Urteil des HessVGH vom 12.03.1990

VGH Kassel: ausweisung, rechtshilfe in strafsachen, straftat, bestrafung, aufschiebende wirkung, ausländer, abschiebung, todesstrafe, verfügung, strafverfahren

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Gericht:
Hessischer
Verwaltungsgerichtshof
12. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
12 UE 3026/86
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
Art 103 Abs 3 GG, § 10 Abs
1 Nr 2 AuslG, Art 6 Abs 1
GG
(Zum Ausweisungsermessen bei möglicher
Doppelbestrafung; "Türkeibezug" der Straftat)
Tatbestand
Der ... 1952 geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger. Nach seiner Heirat
mit einer deutschen Staatsangehörigen am 9. Juni 1976 erhielt er zunächst eine
befristete und sodann im Februar 1979 eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis.
Nachdem er zunächst als Arbeiter bei einer Werbefirma, später als Autolackierer
und als Verkäufer bei einem Speiseeishersteller gearbeitet hatte, pachtete er im
März 1981 zusammen mit seiner Ehefrau, die Konzessionsträgerin war, die
Gaststätte "E." in F.. Heute arbeitet der Kläger als Änderungsschneider und
Flickschuster in dem Geschäft seiner Ehefrau, die im übrigen als Zahnarzthelferin
berufstätig ist. Aus der Ehe sind zwei heute 14 und 9 Jahre alte Töchter
hervorgegangen. 1979 wurde dem Kläger infolge eines 1962 erlittenen
Verkehrsunfalls das rechte Bein im Unterschenkelbereich amputiert.
Mit Urteil des Amtsgerichts ... vom 11. März 1980 (50 Js 29.422/79 Ds) wurde der
Kläger u.a. wegen unerlaubten Entfernens von der Unfallstelle zu einer Geldstrafe
von 20 Tagessätzen a 30,-- DM verurteilt. Außerdem erging am 22. Dezember
1981 ein Strafbefehl des Amtsgerichts ... (30 Js 33.004/81), wonach gegen den
Kläger wegen fahrlässiger Körperverletzung eine Geldstrafe von 14 Tagessätzen a
40,-- DM verhängt wurde. Auch hier lag ein Verkehrsunfall zugrunde.
Mit Urteil des Landgerichts ... vom 21. Oktober 1982 (6 KLs 219 Js 7000/82) --
rechtskräftig seit 8. Juni 1983 -- wurde der Kläger wegen eines gemeinschaftlichen
Vergehens des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln zu einer
Freiheitsstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten verurteilt; zugleich wurde ihm
die Fahrerlaubnis mit einer Sperrfrist von vier Jahren entzogen. Dieser Verurteilung
lag zugrunde, daß der Kläger am Abend des 20. April 1982 in ... festgenommen
wurde, als er bei einem Treffen mit einem Scheinaufkäufer des ...
Landeskriminalamtes diesem insgesamt ca. 157 g Heroin gegen einen Kaufpreis
von 23.000,-- DM übergeben wollte. Außerdem bot er diesem die Lieferung von 1
1/2 kg Haschisch für 8.000,-- DM am nächsten Tag an. Der Kläger war geständig.
Seine Strafe verbüßte der Kläger zunächst in der Justizvollzugsanstalt ... und
später in der Justizvollzugsanstalt ...; am 30. April 1987 wurde er nach Verbüßung
von zwei Dritteln dieser Strafe unter Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung
entlassen. Die Bewährungszeit läuft am 26. März 1990 ab.
