Urteil des HessVGH vom 17.04.1985

VGH Kassel: hauptsache, gerichtsverfahren, widerruf, zustand, verwaltungsakt, genehmigung, broschüre, beratung, gefahr, ausnahmefall

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Gericht:
Hessischer
Verwaltungsgerichtshof
4. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
4 Q 365/85
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 123 VwGO, § 123 VwGO
Leitsatz
Im einstweiligen Anordnungsverfahren nach § 123 Abs. 1 VwGO kann eine
Baugenehmigung nicht erstritten werden (Hess. VGH, Beschluß vom 18. September
1973 - IV TG 42/73 BRS 27 Nr. 150; Beschluß vom 18. Juni 1984 - 4 TG 506/84; ständige
Rechtsprechung
Gründe
I.
Der Antragsteller führt von seiner Hofreite im Stadtgebiet von Büdingen aus einen
landwirtschaftlichen Haupterwerbsbetrieb mit bisher ca. 52 Milchkühen, 80
Schweinen und 200 Legehennen. Er bewirtschaftet etwa 24 ha Ackerfläche und
41,5 ha Grünland.
Am 24. November 1982 beantragte der Antragsteller beim Antragsgegner die
Erteilung einer Baugenehmigung für die Errichtung eines 36 m x 18,75 m großen
Liegeboxenstalles für 60 Kühe mit Laufstall für Jungvieh, Geräte- und Milchraum,
Melkstand sowie Güllekellern von 600 cbm auf seinem Außenbereichsgrundstück
von Büdingen im Anschluß an eine dort bereits vorhandene Scheune mit
nachträglich genehmigter Maschinenhalle. Da die Beigeladene zu 1 wegen
befürchteter Immissionen für das benachbarte Baugebiet und Freibad ihr
Einvernehmen zu dem geplanten Vorhaben versagte, lehnte der Antragsgegner
mit Bescheid vom 11. Juli 1983 den Bauantrag ab.
Der hiergegen am 20. Juli 1983 eingelegte Widerspruch wurde vom
Regierungspräsidenten in Darmstadt mit Widerspruchsbescheid vom 21. Oktober
1983 zurückgewiesen.
Am 3. November 1983 erhob der Antragsteller vor dem Verwaltungsgericht
Darmstadt Klage und beantragte, unter Aufhebung der ablehnenden Bescheide
den Antragsgegner zu verpflichten, ihm die beantragte Baugenehmigung für die
Errichtung eines Liegeboxenstalles auf dem Außenbereichsgrundstück in
Büdingen, Flur 5, Flurstück 43/1 zu erteilen. Nach Einholung eines
Sachverständigengutachtens hob das Gericht mit Urteil vom 28. November 1984
die angegriffenen Bescheide auf und verpflichtete den Antragsgegner, den
Antragsteller unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu
bescheiden. Im übrigen wurde die Klage abgewiesen. Zur Begründung war im
wesentlichen ausgeführt, der geplante Liegeboxenstall sei gemäß § 35 Abs. 1 Nr. 1
Bundesbaugesetz - BBauG - zulässig. Öffentliche Belange, insbesondere das
Gebot der Rücksichtnahme, stünden dem Vorhaben nicht entgegen. Der Behörde
bleibe es unbenommen, die zu erteilende Baugenehmigung mit Auflagen zu
versehen.
Gegen das am 25. Januar 1985 zugestellte Urteil legte die Beigeladene zu 1 am
14. Februar 1985 Berufung ein (Aktenzeichen 4 UE 279/85), über die noch nicht
entschieden ist.
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Mit Schriftsatz vom 26. Februar 1985 hat der Antragsteller beim Berufungsgericht
den vorliegenden Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung gestellt und
erstrebt, die Erteilung der Baugenehmigung. Zur Begründung trägt er vor, die
Beigeladene zu 1 verweigere aus unsachlichen Gründen ihr Einvernehmen. Auch
wenn die begehrte Entscheidung die Hauptsache vorwegnehme, könne er dennoch
auf die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nicht verzichten. Von dem
landwirtschaftlichen Betrieb lebten zwei Familien. Die Baugenehmigung sei zur
Existenzsicherung erforderlich. Müßte er zwei Jahre auf die Erteilung der
Baugenehmigung warten, entstünde ihm ein Schaden in Höhe von ca. 464.000,--
DM durch zusätzliche Mietkosten, eine entgangene Investitionshilfe,
Einnahmeverluste im Hinblick auf die Milch-Garantiemengenverordnung, Verluste
durch vorzeitigen Verkauf von Bullen etc. . Eine entsprechende Aufstellung hat der
Antragsteller beigefügt.
