Urteil des HessVGH vom 31.10.2003
VGH Kassel: jugend, stadt, erlass, ausweisung, prostitution, örtliche zuständigkeit, ermächtigung, prostituierte, wahrscheinlichkeit, hessen
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Gericht:
Hessischer
Verwaltungsgerichtshof
11. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
11 N 2952/00
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
Art 297 StGBEG, § 47 Abs 2
S 1 VwGO
(Straßenprostitution; Sperrgebiet; Anlieger einer Straße in
einer sog. Toleranzzone)
Leitsatz
Zur Antragsbefugnis nach § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO des Anliegers eines in einer
Sperrgebietsverordnung als Toleranzzone für die Straßenprostitution ausgewiesenen
Straßenzugs.
Es bleibt offen, ob das allgemeine Rechtsschutzbedürfnis des Anliegers einer
Toleranzzone innerhalb eines Sperrgebiets auch die gerichtliche Überprüfung der
Festsetzung des gesamten Sperrgebiets umfaßt.
Die Ausweisung einer bisherigen faktischen Toleranzzone als Verbotszone und die
Festlegung eines neuen Toleranzbereichs für die Ausübung der Straßenprostitution
entspricht dem Normzweck des Art. 297 Abs. 1 Nr. 3 EGStGB, wenn dies dem Schutze
der Jugend oder des öffentlichen Anstandes besser zu dienen geeignet ist als dies vor
Erlass der Sperrgebietsverordnung der Fall war, und dadurch für den Anlieger des
neuen Toleranzbereichs keine unzumutbaren Beeinträchtigungen hervorgerufen
werden.
Die Erkenntnis des Verordnungsgebers, dass ein bestimmtes Stadtgebiet nicht als
Toleranzgebiet für die Aufnahme der Straßenprostitution geeignet ist, hat nicht ohne
weiteres zur Folge, dass dessen Ausweisung als Sperrgebiet erforderlich ist. Hinzutreten
muss vielmehr eine der Ausweisung vorangehende, positive Einschätzung eines
Gefährdungspotentials von hinreichender Wahrscheinlichkeit, derzufolge das
ordnungsrechtliche Verbot der Prostitutionsausübung zum Schutze der Jugend oder des
öffentlichen Anstandes notwendig erscheint. Hierfür reichen nachvollziehbare, auf
allgemeine Erfahrungssätze gestützte Erwägungen aus.
Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
Die Antragstellerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Antragstellerin darf
die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der vollstreckbaren Kosten
abwenden, sofern nicht der Antragsgegner vor der Vollstreckung Sicherheit in
entsprechender Höhe leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Antragstellerin wendet sich gegen die Gültigkeit der am 1. Mai 2000 verkündeten
Verordnung zum Schutze der Jugend und des öffentlichen Anstandes in Darmstadt
vom 4. April 2000 (StAnz. S. 1409). Diese Verordnung hat folgenden Wortlaut:
Aufgrund des Art. 297 des Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch (EGStGB)
vom 2. März 1974 (BGBl. I S. 469), zuletzt geändert durch Gesetz vom 26. Januar
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vom 2. März 1974 (BGBl. I S. 469), zuletzt geändert durch Gesetz vom 26. Januar
1998 (BGBl. I S. 160, 161) in Verbindung mit § 1 der Verordnung zur Übertragung
der Ermächtigung zum Erlass von Rechtsverordnungen aufgrund des Art. 297 des
Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch vom 5. August 1975 (GVBl. I. S. 195)
wird zum Schutze der Jugend und des öffentlichen Anstandes Folgendes verordnet:
§ 1
(1) In der Stadt Darmstadt ist es innerhalb des wie folgt begrenzten Gebietes
verboten, auf öffentlichen Straßen, Wegen, Plätzen, in öffentlichen Anlagen und an
sonstigen Orten, die von dort aus eingesehen werden können, der Prostitution
nachzugehen:
Frankfurter Landstraße (B 3)/Zeissweg, Zeissweg, Merianstraße, In der Hahnhecke,
landwirtschaftlicher Weg zur Messeler-Park-Straße, gedachte Linie Ecke
landwirtschaftlicher Weg/Messeler-Park-Straße zur Ecke Dompfaffweg/Am
Hasenpfad. Dompfaffweg, B 3, gedachte Linie südöstlich über äußere
Bebauungsgrenzen von Obere Mühlstraße – Kalkofenweg – Am Bruderhaus –
Rodgaustraße – Messeler Straße zur Jägertorstraße/Wachtelweg, Wachtelweg,
Parkstraße, Matratzenweg, Kranichsteiner Straße bis Forsthaus Kranichstein, um
das Jagdschloss Kranichstein herum zurück zur Kranichsteiner Straße,
Kranichsteiner Straße, Fußweg Rückseite Steineckeweg, Waldrand, Bogenweg,
Pfannmüllerweg, Kranichsteiner Straße, An der Fasaneriemauer, gedachte Linie
südlich über Seitersweg – Scheftheimer Weg – Katharinenfalltorweg – Erbacher
Straße zur Ecke Hanauer Straße (B 26) /Heinrichstraße, Heinrichstraße,
Schnampelweg bis Vivarium, westlich zur Petersenstraße, Petersenstraße,
Böllenfalltorweg, Klappacher Straße, Alte Bogenschneise, Auf der Marienhöhe,
Steckenbornweg, Kühruhweg (Frankensteinschule), gedachte Linie südlich über
Ostgrenze Mühltalbad in der Mühltalstraße zur Gernsheimer Straße (B 426),
Gernsheimer Straße, Karlsruher Straße, Pfungstädter Straße, Marienburgstraße,
Waldschneise, Karlsruher Straße, Grenzweg, Eichbaumschneise, Eschollbrücker
Straße, Langefeldschneise, Bergschneise, Rheinstraße (Radweg), Kellerweg,
Ginsterweg, An der Posch, Rheinstraße, A 5, A 672, Rheinstraße (Radweg), Am
Waldfriedhof, Eifelring, Waldrand, Darmbach, Mainzer Straße, gedachte Linie
nordwestlich von Bunsenstraße und Zentralkläranlage, Gräfenhäuser
Straße/Anliegerfahrbahn, Am Weselacker, B 3 neu, Weiterstädter Straße,
Röntgenstraße, Auf der Sommeraue, B 3 neu, Bahntrasse Frankfurt,
Trinkbornstraße, südliche Verlängerung Brückengasse, In den Niederwiesen, Hinter
den Gehren, Brühlwiesengraben, Frankfurter Landstraße (B 3)/Zeissweg.
Die genannten Straßen und Wege sind Teile des Sperrgebietes, soweit sie es
begrenzen.