Mit Verfügung vom 10. April 1984 wies der Landrat des W-kreises in F -- nachdem
der Kläger und dessen Ehefrau mit Schreiben der Ausländerbehörde des S-Kreises
vom 27. Dezember 1983 zu der beabsichtigten Ausweisung angehört worden
waren -- den Kläger unter Bezugnahme auf § 10 Abs. 1 Nr. 2 AuslG für dauernd
aus der Bundesrepublik Deutschland einschließlich Berlin (West) aus. Zur
Begründung ist im wesentlichen auf den Sachverhalt, der der Verurteilung durch
das Landgericht ... zugrunde liegt, verwiesen, der den Ausweisungstatbestand des
§ 10 Abs. 1 Nr. 2 AuslG erfülle. Die Ausweisung sei sowohl aus generalpräventiven
als auch aus spezialpräventiven Gründen geboten. Die Begehensweise des Delikts
lasse befürchten, daß der Kläger nach Haftentlassung erneut einschlägig straffällig
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lasse befürchten, daß der Kläger nach Haftentlassung erneut einschlägig straffällig
werde, zumal er erhebliche Schulden habe. Die nach den früheren Verurteilungen
ausgesprochene Warnung habe der Kläger unbeachtet gelassen. Gegenüber der
Ausweisung könne er sich auch nicht auf den durch Art. 6 Abs. 1 GG gewährten
Schutz von Ehe und Familie berufen, denn diese staatliche Schutzpflicht trete
jedenfalls dann zurück, wenn die Straftat besonders schwer wiege und deshalb ein
dringendes Bedürfnis bestehe, die Ausweisung zum Anlaß zu nehmen, um andere
Ausländer von der Begehung vergleichbarer Straftaten abzuschrecken. Die
Familienbeziehung könne notfalls über Besuchsreisen aufrechterhalten werden;
ebenso sei eine kurzfristige Einreise für eventuell notwendig werdende ärztliche
Maßnahmen in Zusammenhang mit der Unterschenkelprothese möglich. Nach
derzeitigem Erkenntnisstand komme vorerst eine Befristung der Wirkung der
Ausweisung nicht in Betracht.
Gegen die ihm am 11. April 1984 ausgehändigte Ausweisungsverfügung wandte
sich der Kläger mit am 5. Mai 1984 eingegangenem Schreiben, das der Beklagte
als Widerspruch wertete; zur Begründung verwies er erneut auf die
schwerwiegenden Folgen für die Familie und seine gesundheitlichen Probleme. Die
erforderliche regelmäßige ärztliche Betreuung sei nur in der Bundesrepublik
Deutschland gewährleistet. Seine Straftat habe er, wie sein umfassendes
Geständnis zeige, bereut; die Schulden habe er abbezahlt, so daß für ein
Rückfälligwerden überhaupt keine Anhaltspunkte mehr bestünden.
Diesen Widerspruch wies der Regierungspräsident in Darmstadt mit
Widerspruchsbescheid vom 18. Dezember 1985, dem Kläger persönlich
ausgehändigt am 19. Dezember 1985, zurück; die Ausweisungsverfügung sei
rechtlich nicht zu beanstanden. Die Ausländerbehörde habe zutreffend im Hinblick
auf die Verurteilung des Klägers wegen eines schwerwiegenden Rauschgiftdelikts
das Vorliegen eines Ausweisungstatbestandes bejaht und im übrigen die
Ausweisung sowohl aus spezial- als auch generalpräventiven Gründen für geboten
erachtet. Der aus Art. 6 Abs. 1 und 2 GG abgeleitete Schutz von Ehe und Familie
müsse -- trotz der deutschen Staatsangehörigkeit der Ehefrau und der Kinder --
hier angesichts der Schwere des Tatvorwurfs hinter das öffentliche Interesse an
einer dauernden Fernhaltung des Klägers vom Gebiet der Bundesrepublik
Deutschland zurücktreten.
Hiergegen erhob der Kläger mit am Montag, dem 20. Januar 1986,
eingegangenem Schriftsatz seiner Bevollmächtigten Klage, die im wesentlichen
damit begründet wurde, daß die Verwicklung in den Rauschgifthandel, der dem
Urteil des Landgerichts ... zugrunde liege, letztlich auf intensives Drängen eines V-
Mannes einerseits und seines entfernten Onkels ..., der das Rauschgift eingeführt
habe, andererseits in Verbindung mit seiner damals schlechten finanziellen Lage
zurückzuführen gewesen sei. Er werde keinesfalls wieder straffällig;
generalpräventive Gründe hätten hinter der gebotenen Rücksichtnahme auf die
Interessen der Familie zurückzutreten.
Der Kläger beantragte,
die Verfügung des Landrats des W-kreises vom 10. April 1985 und den
Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidenten in D vom 18. Dezember 1985
aufzuheben.
Der Beklagte beantragte,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung bezog er sich auf den Inhalt der angefochtenen Bescheide.
