 225 <229>). Dieser Auffassung ist nicht
zuzustimmen. Der deutsche Gesetzgeber geht in Übereinstimmung mit Art. 12
Seveso-II-Richtlinie davon aus, dass das Ziel, angemessene Abstände zwischen
gefährlichen Industrieanlagen und schutzbedürftigen Nutzungen herzustellen, nur
langfristig durch Planung verwirklicht werden kann. Die Auslegung von Art. 12 Abs.
1 Seveso-II-Richtlinie ergibt, dass eine langfristige und daher planerische Lösung
des Problems zu geringer Abstände zwischen Störfallanlagen und
schutzbedürftigen Nutzungen beabsichtigt ist. Nach Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 1
Satz 1 Seveso-II-Richtlinie sorgen die Mitgliedstaaten dafür, "daß in ihren Politiken
der Flächenausweisung oder Flächennutzung und/oder anderen einschlägigen
Politiken das Ziel, schwere Unfälle zu verhüten und ihre Folgen zu begrenzen,
Berücksichtigung findet." Unter dem Begriff der "Politiken" ist das Planungsrecht im
weiteren Sinne zu verstehen. Politiken der Flächenausweisung und/-nutzung sind z.
B. Raumordnungspläne, Flächennutzungspläne, Bebauungspläne,
Planfeststellungen (vgl. Hessischer VGH, Urteil vom 24.10.2006 - 12 A 2216/05 -
NVwZ 2007, 597; Sellner/Scheidmann, NVwZ 2004, 267 <269>). Um dem
systematischen Zusammenhang der Vorschrift Rechnung zu tragen, wird man
davon ausgehen müssen, dass auch die anderen einschlägigen Politiken einen
Bezug zu planerischen Maßnahmen haben. Daher kann nach dem Wortlaut der
Vorschrift nicht angenommen werden, dass der Begriff der "einschlägigen
Politiken" weit auszulegen ist und alle staatlichen Maßnahmen erfasst werden, die
einen Bezug zu einer Störfallanlage und deren Verhältnis zur Umgebung haben.
Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 1 Satz 2 Seveso-II-Richtlinie verpflichtet die
Mitgliedstaaten auf einer ersten Stufe dazu, die Ansiedlung neuer Betriebe, die
Änderung bestehender Betriebe sowie neue Entwicklungen in der Nachbarschaft
überwachen
Beigeladenen begründet dies keine Verpflichtung der Mitgliedstaaten, die
Neuansiedlung von schutzwürdigen Nutzungen (z. B. im Rahmen eines
Baugenehmigungsverfahrens nach § 34 BauGB) zu verhindern. Vielmehr schafft
die Überwachung nach Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 1 Satz 2 Seveso-II-Richtlinie die
Voraussetzung für die in Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 2 enthaltene weitere
Verpflichtung, dem Erfordernis der Wahrung angemessener Abstände planerisch
langfristig Rechnung zu tragen. Wird bei der Überwachung eine Fehlentwicklung
erkannt, ist dieser auf einer weiteren Stufe mit planerischen Mitteln nach Art. 12
Abs. 1 Unterabs. 2 Seveso-II-Richtlinie entgegenzuwirken. Art. 12 Seveso-II-
Richtlinie trifft planerische Vorgaben für die "Überwachung der Ansiedlung"
gefährlicher Industriebetriebe (im englischen Text heißt es auch demgemäß: "Land
Use Planning"). Die Überschrift des Art. 12 Seveso-II-Richtlinie spricht von der
"Überwachung der Ansiedlung" gefährlicher Anlagen, um schwere Unfälle zu
verhüten und ihre Folgen zu begrenzen. Es geht aber weniger um die
Überwachung der Ansiedlung, als vielmehr um die Vereinbarkeit der Planung für
solche Betriebe mit benachbarten Nutzungen (Louis/Wolf, NuR 2007, 1 <2>).
Der Annahme der Beigeladenen, dass auf europäischer Ebene insbesondere
bestehende Gemengelagen, also gewachsene Strukturen der Vermischung
störender und störanfälliger Nutzungen, als Missstand erkannt worden sei und
diesem durch räumliche Entzerrung (auch auf der Ebene der Genehmigung von
Einzelvorhaben) habe begegnet werden sollen, kann nicht beigepflichtet werden.