§ 2
(1) Von dem Verbot des § 1 ist das nachfolgend begrenzte Gebiet (Toleranzgebiet)
ausgenommen:
1. Bismarckstraße (Nordseite) - westlich des Grundstückes Nr. 107 bis zur
Einmündung in die A-Straße – sowie
2. A-Straße beidseitig – von der Einmündung in die Bismarckstraße bis zur
Einmündung in die Kreuzung Mainzer Straße/Landwehrstraße.
§ 3
Die Verordnung tritt vier Monate nach ihrer Verkündung im Staatsanzeiger für das
Land Hessen in Kraft.
Darmstadt, 4. April 2000
Regierungspräsidium Darmstadt
gez. Dieke
Regierungspräsident
Die Antragstellerin, ein .......unternehmen, betreibt unter der Geschäftsadresse „A-
Straße“ ihr Werk Darmstadt mit ca. 1.400 Mitarbeitern. Ihr Fabrikgelände sowie
sonstige zugehörige Liegenschaften befinden sich nördlich der zwischen den
Einmündungen A-Straße und Feldbergstraße verlaufenden Bismarckstraße und an
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Einmündungen A-Straße und Feldbergstraße verlaufenden Bismarckstraße und an
beiden Seiten der A-Straße bis zur Kreuzungsanlage Mainzer Straße / A-Straße /
Landwehrstraße. An der östlichen Seite der A-Straße, ca. 100 m von der
Abzweigung in die Bismarckstraße liegt der Haupteingangsbereich in das
Fabrikgelände, bestehend aus einer Pforte sowie einer rechts und links davon
befindlichen Ein- und Ausfahrt. Auf der gegenüberliegenden, der westlichen Seite
der A-Straße wird die Anliegerschaft der Antragstellerin nur durch das Gebäude
mit der Hausnummer ...... unterbrochen. Dort befinden sich Parkplätze,
Bürogebäude und Freiflächen.
Mit Schriftsatz vom 29. August 2000 hat die Antragstellerin den vorliegenden
Normenkontrollantrag gestellt. Zur Begründung führt sie aus, dass sich die in § 2
der angegriffenen Verordnung ausgewiesene Toleranzzone an ihrer
Geschäftsadresse als ansehensmindernd, geschäftsschädigend,
motivationshemmend und als belästigend, störend und gefährdend für sie und
ihre Beschäftigten, darunter auch ca. 200 Auszubildende, auswirke. Mit der
Straßenbezeichnung A-Straße verbinde sich demnächst die Assoziation mit dem
Prostituiertenmilieu. Es stünde zu erwarten, dass Beschäftigte und Besucher ihres
Betriebes, die das Gelände am Haupteingang in der A-Straße betreten wollen, von
Prostituierten und ihren Kunden belästigt werden und sich in ihrem sittlichen
Empfinden gestört fühlen. Das Kraftfahrzeugaufkommen auf der A-Straße habe
sich durch den Suchverkehr der Freier und Neugierige beträchtlich erhöht. Der
Haupteingangsbereich in das Werksgelände und die zugänglichen Freiflächen an
der Westseite der A-Straße würden dabei als Wendeplätze genutzt. Während früher
in der Umgebung ihres Betriebes nur vereinzelt Prostituierte anzutreffen gewesen
seien, habe sich dort deren Zahl seit dem Verordnungserlass verdoppelt.
Aufgefundenem Unrat und Beobachtungen des Werkschutzes der Antragstellerin
zufolge würden vor allem ihre in der Nähe des Güterbahnhofs gelegenen
Parkplätze von Freiern und Prostituierten aufgesucht, um dort geschlechtlich zu
verkehren oder auch um zu urinieren und ihre Notdurft zu verrichten. Außerdem
verbänden sich mit dem Straßenstrich als der untersten Form der
Prostitutionsausübung in kriminogener Hinsicht besonders schlimme
Begleiterscheinungen. Der Bereich der A-Straße / Bismarckstraße werde zur
Verabreichung von Drogen und zu Drogenhandelsgeschäften genutzt, und auch in
anderweitiger Hinsicht sei mit einer Steigerung des Kriminalitätsaufkommens zu
rechnen. Um die üblicherweise von der Prostituiertenszene ausgehenden
Störungen und Belästigungen einzudämmen, werde sie - die Antragstellerin -
veranlasst, Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Absehbar stelle sich ihr die Frage
nach der Verlagerung ihres Haupteingangsbereichs und der Änderung ihrer
Geschäftsadresse.
Die Antragstellerin sieht sich durch die geschilderten Umstände in den bisherigen
Nutzungsmöglichkeiten ihrer Liegenschaften unzumutbar beeinträchtigt. Darin
erblickt sie nicht nur einen Nachteil im Sinne des § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO a.F.,
sondern eine gegenwärtige und absehbare Verletzung ihrer subjektiven Rechte
gemäß § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO in der seit 1. Januar 1997 geltenden Fassung.
Geltend gemacht wird ein Verstoß gegen ihre Grundrechte aus Art. 2 Abs. 1 GG
und aus Art. 14 Abs. 1 GG. Ferner stünde ihr gegen die Antragsgegnerin aus § 1
Abs. 1 und 4 HSOG ein Anspruch auf Beseitigung der durch die angegriffene
Regelung verursachten und sie unmittelbar belastenden Störung der öffentlichen
Sicherheit und Ordnung zu. In der Sache rügt die Antragstellerin Ermessensdefizite
bei Erlass der angegriffenen Verordnung. Weder die Notwendigkeit einer
Sperrgebietsverordnung in Darmstadt noch die Möglichkeit eines Vollverbots der
Straßenprostitution sei hinreichend geprüft worden. Jedenfalls sei die Festsetzung
der Toleranzzone an der A-Straße auswahlfehlerhaft; durch sie werde die
Antragstellerin einseitig belastet.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Antragsschrift vom 29. August 2000,
die Schriftsätze des Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin vom 15. Januar
2001 und vom 13. Oktober 2003 sowie auf die Niederschrift der mündlichen
Verhandlung vom 14. Oktober 2003 verwiesen.
Die Antragstellerin beantragt,
die Verordnung des Antragsgegners zum Schutze der Jugend und des öffentlichen
Anstands in Darmstadt vom 4. April 2000 (StAnz. S. 1409) für nichtig zu erklären.
Der Antragsgegner beantragt,
den Normenkontrollantrag zurückzuweisen.
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Er hält den Antrag für unzulässig und unbeschadet dessen auch für unbegründet.