Mit Gerichtsbescheid vom 2. Oktober 1986 -- vor dessen Erlaß die Beteiligten
gehört wurden -- hob das Verwaltungsgericht Darmstadt die in den angefochtenen
Bescheiden enthaltene Abschiebungsandrohung auf und wies im übrigen die Klage
ab. Zur Begründung ist ausgeführt, daß die Abschiebungsandrohung wegen der
darin enthaltenen widersprüchlichen Fristsetzungen rechtswidrig und damit
aufzuheben sei, während die Ausweisungsverfügung selbst der rechtlichen
Nachprüfung standhalte. Die spezial- und generalpräventiv motivierte Ausweisung
sei insbesondere nicht unverhältnismäßig.
Gegen diese ihm am 10. Oktober 1986 zugestellte Entscheidung hat der Kläger
am 10. November 1986 Berufung eingelegt. Zu deren Begründung trägt er --
neben der Vertiefung seines Vorbringens im bisherigen Verfahren, insbesondere
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neben der Vertiefung seines Vorbringens im bisherigen Verfahren, insbesondere
hinsichtlich der Umstände, die ihn letztlich zur Beteiligung an der Straftat gebracht
hätten -- insbesondere vor, daß die Ausweisung auch deswegen unzulässig sei,
weil er bei einer Rückkehr in die Türkei mit einem erneuten Strafverfahren und mit
einer Verurteilung zum Tode rechnen müsse. Da der Ausländerbehörde die
entsprechenden türkischen Strafrechtsnormen bekannt seien, habe sie dies bei
Erlaß ihrer Verfügung berücksichtigen müssen. Gegen ihn sei, wie sich aus dem
entsprechenden Rechtshilfeersuchen des Gerichts in E. ergebe, aufgrund dessen
er am 21. Januar 1986 durch das Amtsgericht ... wegen des Verdachts der Ausfuhr
von Betäubungsmitteln aus der Türkei vernommen worden sei, in der Türkei ein
Ermittlungsverfahren anhängig. Dieser Umstand habe bereits bei der
Entscheidung über die Ausweisung selbst berücksichtigt werden müssen, nicht nur
bei der Frage, ob eine Abschiebung in die Türkei tatsächlich durchgeführt werden
könne.
Der Kläger beantragt,
die Ausweisungsverfügung vom 10. April 1984 in der Fassung des
Widerspruchsbescheids des Regierungspräsidenten in D vom 18. Dezember 1985
unter Abänderung des Gerichtsbescheids des Verwaltungsgerichts Darmstadt vom
2. Oktober 1986 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Zur Begründung nimmt er auf die Entscheidung des Verwaltungsgerichts
Darmstadt Bezug. Konkrete Anhaltspunkte für eine drohende Doppelbestrafung
bestünden im vorliegenden Fall nicht.
Das Gericht hat zu der Frage der drohenden Doppelbestrafung in der Türkei eine
Stellungnahme des Auswärtiges Amtes eingeholt; auf die Auskunft vom 29.
November 1989 (Bl. 100 ff. d.A.) wird verwiesen.
Nachdem mit Verfügung der Ausländerbehörde vom 8. April 1987 die sofortige
Vollziehung der Ausweisungsverfügung angeordnet worden war, hat der Senat auf
Antrag des Klägers mit Beschluß vom 17. Januar 1990 (12 R 1789/87) die
aufschiebende Wirkung der Klage wiederhergestellt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der
Beteiligten wird auf den Inhalt der Streitakte, der beigezogenen Akten des
Eilverfahrens 12 R 1789/87, der beigezogenen Behördenakten (vier geheftete
Vorgänge der Ausländerbehörde, ein Vorgang des Regierungspräsidenten in
Darmstadt) sowie der Akten des Landgerichts ... 219 Js 7000/82 (drei Bände)
verwiesen, ebenso auf die im Eilverfahren 12 R 1789/87 in Bezug genommenen
Unterlagen betreffend die Doppelbestrafung in der Türkei; sämtliche Akten sind
zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht worden.
Entscheidungsgründe
Die frist- und formgerecht eingelegte und auch sonst zulässige (§§ 124, 125
VwGO) Berufung des Klägers ist auch begründet. Das Verwaltungsgericht hat die --
fristgerecht erhobene -- Klage gegen die Ausweisungsverfügung des Landrats des
W-kreises vom 10. April 1984 in der Fassung des Widerspruchsbescheids des
Regierungspräsidenten in D vom 18. Dezember 1985 zu Unrecht abgewiesen.