Aus Erwägungsgrund Nr. 4 der Seveso-II-Richtlinie lässt sich eine derartige
Zielsetzung nicht herleiten. Hierin heißt es: "Angesichts der Unfälle von Bhopal und
Mexico City […] haben der Rat und die im Rat vereinigten Vertreter der
Regierungen der Mitgliedstaaten […] die Kommission aufgefordert, in die Richtlinie
82/501/EWG Bestimmungen über die Überwachung der Flächennutzungsplanung
im Falle der Genehmigung neuer Anlagen und des Entstehens von Ansiedlungen in
der Nähe bestehender Anlagen aufzunehmen." Die Richtlinie bezweckt also die
Entstehens
Ansiedlungen in der Umgebung von Störfallanlagen; nicht aber sollen bestehende
Gemengelagen aufgelöst (entzerrt) werden. Auch aus der von der Beigeladenen
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Gemengelagen aufgelöst (entzerrt) werden. Auch aus der von der Beigeladenen
zitierten Ziffer 2 der Ratsentschließung vom 16. Oktober 1998 (ABl. EG Nr. C 273/1
vom 26.10.1989) ergibt sich nicht, dass Ansiedlungen in der Nähe von
bestehenden Störfallbetrieben verhindert werden sollen. Es werden lediglich
"Kontrollen im Rahmen der Flächennutzungsplanung" für wichtig gehalten. Auf
europäischer Ebene werden zwar Gemengelagen als problematisch angesehen.
Diese sollen nach der Seveso-II-Richtlinie aber nur langfristig durch die zukünftige
Einhaltung eines angemessenen Abstandes zwischen gefährlichen
Industrieanlagen und schutzwürdigen Nutzungen vermieden werden (vgl. 12 Abs. 1
Unterabs. 2). Die Zielrichtung von Art. 12 Abs. 1 Seveso-II-Richtlinie ist es also,
dass das Erfordernis der Wahrung angemessener Abstände langfristig auf der
Ebene der Planung verwirklicht wird. Der deutsche Gesetzgeber hat daher
richtigerweise den planungsrechtlichen Ansatz des Art. 12 Seveso-II-Richtlinie mit
der Planungsnorm des § 50 BImSchG umgesetzt.
Auch aus den zur Auslegung des Art. 12 Seveso-II-Richtlinie vorliegenden
Materialien ergibt sich, dass der Richtliniengeber die Begrenzung der Unfallfolgen
durch das Instrument der Flächennutzungsplanung zu erreichen beabsichtigt. Die
Gemeinsame Forschungsstelle der Europäischen Kommission, Institut zum Schutz
und für die Sicherheit der Bürger - Hazard Assessment Unit - hat im September
2006 die "Leitlinien für die Flächennutzungsplanung im Rahmen von Art. 12 der
Seveso-II-Richtlinie 96/82/EG, geändert durch Richtlinie 203/105/EG"
herausgegeben. Diese enthalten (neben einer Anleitung für die Anwendung einer
technischen Datenbank) allgemeine Anleitungen für die Risikoabschätzung in der
Flächennutzungsplanung im Zusammenhang mit der Gefahr schwerer
Industrieunfälle. Auf Seiten 6 und 8 der Leitlinien wird das mehrstufige
Sicherheitskonzept der Richtlinie erläutert. Hiernach können die in Art. 12 Seveso-
II-Richtlinie enthaltenen Anforderungen durch Planung und/oder technische
Lösungen erfüllt werden. Hieraus folgt, dass neben dem Planungsrecht nicht auch
Baugenehmigungen für Einzelvorhaben unter den Anwendungsbereich der
Richtlinie fallen. Auf Seite 17 der oben genannten Leitlinien wird ausgeführt, dass
die Wirkung des Planungsprozesses u. U. erst nach 30 Jahren eintreten kann. Dies
bestätigt die oben dargelegte Auffassung, dass Art. 12 Abs. 1 Seveso-Richtlinie
nur einen Planungsleitsatz enthält, der langfristig umgesetzt werden soll. Die
Leitlinien sind zwar rechtlich nicht bindend (s. Seite 3, 1. Absatz), spiegeln aber die
Auffassung der Europäischen Kommission wider und sollen die Mitgliedstaaten bei
der Auslegung und praktischen Anwendung der Seveso-II-Richtlinie unterstützen. In
einer Antwort der Europäischen Kommission vom 17. Juli 1990 auf eine
parlamentarische Anfrage (Anfrage E-1647/2000 vom 29.05.2000) wird ausgeführt,
dass die Richtlinie eine neue Bestimmung enthalte, wonach die Mitgliedstaaten
den Implikationen der Gefahr schwerer Unfälle bei der Flächennutzungsplanung
Rechnung zu tragen hätten. Langfristig solle durch die
Flächennutzungsplanung
Betrieben und Wohngebieten ein angemessener Abstand gewahrt bleibt. Bei
bereits in der Nähe von Wohngebieten bestehenden Betrieben seien nach der
Seveso-II-Richtlinie lediglich zusätzliche technische Maßnahmen zu prüfen.