Der Antragstellerin fehle die erforderliche Antragsbefugnis nach § 47 Abs. 2 Satz 1
VwGO. Weder in rechtlicher noch in tatsächlicher Hinsicht sei eine mögliche
Beeinträchtigung der Antragstellerin im Hinblick auf Art. 2 oder Art. 14 GG
gegeben. Sie werde weder in den Nutzungsmöglichkeiten ihrer Grundstücke noch
in ihren Handlungsmöglichkeiten tangiert und befinde sich grundsätzlich in der
gleichen Situation wie andere Bevölkerungsteile oder Gewerbetreibende in
Bereichen eines Stadtgebiets, für die keine Verordnung erlassen worden sei mit
der Folge, dass überall der Prostitution nachgegangen werden könne. Die
Grundstücke der Antragstellerin selbst lägen nicht in der durch die Verordnung
festgesetzten Toleranz-, sondern in der Sperrgebietszone. Was etwaige, durch
Prostituierte und deren Kunden verursachte Belästigungen der Beschäftigten und
Besucher der Antragstellerin anbetreffe, so stelle dies keine Beeinträchtigung der
Antragstellerin in einer ihr zustehenden Rechtsposition dar und könne von ihr auch
nicht stellvertretend für andere geltend gemacht werden. Sofern die
Antragstellerin behaupte, die Ausweisung der Toleranzzone wirke sich für sie
ansehensmindernd, geschäftsschädigend, motivationshemmend und als
belästigend, störend und gefährdend aus, erschöpfe sich ihr Vortrag in
allgemeinen Befürchtungen, ohne dass objektive Tatsachen vorgetragen würden,
die eine Verletzung subjektiver Rechte möglich erscheinen ließen. Im übrigen
handele es sich dabei um rein wirtschaftliche bzw. ideelle Interessen, die keine
Antragsbefugnis vermittelten.
Im übrigen sei der Normenkontrollantrag auch unbegründet. Die angegriffene
Verordnung sei ordnungsgemäß zustande gekommen, halte sich im Rahmen der
Ermächtigungsgrundlage des Art. 297 EGStGB und verstoße nicht gegen
höherrangiges Recht. Sie beruhe auf einer sorgfältigen Abwägung zahlreicher
Gesichtspunkte, die vor und während des Rechtsetzungsverfahrens in diversen
Bestandsaufnahmen, Analysen, Erörterungen und Besprechungen gewonnen
worden seien. Dabei seien auch die im Laufe des Verordnungsverfahrens
vorgebrachten Bedenken der Antragstellerin berücksichtigt worden. Im Hinblick auf
die Zweckbestimmung der Ermächtigungsnorm habe sich der Verordnungsgeber
davon leiten lassen, wie den Belangen des Jugendschutzes und des öffentlichen
Anstandes am besten Rechnung getragen werden könne. Hierbei habe er
maßgeblich berücksichtigt, dass mit dem Verbot der Straßenprostitution im
gesamten bebauten Stadtgebiet und der Ausweisung einer klar eingegrenzten
Toleranzzone die Belastungen für die Bevölkerung insgesamt verringert und eine
Verlagerung in schützenswertere Bereiche verhindert werden. Zugleich werde eine
klare Grenzziehung erreicht und die Ausübung der Prostitution auch zahlenmäßig
in einem gewissen Rahmen gehalten. Dadurch werde die Verordnung dem
Schutzzweck des Art. 297 EGStGB besser gerecht als die bisherige Lage, in der es
im Bereich der Stadt Darmstadt keine derartige Regelung gab mit der Folge, dass
sich die Straßenprostitution faktisch im Bereich der Mornewegstraße /
Feldbergstraße und in der Umgebung des Bahnhofes etabliert habe, wo sich neben
Wohnbebauung und Gewerbebetrieben u.a. zwei Schulen, ein Kindergarten und
eine Kirche befänden. Ein Vollverbot der Straßenprostitution für das gesamte
Stadtgebiet sei wegen der angestammten Prostituiertenszene in Darmstadt und
der Gefahr, dass diese in der Illegalität ein noch größeres Gefahrenpotential
hervorrufen würde, nicht in Betracht gekommen. Die ausgewiesene Toleranzzone
entspreche in ihrem Umfang dem bisher genutzten Bereich. Sie sei in rechtlicher
und tatsächlicher Hinsicht zur Aufnahme der Straßenprostitution geeignet. Eine
relevante Beeinträchtigung von Belangen des Jugendschutzes und des öffentlichen
Anstandes sei dort nicht zu erwarten, ebenso wenig negative
Ausstrahlungswirkungen auf schützenswerte Bereiche. Die Toleranzzone sei durch
gewerbliche Nutzung geprägt; Wohnbebauung, Schulen, Kindergärten usw. lägen
nicht in ihrer unmittelbaren Nähe. Den nicht gänzlich auszuschließenden
Belästigungen sei im Blick auf das bisher betroffene Gebiet im Rahmen der
Abwägung ein geringeres Gewicht beigemessen worden. Unter Berücksichtigung
der vorhandenen Infrastruktur, der Nähe zum bisherigen Bereich, der
Straßenführung und des Straßenverkehrsaufkommens biete die ausgewiesene
Toleranzzone hinreichend Möglichkeiten für die Ausübung der Prostitution und
gewährleiste die Sicherheitsbelange der Prostituierten. Verkehrsbehinderungen
oder gar -gefährdungen seien nicht zu befürchten. Mehrtägige Überprüfungen des
Ordnungsamtes der Stadt Darmstadt und kontinuierliche Kontrollen des
Polizeipräsidiums Südhessen hätten diese Einschätzungen bestätigt. Sie hätten
insbesondere ergeben, dass der Umfang der in der Toleranzzone festzustellenden
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insbesondere ergeben, dass der Umfang der in der Toleranzzone festzustellenden
Straßenprostitution gering sei und dass die Parkplätze der Antragstellerin weder
von den Prostituierten noch von den Freiern, auch nicht zur Verrichtung der
Notdurft, genutzt würden. Auch sei weder eine Steigerung der Kriminalitätsrate
festzustellen noch, dass Prostituierte im Bereich der Toleranzzone Drogen
erwerben, verkaufen oder konsumieren. Die Ausweisung anderer Bereiche sei nicht
in Betracht gekommen, weil infrastrukturelle oder planungsrechtliche
Gesichtspunkte entgegengestanden hätten oder infolge der dort vorhandenen
Siedlungsstrukturen die Schutzgüter des § 297 EGStGB gefährdet worden wären.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Schriftsätze des
Regierungspräsidiums Darmstadt vom 31. Oktober 2000 und 12. März 2001 sowie
auf die Niederschrift der mündlichen Verhandlung vom 14. Oktober 2003
verwiesen.
Das vorliegende Verfahren ist mit der unter dem Az. 11 N 424/01 geführten
Normenkontrollsache zur gemeinsamen Verhandlung verbunden worden (§ 93
VwGO).