Diese Ausweisungsverfügung ist allein Gegenstand des Berufungsverfahrens,
nachdem das Verwaltungsgericht der Klage hinsichtlich der in der Verfügung vom
10. April 1984 enthaltenen Abschiebungsandrohung stattgegeben und hiergegen
der Beklagte kein Rechtsmittel eingelegt hat. Auch die zusammen mit der
Sofortvollzugsanordnung vom 8. April 1987 ergangene erneute
Abschiebungsandrohung ist nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens; daß
über den hiergegen eingelegten Widerspruch zwischenzeitlich entschieden worden
wäre, ist nicht ersichtlich.
Die Ausweisungsverfügung vom 10. April 1984 ist rechtswidrig und verletzt den
Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO); dabei ist bei Beurteilung der
Sach- und Rechtslage auf den Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung
abzustellen, da es sich hier um eine Anfechtungsklage handelt (vgl. BVerwG,
16.10.1989 -- 1 B 106.89 -- m.w.N.; Kopp, VwGO, 8. Auflage, RdNr. 23 zu § 113).
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16.10.1989 -- 1 B 106.89 -- m.w.N.; Kopp, VwGO, 8. Auflage, RdNr. 23 zu § 113).
Hieran ändert der Umstand nichts, daß der Kläger mit einer Deutschen verheiratet
ist (so auch BVerwG, 20.05.1980 -- 1 C 82.76 --, BVerwGE 60, 133 = EZAR 120 Nr.
20, unter Aufgabe seiner anderslautenden früheren Rechtsprechung).
Rechtsgrundlage der Entscheidung über die Ausweisung ist § 10 Abs. 1 Nr. 2
AuslG. Danach kann ein Ausländer ausgewiesen werden, wenn er wegen einer
Straftat verurteilt worden ist. Der Kläger erfüllt diesen Tatbestand, denn er ist mit
Urteil des Landgerichts ... vom 21. Oktober 1982 (6 KLs 219 Js 7000/82) wegen
gemeinschaftlichen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln zu einer
Freiheitsstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten verurteilt worden, von der er
zwei Drittel verbüßt hat.
Die Ausweisung ist bei Vorliegen des gesetzlichen Tatbestandes des § 10 Abs. 1
Nr. 2 AuslG allerdings keine zwingende Folge. Vielmehr steht sie im
pflichtgemäßen Ermessen der Ausländerbehörde, die aufgrund einer Abwägung
der öffentlichen Interessen mit denen des Ausländers prüfen muß, ob die
Ausweisung geboten ist. Diese Ermessensentscheidung der Ausländerbehörde ist
von den Verwaltungsgerichten nur auf Rechtsfehler überprüfbar, namentlich also
daraufhin, ob die Behörde dem Zweck der Ermächtigung entsprechend und unter
Beachtung der Grundrechte und der in ihnen verkörperten Wertordnung sowie des
Rechtsstaatsprinzips, insbesondere des sich aus diesem herleitenden Grundsatzes
der Verhältnismäßigkeit, gehandelt hat (vgl. Hess.VGH, 07.11.1988 -- 13 UE
1601/86 -- m.w.N.).