Selbst wenn man aber annehmen würde, dass Art. 12 Abs. 1 Seveso-Richtlinie
nicht vollständig in deutsches Recht umgesetzt wurde, führte dies nicht zu einer
unmittelbaren Anwendbarkeit dieser Bestimmung. Das Verwaltungsgericht ist
zutreffend davon ausgegangen, dass es der Richtlinienbestimmung an der für eine
unmittelbare Anwendbarkeit erforderlichen inhaltlichen Unbedingtheit und
hinreichenden Genauigkeit fehlt. Nach dem Wortlaut des Art. 249 Abs. 3 EGV
kommt Richtlinienbestimmungen (im Gegensatz zu Bestimmungen einer
Verordnung oder einer Entscheidung) keine weitergehende Geltungskraft zu, als
dass die Mitgliedstaaten gebunden und verpflichtet werden. Dennoch ist heute
anerkannt, dass Richtlinienbestimmungen unter bestimmten Voraussetzungen
auch unmittelbare Wirkung entfalten können (Nettersheim, in: Grabitz/Hilf, Das
Recht der Europäischen Union, Stand: Mai 2008, Art. 249 EGV Rdnr. 155).
Voraussetzung für eine unmittelbare Wirkung ist, dass eine bestimmte
Richtlinienvorschrift inhaltlich unbedingt und hinreichend genau formuliert ist.
Inhaltlich unbedingt ist eine Bestimmung, wenn sie vorbehaltlos und ohne
Bedingung anwendbar ist und keiner weiteren Maßnahme der Organe der
Mitgliedstaaten oder der Gemeinschaft bedarf. Hinreichend genau ist die
Bestimmung, wenn sie unzweideutig eine Verpflichtung begründet, also rechtlich in
sich abgeschlossen ist und als solche von jedem Gericht angewandt werden kann
(Ruffert, in: Callies/Ruffert, EUV/EGV, 3. Aufl., Art. 249 EGV Rdnr. 79 ff.; Schroeder,
in: Streinz, EUV/EGV, 2003, Art. 249 EGV Rdnr. 106 ff.; Nettersheim, in:
Grabitz/Hilf, a. a. O., Art. 249 EGV Rdnr. 161 ff.). Bestimmungen
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Grabitz/Hilf, a. a. O., Art. 249 EGV Rdnr. 161 ff.). Bestimmungen
programmatischen Charakters erfüllen diese Kriterien nicht. Um eine solche
handelt es sich im vorliegenden Fall, da Art. 12 Abs. 1 keine konkrete Maßnahme
vorschreibt und keine abschließende Handlungsverpflichtung der Mitgliedstaaten
enthält. Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 2 Seveso-II-Richtlinie sieht als allgemeines Ziel
vor, dass die Mitgliedstaaten in ihren "Politiken" "langfristig" dem Erfordernis
"Rechnung tragen", dass zwischen Störfallanlagen und schutzbedürftigen
Nutzungen ein "angemessener Abstand gewahrt bleibt". Die
Richtlinienbestimmung überlässt mithin den Mitgliedstaaten einen
Umsetzungsspielraum sowohl im Hinblick auf das Mittel zur Zielerreichung, als
auch den Zeitpunkt, bis zu dem das Ziel erreicht sein muss. Die
Richtlinienbestimmung verpflichtet die Mitgliedstaaten nicht unmittelbar, für die
Einhaltung eines gemeinschaftsrechtlich vorgeschriebenen Abstandes zu sorgen.