Dem Senat lagen drei Bände Behördenakten, eine Gebietsuntersuchung der Stadt
Darmstadt vom 20. August 1996 nebst sieben Plänen, ein Plan „Sperrgebiet“, ein
Übersichtsplan „Sperrgebiet und Toleranzzone“ sowie jeweils 13 von der
Antragstellerin und dem Antragsgegner eingereichte Fotosätze vor, die die
Örtlichkeit an der Bismarckstraße / A-Straße aktuell abbilden. Sie waren
Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe
1. Der Normenkontrollantrag ist zulässig. Für die Nachprüfung der Gültigkeit der
angegriffenen Verordnung ist der Verwaltungsrechtsweg gegeben. Nach inzwischen
allgemeiner Meinung sind Sperrgebietsverordnungen der vorliegenden Art Normen des
öffentlichen Rechts und nicht dem materiellen Strafrecht zuzuordnen (vgl. zuletzt
Nds.OVG vom 24. Oktober 2002 –
11 KN 4073/01
–, NdsVBl. 2003, 154 [155] m.w.N.).
Der Normenkontrollantrag ist auch statthaft. Bei der angegriffenen Verordnung
handelt es sich um im Range unter dem Landesgesetz stehendes hessisches
Landesrecht im Sinne des § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO, zu dessen Überprüfung der
Verwaltungsgerichtshof gemäß § 15 Abs. 1 HessAGVwGO berufen ist.
Die Antragstellerin ist ferner antragsbefugt. Sie kann im maßgeblichen Zeitpunkt
der gerichtlichen Entscheidung geltend machen, durch die angegriffene
Verordnung insoweit in ihren Rechten verletzt zu sein, als § 2 der Verordnung ein
begrenztes Gebiet als Toleranzzone der sogenannten Straßenprostitution
festsetzt, an das mit Ausnahme eines Fremdgebäudes ausschließlich
Liegenschaften der Antragstellerin angrenzen. Zwar reicht hierfür eine allein
faktische Beeinträchtigung ebenso wenig aus wie die Betroffenheit in bloß
wirtschaftlichen und ideellen Interessen. Die gemäß § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO
erforderliche Antragsbefugnis wird jedoch in hinreichender Weise dadurch
begründet, dass die Möglichkeit der Verletzung einer subjektiven Rechtsposition
nicht ausgeschlossen werden kann (Kopp/Schenke, VwGO, 13. Aufl. 2003, § 47 Rn.
46). Das trifft für die Antragstellerin zu. Zwar liegen ihre Grundstücke nicht
innerhalb des festgesetzten Toleranzgebiets, so dass sie durch die Verordnung in
ihren Möglichkeiten zur Grundstücksnutzung nicht unmittelbar beeinträchtigt wird.
Auch fehlt dem Art. 297 EGStGB als der gesetzlichen Verordnungsgrundlage jede
Grundstücksbezogenheit, die der Antragstellerin unter dem Gesichtspunkt des
Nachbarschutzes eine subjektive Rechtsposition vermitteln könnte. Als Anliegerin
der Toleranzzone wird sie jedoch in individualisierter und zugleich qualifizierter
Weise mittelbar faktisch in ihren geschützten Interessen nach Art. 14 Abs. 1 GG
betroffen. Durch die Verlagerung der Prostitution in die festgesetzte Toleranzzone
besteht die nicht auszuschließende Möglichkeit, dass sich der Charakter der
Standortadresse der Antragstellerin mit nachteiligen Auswirkungen für ihren
Geschäftsbetrieb und die damit einhergehenden Grundstücksnutzungen
verändert. Das ist von der Antragstellerin hinreichend substantiiert dargetan
worden. Eine Betroffenheit hinsichtlich des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 1 GG kann
insoweit dahin stehen. Die Antragstellerin kann sich jedenfalls auf einen
grundrechtlich fundierten Anspruch auf Unterlassung der Schädigung ihrer
geschäftlichen Belange berufen, den der Antragsgegner im Zuge der Ausübung
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geschäftlichen Belange berufen, den der Antragsgegner im Zuge der Ausübung
seines Normsetzungsermessens berücksichtigen musste. Der Antragsbefugnis
steht es daher nicht entgegen, dass die Straßenprostitution in Darmstadt vor
Erlass der angegriffenen Verordnung ordnungsrechtlich erlaubt war.
Hingegen kann der Normenkontrollantrag nicht auf einen vermeintlichen Anspruch
der Antragstellerin auf polizeiliches Einschreiten gegen eine durch die Verordnung
verursachte Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung gestützt werden, und
ebenso wenig kann sich die Antragstellerin auf mutmaßliche Belange oder Rechte
ihrer Mitarbeiter oder Auszubildenden berufen, weil § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO
ausdrücklich die Geltendmachung der Verletzung eigener Rechte voraussetzt.
Die sonstigen Zulässigkeitsvoraussetzungen sind gegeben. Die Zwei-Jahres-Frist
des § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO ist gewahrt. Rechtlich zweifelhaft bleibt allerdings die
Frage, ob der Antragstellerin auch das erforderliche allgemeine
Rechtsschutzbedürfnis für die antragsgemäße (Voll-)Kontrolle der angegriffenen
Verordnung zukommt. Denn durch § 1 dieser Verordnung, der die Grenzen des
Sperrgebiets festlegt, wird sie – anders als durch die Festlegung der Toleranzzone
in § 2 – bei isolierter Betrachtung nicht in ihren Rechten tangiert. Ob beide
Verordnungsteile in dem Sinne eine untrennbare Einheit bilden, als sie Teile einer
Gesamtregelung sind, die Sinn und Rechtfertigung verlöre, wenn ein Bestandteil
herausgenommen würde, so dass auch das Normenkontrollinteresse der
Antragstellerin in entsprechenden Umfang Anerkennung finden müsste, kann in
vorliegendem Fall jedoch dahin gestellt bleiben, weil dem Begehren der
Antragstellerin im Ergebnis ein sachlicher Erfolg zu versagen war.
2. Der Normenkontrollantrag ist nicht begründet.
a) Die Sperrgebietsverordnung ist auf der Grundlage des Art. 297 EGStGB, der mit
höherrangigem Recht vereinbar ist (vgl. BayVerfGH vom 16. November 1982 – Vf.
26 VII/80 u.a. –, NJW 1983, 2188; Nds.OVG, a.a.O., NdsVBl. 2003, 155 f. m.w.N.),
formell ordnungsgemäß zustande gekommen. Gemäß Art. 297 Abs. 1 und Abs. 2
EGStGB vom 2. März 1974 (BGBl. I S. 469), zuletzt geändert durch Gesetz vom 3.
Mai 2000 (BGBl. I S. 632) in Verbindung mit § 1 der Verordnung zur Übertragung
der Ermächtigung zum Erlass von Rechtsverordnungen aufgrund des Art. 297
EGStGB vom 5. August 1975 (GVBl. I S. 175) ist der Regierungspräsident für den
Erlass von Sperrgebietsverordnungen zuständig. Die örtliche Zuständigkeit des
Regierungspräsidiums Darmstadt ergibt sich aus § 2 Abs. 1 des Gesetzes über die
Grenzen der Regierungsbezirke und den Dienstsitz der Regierungspräsidenten
(Art. 1 des Gesetzes über die Neuorganisation der Regierungsbezirke und der
Landesplanung vom 15. Oktober 1980, GVBl. I S. 377). Ferner hat der
Verordnungsgeber das auch für Sperrgebietsverordnungen geltende Zitiergebot
des Art. 80 Abs. 1 Satz 3 GG beachtet und die streitgegenständliche Verordnung
gemäß § 1 Abs. 2 des Gesetzes über die Verkündung von Rechtsverordnungen,
Organisationsanordnungen und Anstaltsordnungen vom 2. November 1971 (GVBl.
