Urteil des HessVGH vom 01.10.2010

VGH Kassel: öffentliches recht, schutzwürdiges interesse, ermessen, gefährdung, auflage, genehmigungsverfahren, verkehrssicherheit, behörde, offenkundigkeit, billigkeit

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Gericht:
Hessischer
Verwaltungsgerichtshof
4. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
4 A 1907/10.Z
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 57 Abs 1 BauO HE 2002,
§ 15 Abs 2 BauO HE 2002
Ablehnung des Bauantrags wegen fehlenden
Sachbescheidungsinteresses
Leitsatz
Im vereinfachten Baugenehmigungsverfahren kann die Baugenehmigung wegen
fehlenden Sachbescheidungsinteresses abgelehnt werden, wenn das Bauvorhaben aus
anderen als den zum Prüfumfang gehörenden Gründen (z. B. bauordnungsrechtlichen
Vorschriften) nicht verwirklicht werden darf.
Tenor
Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des
Verwaltungsgerichts Darmstadt vom 20. Mai 2010 - 2 K 314/10.DA - wird
abgelehnt.
Die Klägerin hat die Kosten des Zulassungsantragsverfahrens mit Ausnahme der
außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu tragen.
Der Streitwert wird auch für das Zulassungsantragsverfahren auf 5.000,-- Euro
festgesetzt.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten über die Zulässigkeit einer Werbeanlage.
Die Klägerin, ein Unternehmen der Außenwerbung, beantragte am 12. August
2009 eine baurechtliche Genehmigung für die Errichtung einer beleuchteten
Plakattafel für wechselnden Plakatanschlag.
Mit Bescheid vom 21. Oktober 2009 lehnte der Beklagte den Antrag ab. Den
hiergegen gerichteten Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid
vom 5. März 2010 zurück. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass sich die
Werbeanlage weder nach Art und Maß der baulichen Nutzung noch nach der
Bauweise in die Eigenart der näheren Umgebung einfüge. Auch stehe der Erteilung
der Genehmigung das Fehlen des gemäß § 36 Abs. 1 BauGB erforderlichen
planungsrechtlichen Einvernehmens entgegen. Schließlich hätte die Errichtung der
Werbeanlage eine Gefährdung der Verkehrssicherheit zur Folge.
Mit am 20. Mai 2010 verkündeten Urteil hat das Verwaltungsgericht Darmstadt die
Verpflichtungsklage auf Erteilung der Baugenehmigung abgewiesen. Der Erteilung
der Baugenehmigung stehe die Tatsache entgegen, dass die Ausnutzung der
Baugenehmigung zu einem offenkundigen Verstoß gegen Vorschriften des
Bauordnungsrechts führen würde. Die Errichtung der Werbetafel würde die durch §
15 Abs. 2 HBO geschützte Sicherheit und Leichtigkeit des öffentlichen Verkehrs
gefährden. Zwar seien im vereinfachten Genehmigungsverfahren gemäß § 57 Abs.
1 Satz 1 HBO Vorschriften des Bauordnungsrechts an sich nicht zu prüfen. Soweit
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1 Satz 1 HBO Vorschriften des Bauordnungsrechts an sich nicht zu prüfen. Soweit
jedoch offenkundig ein Verstoß gegen nicht in § 57 Abs. 1 HBO genannte
Vorschriften des öffentlichen Baurechts vorliege, sei die Bauaufsichtsbehörde
berechtigt, das Vorliegen eines solchen Verstoßes zu prüfen und gegebenenfalls
den Bauantrag wegen Fehlens eines Sachbescheidungsinteresses abzulehnen.
Darüber hinaus sei die Baugenehmigung bereits aufgrund des fehlenden
gemeindlichen Einvernehmens zu versagen gewesen.
Die Klägerin beantragt, die Berufung gegen diese Entscheidung zuzulassen. Sie
macht geltend, dass ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen.
Der Beklagte beantragt, den Zulassungsantrag abzulehnen.
II.
Der statthafte Antrag auf Zulassung der Berufung bleibt ohne Erfolg.
Die von der Klägerin geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des
angegriffenen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) bestehen nicht.
Ernstliche Zweifel im Sinne dieser Vorschrift bestehen, wenn gegen die Richtigkeit
der angegriffenen Entscheidung nach summarischer Prüfung gewichtige
Gesichtspunkte sprechen. Dies ist der Fall, wenn der die Zulassung des
Rechtsmittels begehrende Beteiligte einen die angegriffene Entscheidung
tragenden Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung des
Verwaltungsgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage stellt und sich
ohne nähere Prüfung die Frage nicht beantworten lässt, ob die Entscheidung
möglicherweise im Ergebnis aus einem anderen Grund richtig ist (Kopp/Schenke,
VwGO, 16. Auflage, § 124 Rdnr. 7 m.w.N.).