Der Antragsteller beantragt,
den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm
unter Zugrundelegung der Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts Darmstadt
im Urteil vom 28. November 1984 die Baugenehmigung für die Errichtung eines
Liegeboxenstalles auf dem Außenbereichsgrundstück in Büdingen, Flur 5, Flurstück
43/1, zu erteilen.
Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Er ist der Ansicht, daß eine stattgebende Entscheidung die Hauptsache
vorwegnehmen würde. Dies sei nicht zulässig.
Die Beigeladene zu 1 nimmt im wesentlichen Bezug auf ihre
Berufungsbegründungsschrift und ist der Auffassung, daß eine einstweilige
Anordnung nicht ergehen könne. Der Antragsteller erstrebe nämlich eine
endgültige Regelung, die dem Berufungsverfahren vorbehalten sei.
Der Beigeladene zu 2 hat sich nicht geäußert.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten wird auf den
Inhalt der zwischen ihnen gewechselten Schriftsätze sowie auf den Inhalt der
Berufungsakte 4 UE 279/85 nebst zwei Heften Verwaltungsvorgänge und einer
Broschüre "Melktechnik Projektplaner für Melkstände", die beigezogen worden sind
und Gegenstand der Beratung waren, Bezug genommen.
II.
Dem Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO, für
den das Berufungsgericht als Gericht der Hauptsache gemäß § 123 Abs. 2 Satz 1
und Satz 2 VwGO zuständig ist, kann nicht entsprochen werden. Auch abgesehen
davon , daß dem Antragsteller im Urteil des Verwaltungsgerichts vom 28.
November 1984 nur eine Neubescheidung seines Bauantrags zugesprochen
worden ist - der darüber hinausgehende Verpflichtungsantrag auf Erteilung der
Baugenehmigung ist abgelehnt worden -, muß der Eilantrag bereits deshalb ohne
Erfolg bleiben, weil weder nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO noch nach § 123 Abs. 1
Satz 2 VwGO die Baugenehmigungsbehörde verpflichtet werden kann, eine
Baugenehmigung zu erteilen (vgl. Hess. VGH, Beschluß vom 18. September 1973
- IV TG 42/73 - BRS 27 Nr. 150; Beschluß vom 18. Juni 1984 - 4 TG 506/84 -;
Beschluß vom 21. Februar 1985 - 3 TG 292/85; BayVGH, BayVBl. 1976, 402;
BayVGH, VerwRspr. 29, 253, jeweils mit weiteren Nachweisen).
§ 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO scheidet als Anspruchsgrundlage von vornherein aus,
denn dem Antragsteller geht es nicht darum, einer durch eine Veränderung des
bestehenden Zustandes drohenden Gefahr für die Verwirklichung eines Rechts
entgegenzutreten. Vielmehr strebt er gerade selbst eine Veränderung des
bestehenden Zustandes an.
Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung
eines vorläufigen Zustandes in bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig,
wenn diese Regelung nötig erscheint. Hier begehrt der Antragsteller jedoch eine
einmalige Handlung des Antragsgegners, die Erteilung der Baugenehmigung, die
in ihrer Wirkung nicht vorläufig, sondern endgültig ist. Die Hessische Bauordnung
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in ihrer Wirkung nicht vorläufig, sondern endgültig ist. Die Hessische Bauordnung
kennt, abgesehen von einer befristeten Baugenehmigung in einem hier nicht
vorliegenden Ausnahmefall (vgl. dazu Hess. VGH, Beschluß vom 7. Dezember
1984 - 3 TG 2896/84), eine einstweilige, vorläufige Baugenehmigung nicht. Denn
wenn mit einer solchen Genehmigung gebaut werden dürfte, würde ein
endgültiger, regelmäßig irreparabler Zustand geschaffen werden wie mit jeder
normalen Baugenehmigung auch. Gegen die der Baugenehmigung
wesensgemäße Endgültigkeit spricht auch nicht die Möglichkeit des Widerrufs
gemäß § 101 HBO, denn diese Möglichkeit steht der Vorläufigkeit nicht gleich. Der
Widerruf kann nur unter besonderen Voraussetzungen erfolgen und muß dann als
neuer Verwaltungsakt ergehen.