I S. 258) ordnungsgemäß im Staatsanzeiger für das Land Hessen vom 1. Mai 2000
verkündet. Nach ihrem § 3 ist die Verordnung vier Monate später, also zum 1.
September 2000 in Kraft getreten.
b) Die angegriffene Verordnung ist auch materiell rechtmäßig, weil sie sich im
Rahmen der Ermächtigungsgrundlage des Art. 297 EGStGB hält.
Nach Art. 297 Abs. 1 Nr. 3 EGStGB kann unabhängig von der Gemeindegröße
durch Rechtsverordnung zum Schutze der Jugend und des öffentlichen Anstandes
für öffentliche Straßen, Wege, Plätze, Anlagen und für sonstige Orte, die von dort
aus eingesehen werden können, im ganzen Gemeindegebiet oder nur in Teilen
dieses Gebiets die Prostitution („Straßenstrich“) verboten werden.
Dementsprechend hat der Verordnungsgeber bei Erlass der
Sperrgebietsverordnung zunächst zu prüfen, ob sie hinsichtlich der in Rede
stehenden Gebiete dem Schutze der Jugend oder des öffentlichen Anstandes
dient. Dabei kommt es nicht darauf an, ob die zu schützenden Rechtsgüter
konkret gefährdet oder gestört sind. Es genügt vielmehr eine abstrakte
Gefährdung, d.h. die Verordnung muss sich gegen Gefahren richten, die aus
Handlungen oder Zuständen nach den Erfahrungen des täglichen Lebens mit
überwiegender Wahrscheinlichkeit fortdauernd entstehen können. Für die Gültigkeit
der Verordnung genügt es, dass ein Bezug auf die gesetzliche Zweckbestimmung
erkennbar vorliegt und dass die Norm geeignet erscheint, dem mit der
Ermächtigung verfolgten Zweck zu dienen (vgl. HessVGH vom 19. Februar 1990 –
11 N 2596/87 –, NVwZ-RR 1990, 472; vom 8. Dezember 1992 – 11 N 2041/91 –,
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11 N 2596/87 –, NVwZ-RR 1990, 472; vom 8. Dezember 1992 – 11 N 2041/91 –,
NVwZ-RR 1993, 294 [295] m.w.N.). Bei der Überprüfung, ob der Verordnungsgeber
diese Voraussetzungen eingehalten hat, darf das Gericht nicht dessen
Überlegungen durch seine eigenen ersetzen. Die gerichtliche Kontrolle ist vielmehr
auf die Nachprüfung beschränkt, ob die Abwägungen und Wertungen des
Verordnungsgebers sachlich vertretbar sind und mit der verfassungsrechtlichen
Wertordnung in Einklang stehen (vgl. HessVGH, a.a.O.). Maßgebend für die
Beurteilung der Sach- und Rechtslage sind dabei grundsätzlich die Verhältnisse im
Zeitpunkt der Bekanntgabe der Verordnung, es sei denn, dass nachträglich
eintretende Umstände das ursprüngliche Urteil ihrer Rechtmäßigkeit revidieren
(vgl. HessVGH, a.a.O.; z.T. abweichend Kopp/Schenke, a.a.O., § 47 Rn. 137). Nach
diesen Maßgaben hält die angefochtene Verordnung der rechtlichen Überprüfung
stand.
Die Ausweisung der Toleranzzone in § 2 der angefochtenen Verordnung, wonach
die Nordseite der Bismarckstraße und die A-Straße von dem in § 1 der Verordnung
verfügten stadtgebietsweiten Verbot der Straßenprostitution ausgenommen ist, ist
rechtmäßig.
Der Antragsgegner hat die Sperrgebietsverordnung auf Anregung der Stadt
Darmstadt erlassen. Damit ist die Prostitution im Bereich der Stadt Darmstadt
erstmals einer ordnungsrechtlichen Beschränkung unterworfen. Zuvor gab es
keine Regelung, so dass die Prostitution, auch die Straßenprostitution, in den
Grenzen der polizeirechtlichen Ge- und Verbote überall im Stadtgebiet erlaubt war.
Faktisch hatte sich die Straßenprostitution seit vielen Jahren in der Nähe des
Bahnhofs im Bereich der Mornewegstraße / Feldbergstraße und der Straße im
Niederfeld etabliert. In diesem Gebiet befinden sich neben Wohnhäusern u.a. zwei
Schulen, ein Kindergarten und eine Kirche. Seit dem Jahr 1991 hatte sich die Stadt
Darmstadt – auch aufgrund von Anwohnerbeschwerden – mehrfach mit dem
Anliegen an das Regierungspräsidium gewandt, für diesen Bereich eine
Sperrgebietsregelung zu erlassen. Dem Anliegen wurde jedoch bis Ende des Jahres
1997 wiederholt nicht entsprochen, weil nach Ansicht des Regierungspräsidiums
wie auch des Polizeipräsidiums Darmstadt die Voraussetzungen des Art. 297
EGStGB nicht erfüllt waren und eine Verdrängung der Prostitutionsszene aus dem
gewohnten Gebiet negative Folgen für andere Bereiche der Stadt Darmstadt
befürchten ließ. Im April 1998 – inzwischen hatte sich eine Bürgerinitiative
Mornewegstraße / Feldbergstraße gebildet – trug die Stadt Darmstadt sodann das
Ansinnen vor, das gesamte Stadtgebiet als Sperrbezirk auszuweisen und die
Prostituiertenszene in eine ordnungsrechtlich bestimmte, nicht unweit vom
bisherigen Bereich befindliche Toleranzzone an der Bismarckstraße über die A-
Straße bis einschließlich Mainzer Straße zu verlagern. Nachdem das
Regierungspräsidium seine grundsätzliche Zustimmung für die vorgeschlagene
Gesamtregelung unter Voraussetzung der Vorlage hinreichender
Entscheidungsunterlagen signalisierte, unterbreitete die Stadt Darmstadt
schließlich eine entsprechende Gebietsuntersuchung, in der das gesamte
Stadtgebiet mit seinen Stadtteilen Wixhausen, Arheiligen, Stadtkern und Eberstadt
in Gebietstypen unterteilt und daraufhin beurteilt wurde, ob ein Aufkommen von
Prostitution unterbunden werden oder bleiben muss oder zugelassen werden kann.