Die Klägerin macht geltend, die Bauaufsichtsbehörde dürfe - entgegen der
Auffassung des Verwaltungsgerichts - einen Bauantrag nicht deshalb wegen
fehlenden Sachbescheidungsinteresses ablehnen, weil dem Bauvorhaben ihrer
Ansicht nach im vereinfachten Baugenehmigungsverfahren gemäß § 57 HBO nicht
zu prüfende, bauordnungsrechtliche Vorschriften (z. B. § 15 Abs. 2 HBO)
entgegenstehen.
Dieser Vortrag begründet keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der
angegriffenen Entscheidung.
Zwar ist der bauaufsichtliche Prüfungsumfang im vereinfachten
Baugenehmigungsverfahren dahingehend eingeschränkt, dass vor allem die
Zulässigkeit des Vorhabens nach den Vorschriften des Baugesetzbuches und den
aufgrund des Baugesetzbuches erlassenen Vorschriften zu prüfen ist. Zu den nicht
prüfpflichtigen, aber einzuhaltenden Vorschriften zählen demnach die Vorschriften
des Bauordnungsrechts, also auch die Vorschrift über die Verkehrssicherheit von
baulichen Anlagen (§ 15 HBO). Ungeachtet des reduzierten Prüfungsumfangs hat
die Bauaufsichtsbehörde jedoch auch im vereinfachten Genehmigungsverfahren
nach § 57 HBO die ihr allgemein in § 53 HBO übertragene Pflicht, für die Einhaltung
der öffentlich-rechtlichen Vorschriften zu sorgen, und die zu diesem Zweck nach
pflichtgemäßem Ermessen erforderlichen Maßnahmen zu treffen. Das insoweit der
Behörde eingeräumte Ermessen zum bauaufsichtlichen Tätig werden soll und kann
demgemäß bereits anlässlich des Baugenehmigungsverfahrens und im
Baugenehmigungsverfahren ausgeübt werden, soweit dies zur Einhaltung der
öffentlich-rechtlichen Vorschriften erforderlich ist. Denn an der Erteilung einer
Genehmigung für ein Vorhaben, dessen Verwirklichung durch eine
Baueinstellungsverfügung verhindert oder dessen Beseitigung verlangt werden
kann, besteht kein Sachbescheidungsinteresse. Eine Pflicht der
Bauaufsichtsbehörde, bei Rechtsverstößen außerhalb des Prüfungsumfangs des
vereinfachten Genehmigungsverfahrens einzugreifen, kommt jedenfalls dann in
Betracht, wenn erhebliche Gefahren für hochrangige Rechtsgüter - wie Leben und
Gesundheit - vorliegen. Die Bauaufsichtsbehörden dürfen, unter dem
Gesichtspunkt der Bauüberwachung, nicht in allen Fällen „sehenden Auges“ das
Entstehen rechtswidriger Bauvorhaben zulassen. Der Bauherr hat kein
schutzwürdiges Interesse an der Genehmigung eines Vorhabens, das er aus
rechtlichen oder tatsächlichen Gründen nicht verwirklichen kann. Die fehlende
Möglichkeit, einen Bauantrag wegen fehlenden Sachbescheidungsinteresses
abzulehnen, hätte zur Folge, dass die Bauaufsichtsbehörden in derartigen Fällen
zwar die Baugenehmigung erteilen müssten, gleichzeitig oder im unmittelbaren
Anschluss aber gegebenenfalls eine Beseitigungsanordnung bzw. eine
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Anschluss aber gegebenenfalls eine Beseitigungsanordnung bzw. eine
vorbeugende Baueinstellung erlassen müssten. Dies stellte ein nicht
sachgerechtes und widersprüchliches Handeln der Behörde dar. Dass die
Bauaufsichtsbehörde die Baugenehmigung unter dem Gesichtspunkt fehlenden
Sachbescheidungsinteresses versagen kann, wenn das Bauvorhaben im
Widerspruch zu Anforderungen steht, die nicht Gegenstand des eingeschränkten
Prüfungsprogramms sind, entspricht mittlerweile auch der ganz überwiegenden
Meinung in Rechtsprechung und Literatur (vgl. OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom
22.10.2008 - 8 A 10942/08 - BRS 73 Nr. 147; OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom
17.07.1996 - 8 A 11337/95 - AS RP-SL 26, 227; Bayerischer VGH, Urteil vom
23.03.2006 - 26 B 05.555 - BayVBl. 2006, 537; VG Darmstadt, Urteil vom
07.06.2005 - 2 E 2905/04 - NVwZ-RR 2006, 680; Wolf, in: Simon/Busse, Bayerische
Bauordnung, Band I, Stand: Mai 2010, Art. 59 Rdnr. 64 ff.;
Boeddinghaus/Hahn/Schulte, Bauordnung für das Land Nordrhein-Westfalen, Band
II, Stand: 1. Juni 2010, § 68 Rdnr. 39 ff.; Jäde, BayVBl. 2006, 538 <540>).