Dies belegen auch die Materialien zur Richtlinie. In der Antwort der Kommission
vom 6. Juli 2001 auf eine parlamentarische Anfrage (Anfrage E-1349/01 vom
07.05.2001) heißt es: "Art. 12 legt keinen "Gefahrenbereich-Durchmesser" um
gefährliche Einrichtungen herum fest und sollte deshalb nicht dahingehend
ausgelegt werden, dass alle Mitgliedstaaten für die in der Frage angesprochenen
Einrichtungen eine gleichartige Konsultation durchführen oder die gleichen
Schutzabstände vorschreiben müssen." Der Charakter der Richtlinienbestimmung
als allgemeiner Zielbestimmung ergibt sich ferner daraus, dass es die Kommission
für notwendig gehalten hat, erst in Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten
angemessene Lösungsmöglichkeiten in Bezug auf die Flächennutzungsplanung zu
entwickeln. In Ziffer 1 (Einleitung, Seite 3 f.) der Begründung des
Kommissionsvorschlags zur Änderung der Richtlinie 96/82/EG vom 09.12.1996
(Komm <2001> 624 endgültig/2-2001/0257 ) wird demgemäß ausgeführt:
"Der neue Art. 12 über Flächennutzungsplanung soll - auf lange Sicht - eine
Trennung gefährlicher Industrieunternehmen von Wohngebieten und anderen von
der Öffentlichkeit häufig besuchten Orten bewirken. Auch wenn die Aufnahme einer
solchen Bestimmung in das Gemeinschaftsrecht zunächst einen großen Schritt
vorwärts bedeutet, so müssen die Kommissionen und die Mitgliedstaaten doch
noch Erfahrung mit ihrer Anwendung sammeln […]. Die Kommission wird die
Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten in der nächsten Zeit verstärken, um
eine angemessene legislative und/oder nicht legislative Reaktion auf die Unfälle in
Bezug auf die Flächennutzungsplanung, die Harmonisierung allgemeiner
Risikoabschätzungsmethoden, […] zu ermöglichen." Der programmatische
Charakter von Art. 12 Seveso-II-Richtlinie lässt sich schließlich dem Bericht des
Ausschusses für Umweltfragen, Volksgesundheit und Verbraucherpolitik über den
Vorschlag zur Änderungsrichtlinie vom 19. Juni 2002 (A5-0243/2002) entnehmen.
Dort heißt es unter Punkt 2 in der Begründung (s. Seite 36, 4. Absatz): "In Art. 12
der ‚Seveso-Richtlinie’ wird die Grundlage gelegt für eine Raumplanung, die
allerdings viel Zeit erfordert und für die noch genaue und ausgewogene
methodologische Kriterien festgelegt werden müssen."
Da eine unmittelbare Anwendung des Art. 12 Seveso-II-Richtlinie bereits aus den
oben dargelegten Gründen ausscheidet, kommt es nicht mehr
entscheidungserheblich darauf an, ob europäische Richtlinien in
Dreiecksverhältnissen unmittelbar wirken können (vgl. hierzu: Schroeder, in:
Streinz, EUV/EGV, a. a. O., Art. 249 EGV Rdnr. 118; Ruffert, in: Callies/Ruffert,
EUV/EGV, a. a. O., Art. 249 EGV Rdnr. 89 ff. jeweils mit weiteren Nachweisen) und
ob die unmittelbare Wirkung von Richtlinien die Existenz eines subjektiven Rechts
voraussetzt (vgl. Ruffert, in: Callies/Ruffert, a. a. O., Art. 249 EGV Rdnr. 94 ff.;
Schroeder, in: Streinz, a. a. O., Art. 249 EGV Rdnr. 110).
Schließlich steht dem Anspruch der Klägerin auf Zurückweisung des
Drittwiderspruchs auch nicht die Vereinbarung zwischen dem Beklagten, der
Beigeladenen und der Stadt C-Stadt vom 14. Juli 2006 entgegen. Nach § 2 Abs. 1
d) dieser Vereinbarung verpflichtet sich das Regierungspräsidium im Rahmen des
§ 50 BImSchG die Einhaltung der Abstandsgrenzen bei der Bauleitplanung und bei
raumbedeutsamen Einzelvorhaben zu prüfen. Wie sich aus den obigen
Ausführungen ergibt, scheidet die Anwendung des § 50 BImSchG im vorliegenden
Fall aber aus. Im Übrigen ergibt sich aus der Vereinbarung (vgl. § 2 Abs. 1 a))
lediglich eine Verpflichtung der Stadt C-Stadt im Rahmen ihrer B a u l e i t p l a n
u n g die Vorgaben der Seveso-II-Richtlinie zu berücksichtigen, nicht jedoch bei
der - hier in Streit stehenden - Genehmigung eines Bauvorhabens nach § 34
BauGB.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 2, 159 Satz 1 VwGO i. V. m. § 100
Abs. 1 ZPO.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils beruht auf § 167
VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
Die Revision ist wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache
zuzulassen, da die Rechtssache mehrere abstrakte Rechtsfragen aufwirft, die
höchstrichterlich noch nicht geklärt sind (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.