Auf der Grundlage dieser Untersuchung sowie weiterer gezielter Prüfungen von
Alternativgebieten für eine Toleranzzone hat die Stadt Darmstadt mit Schreiben
vom 25. August 1999 ihren Antrag auf Ausweisung des gesamten Stadtgebiets als
Sperrgebiet bekräftigt und sich dabei – auf Einwendung des Polizeipräsidiums
Darmstadt sowie nach mehrfachen Erörterungen bei öffentlichen Anhörungen – für
eine Einbeziehung der Mainzer Straße in das Sperrgebiet, mithin für eine nunmehr
auf den Bereich Bismarckstraße (Nordseite) – westlich des Grundstücks Nr. .......bis
zur Einmündung A-Straße – sowie A-Straße beidseitig – von der Einmündung
Bismarckstraße bis zur Kreuzung Mainzer Straße / Landwehrstraße – beschränkte
Toleranzzone ausgesprochen. Dabei wurde im Rahmen der Abwägung den
Gesichtspunkten, die für den Erlass der Verordnung sprachen, ein größeres
Gewicht eingeräumt als denen, die dagegen sprachen. Als Gründe für den Erlass
wurden u.a. erkannt: die Möglichkeit der Regelung und Ordnung der Prostitution im
gesamten Stadtgebiet, die Verhinderung der Ausdehnung der Prostitution in
Richtung Innenstadt, die Möglichkeit der effektiveren Überwachung, die Abstellung
der bisherigen Störungen und Belästigungen im Bereich Feldbergstraße /
Mornewegstraße sowie die Geeignetheit des neuen Toleranzbereichs zur
Aufnahme der Straßenprostitution. Zurückgestellt wurden demgegenüber die
gegen den Erlass der Verordnung sprechenden Gründe, dass in der bisherigen
faktischen Toleranzzone sowohl hinsichtlich der Prostitution als auch der
Kriminalität in den letzten Jahren eine in etwa gleich gebliebene und sich nicht
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Kriminalität in den letzten Jahren eine in etwa gleich gebliebene und sich nicht
verschlimmernde Situation gegeben und die Sicherheit der Prostituierten auch in
diesem Bereich gewährleistet sei. Mit Zustimmung des Polizeipräsidiums, das
insofern Bedenken gegen die grundsätzliche Erforderlichkeit einer
Sperrgebietsverordnung in Darmstadt zurückstellte, hat der Antragsgegner die
Erwägungen der Stadt Darmstadt als eigene Einschätzung übernommen. Danach
werde die ausgewiesene Toleranzzone den Belangen des Jugendschutzes und des
öffentlichen Anstandes besser gerecht als der bisher für die Straßenprostitution
genutzte Bereich Feldbergstraße / Mornewegstraße.
Gegen die Entscheidung des Antragsgegners, von der Ermächtigung des Art. 297
Abs. 1 Nr. 3 EGStGB Gebrauch zu machen und für die Stadt Darmstadt eine das
Aufkommen der Straßenprostitution regelnde Sperrgebietsverordnung zu
erlassen, ist von Rechts wegen nichts zu erinnern. Der Ermächtigungsgrundlage
sind keine Grenzen des Entschließungsermessens zu entnehmen, die der
Normgeber vorliegend überschritten hätte. Die Vorschrift unterstellt das
ordnungsrechtliche Verbot der Straßenprostitution – anders als Art. 297 Abs. 1
Nrn. 1 und 2 EGStGB – keiner anderen Voraussetzung als der, dass es geeignet
sein muss, dem Zweck des Schutzes der Jugend oder des öffentlichen Anstandes
zu dienen. Dass der Antragsgegner insofern in Darmstadt Handlungsbedarf
gesehen hat, ist zumal in Anbetracht der zuvor gegebenen Situation im Bereich
Feldbergstraße / Mornewegstraße nicht zu beanstanden. Mit der Beobachtung
eines tatsächlichen Straßenprostitutionsaufkommens in diesem Bereich, in dem
sich unter anderem mehrere Schulen, eine Kirche und Wohnhäuser befinden, ist
jedenfalls ein hinreichender Grund gegeben, den Erlass einer
Sperrgebietsverordnung unter der Voraussetzung einer der gesetzlichen
Ermächtigungsgrundlage gemäßen Zweckverfolgung für erforderlich halten zu
dürfen.
Dem steht es nicht entgegen, dass sich die Straßenprostitution dort schon seit
Jahren etabliert hatte. Durch den Umstand, dass ein Stadtgebiet eine gewachsene
Prostituiertenszene aufweist, wird der Erlass einer Verbotsregelung, der auch
dieses Gebiet unterfällt, nicht gehindert. Zwar wachsen die Anforderungen an die
Rechtfertigung einer Sperrgebietsausweisung, wenn die Prostitutionsausübung in
einem solchen Gebiet eher als diese Gegend prägend, denn als störend
empfunden wird. Diesen Anforderungen ist aber andererseits hinreichend
Rechnung getragen, wenn sich die tatsächlichen Verhältnisse in diesem Bereich so
entwickelt haben, dass der Schutz der Jugend oder des öffentlichen Anstandes in
einem höheren Maße gefährdet ist, als dies in der Vergangenheit der Fall war (vgl.
HessVGH, a.a.O., NVwZ-RR 1990, 473). Auf den Bereich Feldbergstraße /
Mornewegstraße gewendet, ergibt sich: Es ist schon zweifelhaft, ob dort bisher von
einer im vorgenannten Sinne gebietsprägenden Straßenprostitution die Rede sein
kann. Jedenfalls hält sich der Verordnungsgeber innerhalb des Rahmens der
Ermächtigungsnorm, wenn er nach jahrelanger gegenteiliger Einschätzung eine
Veränderung der tatsächlichen Situation in besagtem Gebiet annimmt, die
nunmehr zum Schutze der Jugend und des öffentlichen Anstandes ein
verordnungsrechtliches Verbot der Straßenprostitution erforderlich macht. Dabei
ist es unschädlich, dass sich der Erlass der Verordnung auch als eine Reaktion auf
Anwohnerbeschwerden und Bürgerinitiativen darstellt. Auch dass das
Polizeipräsidium Darmstadt mit Hinweis auf das bescheidene und jahreszeitlich
bedingt schwankende Ausmaß der Straßenprostitution in der Frage der
Notwendigkeit einer Sperrgebietsverordnung eine zurückhaltende Haltung
eingenommen hat, vermag in Anbetracht der gleichwohl erfolgten Zustimmung
wie auch der eingeschränkten gerichtlichen Kontrollmöglichkeit des
verordnungsgeberischen Normsetzungsermessens ein abweichendes Urteil nicht
hervorzurufen.