In Rechtsprechung und Literatur ist anerkannt, daß generalpräventive Erwägungen
eine Ausweisungsverfügung tragen können, um dadurch auf andere Ausländer
abschreckend einzuwirken und diese zu gesetzeskonformen Verhalten anhalten zu
können (vgl. Hess.VGH, 28.03.1988 -- 12 TH 4107/87 -- m.w.N.); dies gilt
hinsichtlich besonders schwerwiegender Verstöße bei bestimmten Deliktsgruppen
(vgl. BVerwG, 03.05.1983 -- 1 C 33.72 --, BVerwGE 42, 133). Zu diesen
schwerwiegenden Straftaten zählen vor allem auch Rauschgiftdelikte; sie
rechtfertigen -- insbesondere wenn es sich um den Handel mit dem besonders
gefährlichen Heroin handelt -- grundsätzlich die Ausweisung aus
generalpräventiven Erwägungen, um andere im Bundesgebiet lebende Ausländer
von vergleichbaren, im besonderen Maße sozialschädlichen Straftaten abzuhalten
(BVerwG, 06.04.1989 -- 1 C 70.86 --, EZAR 122 Nr. 10 = NVwZ 1989, 768;
Hess.VGH, 18.09.1989 -- 12 UE 2865/86 --; Hess.VGH, 16.02.1990 -- 12 TH
2322/89 -- m.w.N.), was in schwerwiegenden Fällen sogar im Falle einer
Verheiratung mit einem deutschen Partner gilt (vgl. BVerfG, 18.07.1979 -- 1 BvR
658/77 --, BVerfGE 51, 386 = EZAR 123 Nr. 2 = DVBl. 1980, 189 = NJW 1980,
514). Allerdings ist dabei eine schematische Betrachtung dieser Gesichtspunkte
nicht vorzunehmen, sondern es sind die Wertordnung des Grundgesetzes und
dessen Prinzipien, insbesondere der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, zu
berücksichtigen (BVerfG, 17.01.1979 -- 1 BvR 241/77 --, BVerfGE 50, 166 = EZAR
122 Nr. 1; BVerfG, 18.07.1979, a.a.O.; BVerwG, 01.12.1987 -- 1 C 22.86 --, EZAR
120 Nr. 12).
Danach ist nicht zu beanstanden, daß der Beklagte zur Begründung der
Ausweisung generalpräventive Erwägungen -- und diese sind alternativ zu den
spezialpräventiven angeführt -- herangezogen und die Ausweisung danach auch
bei Berücksichtigung der Familiensituation des Klägers für geboten erachtet hat.
Ob vorliegend die Ausweisung zusätzlich -- wie das Verwaltungsgericht meint --
auch auf spezialpräventive Erwägungen gestützt werden kann, kann letztlich offen
bleiben. Zwar sind einerseits bei gefährlichen, nur schwer zu bekämpfenden
Straftaten wie Rauschgiftdelikten die Anforderungen an einen hinreichenden
spezialpräventiven Anlaß für die Ausweisung grundsätzlich nicht hoch anzusetzen
(BVerwG, 01.12.1987 -- 1 C 22.86 --, EZAR 120 Nr. 12), jedoch könnten vorliegend
die Art und Weise der Verstrickung des Klägers in die Straftat, sein Verhalten nach
Festnahme, seine familiäre Anbindung und der Umstand, daß die Schulden, die
Anlaß für die Straftat waren, zurückgezahlt wurden, Anhaltspunkte sein, die
Wahrscheinlichkeit neuer Verfehlungen eher in Frage zu stellen.
Dies alles kann letztlich deswegen dahingestellt bleiben, weil sich die
Ermessenserwägungen der Ausländer- und auch der Widerspruchsbehörde aus
einem anderen Grund als unzureichend erweisen mit der Folge, daß von der
Rechtswidrigkeit der Ausweisungsverfügung auszugehen ist. Die Behörden haben
nämlich die Frage der Doppelbestrafung des Klägers bei einer Rückkehr in die
Türkei bei dem ihnen eröffneten Ausweisungsermessen in keiner Weise erkennbar
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Türkei bei dem ihnen eröffneten Ausweisungsermessen in keiner Weise erkennbar
in die Erwägungen einbezogen oder berücksichtigt. Die im pflichtgemäßen
Ermessen der Ausländerbehörde stehende Anordnung der Ausweisung erfordert
eine Abwägung sämtlicher die Entfernung des Ausländers aus der Bundesrepublik
Deutschland rechtfertigenden öffentlichen Interessen gegen die für seinen Verbleib
sprechenden Gründe. Bei dieser Abwägung ist auch eine zusätzliche Bestrafung in
seinem Heimatland bis hin zur Verhängung und Vollstreckung der Todesstrafe zu
berücksichtigen, wenn dafür konkrete und ernsthafte Anhaltspunkte bestehen (vgl.
BVerwG, 01.12.1987 -- 1 C 29.85 --, BVerwGE 78, 285 = EZAR 120 Nr. 11 =
InfAuslR 1988, 34; Hess.VGH, 08.01.1990 -- 12 TH 1801/88 --; Hess.VGH,
16.02.1990 -- 12 TH 2322/89 --).