Die Baugenehmigung erlischt jedenfalls nicht von selbst mit Ausnahme der Fälle,
in denen sie nicht fristgerecht ausgenutzt worden ist. Und selbst wenn die
Baugenehmigung widerrufen wird, ändert das zunächst nichts am Bestand eines
etwa zwischenzeitlich errichteten Bauwerks. Dieses kann nicht ohne weiteres
beseitigt werden (vgl. Hess. VGH, Beschluß vom 18. September 1973, a.a.O.).
Auch die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz verleiht keinen
Anspruch auf eine im Ergebnis endgültige Erfüllung in einem Gerichtsverfahren,
das grundsätzlich nur der vorläufigen Sicherung eines bedrohten Rechts dient (vgl.
Hess. VGH, Beschluß vom 18. September 1973, a.a.O.). BayVGH, BayVBI. 1976,
402). Soweit der Antragsteller auf mündliche Auskünfte hin bereits seinen
Viehbestand in Erwartung der Baugenehmigung aufgestockt hat und dadurch in
finanzielle und sonstige Schwierigkeiten geraten ist, hat er dies auf eigenes Risiko
getan. Dies hat schon das Verwaltungsgericht festgestellt (vgl. Urteilsabdruck S.
9). Im übrigen bleibt es ihm unbenommen, gegebenenfalls für eingetretene
Vermögensschäden von den seiner Ansicht nach verantwortlichen Stellen, unter
den gesetzlichen Voraussetzungen Schadensersatz oder Entschädigung zu
verlangen. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Es entspricht der
Billigkeit, die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu 1 dem Antragsteller
gemäß § 162 Abs. 3 VwGO aufzuerlegen. Denn die Beigeladene zu 1 ist durch den
vorliegenden Eilantrag in ein nach ständiger Rechtsprechung von vornherein
aussichtsloses Gerichtsverfahren hineingezogen worden und hat sich, im
Gegensatz zum Beigeladenen zu 2 , auch schriftsätzlich geäußert und einen
Bevollmächtigten bestellt. Für eine entsprechende Billigkeitsentscheidung
hinsichtlich des Beigeladenen zu 2 sieht der Senat dagegen keinen Raum.
Die Streitwertentscheidung beruht auf §§ 20 Abs. 3, 13 Abs. 1 Satz 1, 25 GKG. Der
Senat bemißt in baurechtlichen Streitigkeiten in ständiger Rechtsprechung das
Interesse an der Errichtung eines Gebäudes nach Richtsätzen pro m3 umbautem
Raum, die ihrerseits von der Art und Nutzung des Bauwerks und von dem mit der
Klage oder dem Antrag verfolgten Ziel abhängig sind. Bei Klagen wegen der
Verweigerung der Baugenehmigung für landwirtschaftliche Betriebsgebäude geht
das Gericht derzeit von 1/5 eines Richtsatzes von 60,-- bis 180,-- DM pro cbm für
den Substanzwert aus. Bei der Größe und Ausstattung des hier umstrittenen
Liegeboxenstalles von 3.377 cbm umbauten Raumes hält der Senat 150,-- DM pro
cbm für angemessen und ausreichend. Da keine nennenswerte
Bodenwertsteigerung zu veranschlagen ist, beläuft sich der Hauptsachestreitwert
danach auf 101.310,-- DM. Dieser Betrag ist im vorliegenden Eilverfahren auf zwei
Drittel und damit auf 67.540,-- DM zu reduzieren:
Hinweis: Der Beschluß ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 Satz 1 VwGO, § 25 Abs. 2
Satz 2 GKG).
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.