Die Geeignetheit der Verordnung, dem Schutz der Jugend und des öffentlichen
Anstandes zu dienen, könnte allerdings zweifelhaft sein, wenn infolge der
Neuausweisung der bisherigen faktischen Toleranzzone als Verbotszone bislang
von der Prostitutionsausübung nicht betroffene und in nicht geringerem Maße
schutzbedürftige Gemeindeteile in Mitleidenschaft gezogen und der Schutz der
Jugend und des öffentlichen Anstandes in diesen Teilen erstmals beeinträchtigt
wird. Der Erlass einer Sperrgebietsverordnung darf nämlich nicht in Umkehrung
des Normzweckes zu relevanten Beeinträchtigungen von Belangen des
Jugendschutzes und des öffentlichen Anstandes bei Teilen der Wohnbevölkerung
führen, die bisher von solchen Belästigungen nicht berührt waren (vgl. HessVGH,
a.a.O., NVwZ-RR 1990, 473). Diesen Maßgaben ist jedoch vorliegend Rechnung
getragen. Sie tragen zunächst die Entscheidung des Verordnungsgebers, in
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getragen. Sie tragen zunächst die Entscheidung des Verordnungsgebers, in
Darmstadt von einem stadtgebietsweiten Vollverbot der Straßenprostitution
abzusehen. Zu Recht sah er die Festlegung eines Toleranzgebiets als erforderlich
an, weil andernfalls zu befürchten stand, dass sich die Prostituiertenszene
unkontrolliert in schutzwürdigere Bereiche namentlich der Innenstadt verlagert
oder in die Illegalität abgleitet.
Ebenso genügt sodann die konkrete Ausweisung des in § 2 der Verordnung
aufgeführten Bereichs als Toleranzzone den vorstehenden Maßgaben. Das folgt
allerdings nicht schon allein daraus, dass damit die Verlagerung der
Prostitutionsszene in ein Gemeindegebiet vorgesehen wird, das überwiegend
gewerblich-industriell geprägt ist. Der Ermächtigungsgrundlage des Art. 297
EGStGB ist kein Anhalt dafür zu entnehmen, dass Gewerbegebiete unter dem
Gesichtspunkt der Wahrung des Jugendschutzes oder des öffentlichen Anstandes
von vornherein als schutzbedürftige Gebiete ausfallen. Doch kommt dem in § 2
der Verordnung festgelegten Gebiet, in dem zuvor faktisch keine oder jedenfalls
keine nennenswerte Straßenprostitution festzustellen war, wegen seiner baulichen
Eigenart und ausschließlich gewerblichen Nutzung unter dem Gesichtspunkt des
Jugendschutzes und des öffentlichen Anstandes – auch bei Berücksichtigung der
zum Teil jugendlichen Beschäftigten und des Publikumsverkehrs der dort
ansässigen Firmen – eine geringere Schutzwürdigkeit zu als dem bisher zur
Straßenprostitution genutzten (Wohn-)Bereich Feldbergstraße / Mornewegstraße.
Der Festlegung sind eine umfangreiche, auf das ganze Stadtgebiet ausgedehnte
Gebietsuntersuchung sowie mehrere Ortsbesichtigungen und Erörterungen
vorangegangen. In deren Verlauf wurden auch zahlreiche Alternativstandorte einer
eingehenden Prüfung unterzogen. Bei der Abwägung ließ sich der
Verordnungsgeber im wesentlichen von folgenden Gesichtspunkten leiten: Die
Toleranzzone liege in einem Gewerbegebiet, in dem lediglich
Gewerbeunternehmen ansässig seien. Schulen oder Kindergärten fehlten, ein
Wohngebiet werde nicht berührt. Die Verkehrsführung und -belastung stelle kein
Problem dar, auch nicht hinsichtlich des mit der Prostitutionsausübung
verbundenen Fahrverkehrs. Der neue Toleranzbereich liege nicht allzu weit entfernt
von dem bisher zur Straßenprostitution genutzten Gebiet und weise zu diesem
eine etwa gleiche Größe auf. Die Sicherheit der Prostituierten sei durch
Nachtbeleuchtung und Durchgangsverkehr hinreichend gewährleistet. Eine
notwendige Infrastruktur (Toiletten, Kiosk) sei in zumutbarer Nähe vorhanden. Der
neue Bereich werde daher voraussichtlich nach einer angemessenen
Übergangszeit seitens der Prostituierten angenommen werden.
Diese Erwägungen lassen weder tatsächliche noch rechtliche Fehler erkennen.
Weder seitens der sich in der Toleranzzone aufhaltenden Prostituierten noch durch
den Suchverkehr der Freier sind relevante Beeinträchtigungen der in Art. 297
EGStGB genannten Schutzgüter oder der schutzwürdigen Belange der
Antragstellerin zu erwarten. So enthalten die vom Antragsgegner unter dem 19.
Juni 2001 vorgelegten Kontrollberichte der Stadt Darmstadt vom 19. Februar 2001
und des Polizeipräsidiums Südhessen vom 28. Februar 2001 keine Anhaltspunkte,
die insofern die Geeignetheit des in § 2 der Verordnung festgesetzten
Toleranzgebiets in Frage stellen. Als Ergebnis der durchgeführten Überprüfungen
wurde vielmehr formuliert: „Wer im Rahmen des normalen Durchgangsverkehrs
nicht weiß, dass hier der Darmstädter Straßenstrich ist, wird dies gar nicht
bemerken“. Auch zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung liegen keine
Anhaltspunkte vor, die ein abweichendes Urteil rechtfertigen. In der mündlichen
Verhandlung erklärten der Terminsvertreter des Antragsgegners und ein
sachkundiger Mitarbeiter der Stadt Darmstadt übereinstimmend, dass sich seit
Erlass der Sperrgebietsverordnung die Prostituiertenszene im Toleranzbereich
nicht verstärkt, sondern rückläufig entwickelt habe. Auch ein seit mehreren Jahren
im Sachgebiet Prostitution tätiger Mitarbeiter des Polizeipräsidiums Südhessen
legte dar, dass seit dem Jahr 1999 ein deutlicher Rückgang der Straßenprostitution
in Darmstadt zu vermerken sei. An einem Abend der letzten Tage vor der
mündlichen Verhandlung habe er etwa neun Frauen, an einem warmen
Augustabend des Jahres 2003 etwa 16 Frauen festgestellt, wobei gleichzeitig nicht
mehr als fünf bis sechs Prostituierte im Straßenbild, und zwar vor allem an der
Bismarckstraße, erkennbar seien; in der Mornewegstraße seien demgegenüber
kaum noch Prostituierte zu sehen. Der Geschäftsführer der Antragstellerin
bestätigte diese Angaben im Großen und Ganzen, auch wenn es Spitzenzeiten
gebe, zu denen er mehr Prostituierte, die an ihrer Kleidung erkennbar seien, auch
bis zu 60 m in die A-Straße hinein beobachten könne, was vor Inkrafttreten der
Sperrgebietsverordnung allenfalls vereinzelt der Fall gewesen sei.