Entgegen der Auffassung des Beklagten bestehen vorliegend derartige konkrete
und ernsthafte Anhaltspunkte für die Befürchtung, der Kläger werde wegen des
von ihm begangenen Rauschgiftdeliktes in der Türkei nochmals strafrechtlich
verurteilt, wobei für derartige Straftaten (Art. 403 TStGB) sogar Todesstrafen
verhängt und gegebenenfalls vollstreckt werden können.
Zwar hindert eine drohende Doppelbestrafung als solche die Ausweisung und
Abschiebung eines Ausländers aus dem Bundesgebiet grundsätzlich nicht. Denn
Art. 103 Abs. 3 GG steht einer Bestrafung eines im Bundesgebiet Verurteilten
wegen derselben Tat durch einen anderen Staat nicht entgegen. Diese Vorschrift
besagt lediglich, daß jemand nicht nochmals von einem deutschen Gericht
verurteilt werden darf, nachdem bereits ein Strafverfahren vor einem deutschen
Gericht abgeschlossen ist (vgl. OVG Hamburg 02.12.1985 -- Bs V 227/85 --, EZAR
130 Nr. 3 = InfAuslR 1986, 34). Dem steht auch nicht entgegen, daß nach § 9 Abs.
1 des Gesetzes über die Internationale Rechtshilfe in Strafsachen -- IRG -- vom 23.
Dezember 1982 (BGBl. I S. 2071) eine Auslieferung wegen einer Tat, deretwegen in
der Bundesrepublik Deutschland ein Strafverfahren abgeschlossen wurde,
ausgeschlossen ist. Dies ist eine spezifisch auf das Auslieferungsrecht
zugeschnittene Norm; es soll nicht zu dem Zweck ausgeliefert werden, eine
Verurteilung zu erreichen, die bei Verbleib im Inland nicht mehr möglich wäre. Der
Zweck der Ausweisung und deren Vollziehung nach dem Ausländergesetz ist es
dagegen, die nachhaltige Beeinträchtigung von Belangen der Bundesrepublik
Deutschland zu unterbinden, wobei der Betroffene gegebenenfalls in Kauf nehmen
muß, daß gegen ihn im Ausland strafrechtliche Maßnahmen verhängt werden,
jedenfalls solange diese nicht Grundprinzipien der deutschen Rechtsordnung
zuwiderlaufen (vgl. OVG Hamburg, a.a.O.).
Ungeachtet dessen ist jedoch -- wie der Kläger zu Recht geltend macht -- die
Gefahr einer Bestrafung bis hin zur Verhängung und Vollstreckung der Todesstrafe
bei der Ausübung des Ausweisungsermessens zu berücksichtigen und nicht nur
unter den Voraussetzungen des § 14 Abs. 1 Satz 1 AuslG bei der Abschiebung
(vgl. BVerwG, 01.12.1987 -- 1 C 22.86 --, a.a.O.; Hess.VGH, 18.09.1989 -- 12 UE
2865/86 --). Der Ausweisung kommt nämlich gegenüber der Abschiebung
selbständige Bedeutung zu, weil der zukünftige Aufenthaltsstaat noch nicht
festgelegt wird. Eine Verbindung besteht insoweit, als dann, wenn der Ausländer
seiner Verpflichtung zur unverzüglichen Ausreise nicht nachkommt (§ 12 Abs. 1
Satz 2 AuslG), die Abschiebung nach § 13 Abs. 1 AuslG eingeleitet wird, am Beginn
der Kette von Maßnahmen zur Entfernung des Ausländers aus dem Bundesgebiet
aber die Ausweisung steht. Die Ausreise des Ausländers in Drittstaaten ist nur mit
deren Zustimmung möglich, die gerade wegen der der Ausweisung nach § 10 Abs.