Bei einem Rechtsverstoß kommt daher bei entsprechender Ermessensbetätigung
eine Ablehnung der Baugenehmigung unter Berufung auf das Fehlen des
Sachbescheidungsinteresses in Betracht. Auf eine wie auch immer zu definierende
Offensichtlichkeit oder Offenkundigkeit eines Rechtsverstoßes gegen nicht zum
bauaufsichtlichen Prüfprogramm gehörendes öffentliches Recht kommt es -
entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts - für die Verneinung des
Sachbescheidungsinteresses nicht an. Voraussetzung ist nur, dass der für den
Rechtsverstoß maßgebliche Sachverhalt abschließend ermittelt worden ist und
sich dieser Rechtsverstoß nicht - etwa durch die Zulassung einer Abweichung nach
§ 63 HBO - ausräumen lässt. Die Frage, ob der Rechtsverstoß so schwer wiegt,
dass er zu einer sofortigen Beseitigung der gerade erst genehmigten Anlage
führen müsste, ist erst im Rahmen der vorzunehmenden Ermessensbetätigung zu
prüfen.
Soweit die Klägerin darüber hinaus als widersprüchlich und damit fehlerhaft rügt,
dass das Verwaltungsgericht die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit des
Vorhabens bejaht habe und dennoch die Versagung der Baugenehmigung wegen
des fehlenden gemeindlichen Einvernehmens (§ 36 Abs. 1 BauGB) als rechtmäßig
erachte, kann auch dieser Vortrag nicht zur Zulassung der Berufung führen. Denn
das Verwaltungsgericht hat einen Anspruch auf die begehrte Baugenehmigung
auch deshalb verneint, weil die Ausnutzung der Baugenehmigung zu einem
Verstoß gegen eine Vorschrift des Bauordnungsrechts (§ 15 Abs. 2 HBO) führen
würde und daher der Bauantrag zu Recht wegen fehlenden
Sachbescheidungsinteresses abgelehnt worden sei. Das Verwaltungsgericht hat
mithin die angegriffene Entscheidung auf mehrere selbständig tragende Gründe
gestützt. Da das Urteil auf einer weiteren selbständig tragenden, nicht erfolgreich
(siehe oben) gerügten Begründung beruht, scheidet eine Zulassung wegen
ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung jedenfalls aus. Es bedarf
auch keiner Ausführungen dazu, ob die weitere Begründung fehlerhaft ist, denn die
fehlerhafte Begründung könnte hinweg gedacht werden, ohne dass sich etwas am
Ergebnis des Urteils ändern würde (vgl. hierzu: Seibert, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 3.
Auflage, § 124 Rdnr. 100).
Die besondere innerstädtische Verkehrssituation im Bereich der geplanten
Werbeanlage, die nach Auffassung der Bauaufsichtsbehörde und des
Verwaltungsgerichts eine Gefährdung der Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs
durch die Werbeanlage zur Folge hätte, wurde als solche im Zulassungsantrag
nicht in Zweifel gezogen. Abgesehen davon bestehen nach den in den Akten
befindlichen Lageplänen, den Ausführungen der Beteiligten und des
Verwaltungsgerichts keine ernstlichen Zweifel daran, dass die Werbeanlage die
Sicherheit und Leichtigkeit des öffentlichen Verkehrs im Sinne von § 15 Abs. 2 HBO
gefährden würde.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Da die Beigeladene keinen
Sachantrag gestellt und mithin kein Kostenrisiko eingegangen ist (§ 154 Abs. 3
VwGO), entspricht es nicht der Billigkeit, die ihr entstandenen Kosten der Klägerin
aufzuerlegen (§ 162 Abs. 3 VwGO).
Die Streitwertfestsetzung richtet sich nach der Bedeutung der Sache für die
Klägerin (§§ 47, 52 GKG) und entspricht der nicht zu beanstandenden Festsetzung
der Vorinstanz.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. §
18 Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. §
66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.