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Unter Würdigung dieser Umstände und unter Berücksichtigung der
Einschätzungsprärogative des Verordnungsgebers, der eine entsprechend
eingeschränkte Kontrolldichte des Verwaltungsgerichtshofs entspricht,
überschreitet die Ausweisung des Bereichs Bismarckstraße / A-Straße als
Toleranzzone für die Straßenprostitution nicht die Ermessens- und
Zumutbarkeitsgrenzen, die dem Verordnungsgeber durch Art. 297 EGStGB
gezogen sind. Die normgeberische Einschätzung, dass die Festlegung des neuen
Toleranzbereichs dem Schutz der Jugend und des öffentlichen Anstandes besser
zu dienen geeignet ist, als dies in der Situation vor Erlass der Verordnung der Fall
war, ist nicht zu beanstanden. Soweit dadurch Beeinträchtigungen
rechtserheblicher Belange der Antragstellerin hervorgerufen werden, bewegen sie
sich jedenfalls unterhalb jener Zumutbarkeitsschwelle, die die Ausweisung als
sachlich und rechtlich nicht mehr vertretbar erscheinen ließe, und müssen daher
im überwiegenden Interesse des Normzwecks der Ermächtigungsgrundlage
hingenommen werden.
Auch im übrigen hält sich die angegriffene Sperrgebietsverordnung im Rahmen
des Art. 297 EGStGB. Unabhängig davon, ob die Antragstellerin von dem in § 1 der
Verordnung enthaltenen, für das gesamte bebaute Stadtgebiet von Darmstadt
geltenden Verbot, der Straßenprostitution nachzugehen, in ihren
Rechtsschutzinteressen berührt wird, wahrt die Verbotsregelung den notwendigen
Bezug auf die gesetzliche Zweckbestimmung.
Die Ermächtigung schließt zweifelsfrei die Möglichkeit ein, auch weitaus
überwiegende Teile eines Gemeindegebiets zum Sperrgebiet zu erklären. Anders
als Art. 297 Abs. 1 Nrn. 1 und 2 ist der Ermächtigung in Art. 297 Abs. 1 Nr. 3
EGStGB gerade keine Entscheidung des Gesetzgebers zu entnehmen, dass
oberhalb einer nach der Einwohnerzahl bemessenen Gemeindegröße die
Straßenprostitution grundsätzlich zuzulassen sei. Davon unberührt bleibt
gleichwohl das Erfordernis, dass die Sperrgebietsfestsetzung nachvollziehbar dem
Schutz der Jugend oder des öffentlichen Anstandes dient. So kann der notwendige
Bezug zum Zweck der Ermächtigungsgrundlage nicht mehr als gewahrt
angesehen werden, wenn der Verordnungsgeber Bereiche zum Sperrgebiet
erklärt, in denen eine Gefährdung der Jugend oder des öffentlichen Anstandes
auch unter Berücksichtigung der örtlichen Verhältnisse des Gemeindegebiets in
keiner erkennbaren Weise zu erwarten steht. Andererseits besteht keine
Veranlassung zu einer gerichtlichen Beanstandung, wenn sich die Einschätzung
des Verordnungsgebers, die Sperrgebietsausweisung richte sich auch und gerade
in ihrer räumlichen Ausdehnung gegen Gefährdungen dieser Schutzgüter, die aller
Erfahrung nach als Folgen bestimmter Handlungen und/oder Zustände mit
hinreichender Wahrscheinlichkeit auftreten können, als sachlich vertretbar erweist.
Das kann nach den Umständen des Einzelfalls auch für die Annahme gelten, dass
der Schutzzweck der Verordnung im Blick auf die Struktur des Gemeindegebiets
nicht anders als mit einer weiträumigen Verbotszone erreicht werden kann (vgl.
HessVGH, a.a.O., NVwZ-RR 1990, 472 f.)
Diesen Anforderungen wird vorliegend Rechnung getragen. Allerdings folgt dies
nicht allein daraus, dass die der Verordnungsgebung zugrunde liegende
Gebietsuntersuchung der Stadt Darmstadt mit Ausnahme der Toleranzzone die
übrigen Stadtgebiete (beanstandungsfrei) als für die Aufnahme der
Straßenprostitution ungeeignet erklärt. Die Erkenntnis, dass ein bestimmtes
Stadtgebiet nicht zur Aufnahme von Straßenprostitution geeignet ist, hat nicht
ohne weiteres zur Folge, dass dessen Ausweisung als Sperrgebiet erforderlich ist.
Hinzutreten muss vielmehr eine der Ausweisung vorangehende, von
nachvollziehbaren Erwägungen getragene positive Einschätzung eines
Gefährdungspotentials, derzufolge das ordnungsrechtliche Verbot der
Prostitutionsausübung zum Schutze der Jugend oder des öffentlichen Anstandes
notwendig erscheint. Insoweit hat sich der Antragsgegner, wie insbesondere seine
Einlassungen in der mündlichen Verhandlung zeigen, von dem Erfahrungssatz
leiten lassen, dass sich die Prostitutionsszene regelmäßig unkontrolliert eigene
und neue Wege sucht, wenn die ihr zugewiesene Toleranzzone nicht angenommen
wird. Für diesen Fall müsse mit einer Gefährdung der Jugend und des öffentlichen
Anstands auch in Stadtgebieten gerechnet werden, in denen bisher ein solche
nicht bestünde. Solchen Entwicklungen gelte es in der Stadt Darmstadt in
Anbetracht der jahrelangen und unter intensiver Beteiligung der Öffentlichkeit
geführten Debatte um eine gemeinverträgliche Neuordnung der
Straßenprostitution vorzubeugen. Diese Erwägungen sind mit Rücksicht auf die
dem Verordnungsgeber zustehende Einschätzungsprärogative in der Lage, in
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dem Verordnungsgeber zustehende Einschätzungsprärogative in der Lage, in
nachvollziehbarer Weise ein die ausgewiesenen Sperrgebietsflächen betreffendes
Gefährdungspotential von hinreichender Wahrscheinlichkeit zu begründen. Auf
ihrer Grundlage durfte der Verordnungsgeber daher zum Schutze der Jugend und
des öffentlichen Anstands dem Zweck der bundesgesetzlichen Ermächtigung
entsprechend ein Verbot der Straßenprostitution mit Ausnahme der
ausgewiesenen Toleranzzone für das bebaute Stadtgebiet von Darmstadt für
erforderlich halten.
Da die Normenkontrolle nach alledem erfolglos ist, hat die Antragstellerin die
Kosten des Verfahrens zu tragen (§ 154 Abs. 1 VwGO). Die Entscheidung über die
vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
Die Revision war nicht zuzulassen, weil die gesetzlichen Voraussetzungen dafür (§
132 Abs. 2 VwGO) nicht vorliegen.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.