1 Nr. 2 AuslG zugrundeliegenden Gründe -- insbesondere bei Rauschgifttaten -- im
Regelfall nicht zu erwarten ist, so daß voraussichtlich nur der Heimatstaat zur
Aufnahme bereit ist. Dann aber gebietet eine sachgerechte Interessenabwägung,
auch einen derartigen faktischen "Zugzwang" schon im Rahmen des
Ausweisungsermessens zu berücksichtigen (BVerwG, 01.12.1987 -- 1 C 29.85 --,
a.a.O.; Bay.VGH, EZAR 221 Nr. 27 = InfAuslR 1986, 243). Bei ihrer im Rahmen
ihrer Ermessensentscheidung vorzunehmenden Prüfung, ob dem Ausländer die
Gefahr einer Bestrafung bis hin zur Todesstrafe droht, haben sich die
Ausländerbehörden aller vorhandenen Erkenntnisquellen zu bedienen. Sie haben
insbesondere zu berücksichtigen, in welchem Maß mit dem Eintritt der
bevorstehenden Nachteile und Zugriffe zu rechnen ist. Bei einer Verurteilung
wegen Rauschgifttaten kommt der umfassenden Abwägung der für und gegen die
Ausweisung sprechenden Umstände eine besondere Bedeutung zu. Ist im
Heimatland des Ausländers eine derartige Tat mit der Todesstrafe bewehrt, so ist
dies eine strafrechtliche Maßnahme, die der Wertordnung und den Grundprinzipien
der deutschen Rechtsordnung zuwiderläuft. Nach Art. 102 GG ist die Todesstrafe
abgeschafft. Die darin zum Ausdruck kommende grundsätzliche Einstellung zum
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abgeschafft. Die darin zum Ausdruck kommende grundsätzliche Einstellung zum
Wert des Menschenlebens (BVerfG, 30.06.1964 -- 1 BvR 93/64 -- BVerfGE 18, 122;
BVerfG, 04.05.1982 -- 1 BvR 1457/81 --, BVerfGE 60, 348 = EZAR 150 Nr. 2) -- die
im Auslieferungsrecht durch § 8 IRG inzwischen weitgehend zur Geltung gebracht
wurde -- ist in jedem Stadium des Verfahrens zu beachten. Zum einen kann dabei
der Zeitfaktor zwischen Ausweisung und Abschiebung eine Rolle spielen, zum
anderen können die in einem Land zu erwartenden Nachteile an Gewicht verlieren,
wenn die Abschiebung in ein Drittland möglich erscheint.
Im vorliegenden Fall ist von folgender Rechtslage in der Türkei auszugehen:
Gemäß Art. 3 Abs. 1 TStGB wird ein Türke, der in der Türkei eine Straftat begeht,
ihretwegen auch dann verurteilt, wenn er bereits im Ausland für diese Tat verurteilt
worden ist. Nach Art. 403 Abs. 1 bis 7 TStGB wird mit lebenslänglichem Zuchthaus
oder -- bei qualifizierenden Tatbestandsmerkmalen -- mit dem Tode bestraft, wer
Heroin ohne Erlaubnis herstellt, ein- oder ausführt und im Lande verbreitet. Wird
also ein türkischer Staatsangehöriger in der Bundesrepublik wegen eines
Rauschgiftdelikts verurteilt und hat die Tat einen räumlichen Bezug zu der Türkei,
ist im Hinblick auf Art. 3 Abs. 1 TStGB zu gewärtigen, daß er in der Türkei noch
einmal bestraft wird, gegebenenfalls beim Vorliegen qualifizierender
Tatbestandsmerkmale mit dem Tode. Gemäß Art. 5 TStGB muß ein türkischer
Staatsangehöriger außerdem in der Türkei bestraft werden, wenn er im Ausland
eine Straftat begangen hat, die nach dem türkischen Gesetz mit einer
Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren zu bestrafen ist, wenn er im Ausland nicht
verfolgt wurde (vgl. Yenisey, Die rechtliche Stellung des im Ausland straffällig
gewordenen Türken in der Türkei, InfAuslR 1988, 125 <127>).
Ausgehend von dieser Rechtslage wären der Beklagte und der
Regierungspräsident in D auch im vorliegenden Fall verpflichtet gewesen, bei der
Betätigung ihres Ausweisungsermessens diesem Umstand Rechnung zu tragen.
Denn bei Rauschgiftdelikten der vorliegenden Art (Handel mit Heroin) wurden in
der Vergangenheit durchaus Todesstrafen verhängt, auch wenn diese nach
Auskünften des Auswärtigen Amtes allerdings seit 1984 nicht mehr vollstreckt
wurden. Ob eine Vollstreckung zukünftig in derartigen Fällen ausgeschlossen ist
und eine Umwandlung in eine lebenslange Freiheitsstrafe erfolgt, ist im Hinblick auf
eine im September 1989 vom türkischen Justizministerium vorgeschlagene
Änderung des Art. 87 TStGB offen (vgl. die eingeholte Auskunft des Auswärtigen
Amtes vom 29.11.1989, 3.; Auswärtiges Amt an OVG Lüneburg vom 16.08.1989;
Auswärtiges Amt an OVG Nordrhein-Westfalen vom 15.11.1989).
Zwar konnten diese neuesten Erkenntnisse den entscheidenden Behörden
ebensowenig bekannt sein wie der Umstand, daß gegen den Kläger in der Türkei
ein Ermittlungsverfahren eingeleitet worden ist, aufgrund dessen er am 21. Januar
1986 im Rahmen eines Rechtshilfeersuchens angehört worden ist; jedoch lagen
schon vor dem Erlaß des Widerspruchsbescheids am 18. Dezember 1985
Informationen vor, die die Behörden hätten veranlassen können und müssen,
diesen Gesichtspunkt in ihre Abwägung einzustellen. Bei der einem Rauschgifttäter
in seinem Heimatland drohenden erneuten Bestrafung bis hin zur Todesstrafe
handelt es sich nämlich nicht um einen ausschließlich den persönlichen
Lebensbereich des Ausländers betreffenden Umstand, dem -- wenn nicht vom
Ausländer selbst in das Verfahren eingeführt -- nach der Rechtsprechung die
Behörde von Amts wegen nicht nachzugehen brauchte (vgl. BVerwG, 01.12.1987 --
1 C 29.85 --, a.a.O., unter Hinweis auf 10.05.1985 -- 1 B 51.85 --, Buchholz 402.24
§ 10 AuslG Nr. 108).
Hier hätte Anlaß für die Behörden, die Gefahr einer erneuten Bestrafung in die
Ermessensabwägung einzubeziehen, insbesondere deswegen bestanden, weil das
Rauschgiftdelikt, an dem der Kläger beteiligt war, einen eindeutigen "Türkeibezug"
aufwies; sämtliche Mittäter waren türkische Staatsangehörige, und das Rauschgift
ist von der Türkei in die Bundesrepublik Deutschland eingeführt worden. Daß der
türkische Staat dem besondere Aufmerksamkeit schenkt, wird nicht zuletzt durch
das eingeleitete Strafverfahren und das Rechtshilfeersuchen deutlich. Insofern liegt
der vorliegende Fall anders als der Sachverhalt, der der von dem Beklagten
herangezogenen Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 6. April 1989
(1 C 70.86, EZAR 122 Nr. 10) zugrundeliegt. Dort war gerade festgestellt worden,
daß der Kläger nach türkischem Strafrecht, wie es auch in der Praxis gehandhabt
wird, wegen fehlenden "Türkeibezugs" seiner Verfehlung keine neue Bestrafung zu
erwarten habe.
Nachdem der Senat eine Auskunft des Auswärtigen Amtes eingeholt hat, aus der
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Nachdem der Senat eine Auskunft des Auswärtigen Amtes eingeholt hat, aus der
sich ergibt, daß das gegen den Kläger eingeleitete Verfahren in der Türkei noch
anhängig ist, ist nicht ersichtlich, welche zusätzlichen Erkenntnismittel der Senat
noch heranziehen könnte, um die behördliche Einschätzung zu überprüfen (vgl.
BVerwG, 16.10.1989 -- 1 B 106.89 --) bzw. zu der sicheren Gewißheit zu gelangen,
daß dem Kläger keine erneute Bestrafung in der Türkei droht.
Nach alledem ist auf die Berufung des Klägers der angefochtene Gerichtsbescheid
dahin abzuändern, daß die Ausweisungsverfügung des Beklagten und der
Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidenten in Darmstadt aufzuheben sind.
Die Revision gegen dieses Urteil ist nicht zuzulassen, weil Zulassungsgründe nicht
gegeben sind (§ 132 Abs. 2 VwGO); insbesondere weicht der Senat -- wie oben
dargelegt -- nicht von den in den Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts
vom 1. Dezember 1987 (-- 1 C 29.85 --, a.a.O. und -- 1 C 22.86 --, a.a.O.) und vom
6. April 1989 (-- 1 C 70.86 --, a.a.O.) dargelegten Rechtsgrundsätzen ab.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.