Urteil des HessVGH vom 25.03.1999

VGH Kassel: körperliche unversehrtheit, vorläufiger rechtsschutz, abschiebung, unhcr, registrierung, wahrscheinlichkeit, interessenabwägung, erlass, alter, aussetzung

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Gericht:
Hessischer
Verwaltungsgerichtshof
10. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
10 TG 3991/98
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Norm:
§ 53 Abs 6 S 1 AuslG 1990
(Bosnien-Herzegowina: Abschiebungshindernis im Einzelfall
bejaht)
Gründe
Die nach Zulassung durch den beschließenden Senat statthafte und auch sonst
zulässige Beschwerde ist begründet.
Das von dem Antragsteller mit seiner Beschwerde weiter verfolgte Begehren ist
unter Berücksichtigung der Antragsbegründung vom 16. Juni 1998 sowie des
Schriftsatzes vom 14. Juli 1998 dahin auszulegen, dass die Ausländerbehörde
verpflichtet werden soll, im Hinblick auf den geltend gemachten Anspruch auf
Duldung die Abschiebung zeitweise bis zur Entscheidung darüber auszusetzen.
Trotz des im Schriftsatz vom 14. Juli 1998 verwendeten Begriffs
"Vollziehungsmaßnahmen" richtet sich der Antrag auf Gewährung vorläufigen
Rechtsschutzes ersichtlich nicht gegen die im Bescheid der Antragsgegnerin vom
3. Juli 1997 ebenfalls enthaltene Abschiebungsandrohung, denn der anwaltlich
vertretene Antragsteller hat ausdrücklich einen Antrag auf Erlass einer
einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO gestellt. Diesen Antrag hat das
Verwaltungsgericht in seinem Beschluss vom 10. August 1998 zwar zutreffend für
statthaft gehalten, ihn in der Sache aber zu Unrecht abgelehnt.
Im Hinblick auf die begehrte Sicherung des Anspruchs auf Erteilung einer Duldung
ist ein Anordnungsgrund gegeben, da durch die hier von der Antragsgegnerin
beabsichtigte Abschiebung der mögliche Anspruch des Antragstellers auf deren
zeitweise Aussetzung vereitelt würde (VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom
12.12.1991 - 13 S 1890/98 -, EZAR 622 Nr. 13 = NVwZ-RR 1992, 509; Hess. VGH,
Beschluss vom 14.11.1995 - 12 TG 1385/95 -).
Der Antragsteller hat auch einen Anordnungsanspruch dargetan und glaubhaft
gemacht. Voraussetzung für den Erlass der Sicherungsanordnung wie auch der
Regelungsanordnung ist, dass der Antrag im Hauptsacheverfahren mit
überwiegender Wahrscheinlichkeit Erfolg hätte oder der Ausgang des
Hauptsacheverfahrens mindestens offen und eine vorläufige Regelung unter dem
Gesichtspunkt der Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes geboten ist (Hess.
VGH, Beschluss vom 05.09.1997 - 7 TG 3133/97 -, NJW 1997, 2970, 2971 m.w.N.).
Im letzteren Fall muss zur unmittelbar bevorstehenden Rechtsbeeinträchtigung
hinzu treten, dass deren Hinnahme unter Berücksichtigung der Bedeutung des
Betroffenen Rechtsguts und des Gewichts der Beeinträchtigung für den
Antragsteller unzumutbar erscheint. Dies ist durch eine entsprechende
gerichtliche Interessenabwägung zu klären (Hess. VGH, Beschluss vom
05.09.1997, a.a.O.; OVG Koblenz, NVwZ-RR 1995, 414; Kopp, VwGO, 10. Aufl., §
123 Rdnr. 30; BVerfG, Beschluss vom 13.06.1979 - 1 BvR 699/77 -, BVerfGE 51,
268 ff., 286; anderer Auffassung: Kopp/Schenke, 11. Aufl., § 123 Rdnr. 23 und
Finkelnburg/Jank, Vorläufiger Rechtsschutz, 4. Aufl. 1998, Rdnr. 192).
Wie der Senat bereits in dem Zulassungsbeschluss vom 28. Oktober 1998 - 10 TZ
3307/98 - ausgeführt hat, sprechen gewichtige Gesichtspunkte dafür, dass ein
Anspruch des Antragstellers auf Aussetzung der Abschiebung nach Bosnien-
Herzegowina (BiH) nach § 55 Abs. 2 AuslG i.V.m. § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG wegen
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Herzegowina (BiH) nach § 55 Abs. 2 AuslG i.V.m. § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG wegen
der Besonderheiten seines Falles vor dem Hintergrund der derzeitigen
Verhältnisse in diesem Land besteht. Die zwischenzeitlich zusätzlich gewonnenen
Erkenntnisse haben den Senat in seiner Auffassung noch bestärkt. Selbst wenn
man den Ausgang des Hauptsacheverfahrens als offen ansehen würde, geht hier
eine Abwägung der öffentlichen Interessen an der Abschiebung des Antragstellers
mit dessen Interesse, einstweilen von Abschiebemaßnahmen verschont zu
bleiben, zugunsten des Antragstellers aus, so dass die begehrte einstweilige
Anordnung hier zu erlassen ist.
Dabei legt der Senat zugrunde, dass einem bosniakischen Volkszugehörigen aus
der Republika Srpska (R.S.) in dem hohen Alter des Antragstellers (71 Jahre) ohne
dort lebende Bezugspersonen die Rückkehr in die R.S. nicht zugemutet werden
kann. Wie der Senat bereits in seinem Beschluss vom 28. Oktober 1998 (a.a.O.)
unter Benennung von Erkenntnismitteln ausgeführt hat, ist die Rückkehr von
Bosniaken und kroatischen Bosniern in die R.S. nur in Ausnahmefällen möglich, die
hier nicht vorliegen. In dem genannten Beschluss hat der Senat ferner auf das
Ergebnis der Wahlen in BiH hingewiesen, bei der der radikale Nationalist Poplasen
zum Präsidenten der R.S. gewählt wurde, wodurch selbst mittelfristig Hoffnungen
auf erleichterte Rückkehrmöglichkeiten für Bürgerkriegsflüchtlinge der zuvor
beschriebenen Art in die R.S. zunächst einmal zunichte gemacht worden sein
dürften. Die inzwischen erfolgte Absetzung von Poplasen durch den hohen
Repräsentanten (OHR) hat - zusammen mit dem Brcko-Schiedsspruch - die
Spannungen in der R.S. eher noch verschärft (siehe Rüb, Gewinnen in der
serbischen Republik in Bosnien die Nationalisten die Oberhand?, FAZ, 08.03.1999,
S. 6). Die Angriffe der NATO auf Restjugoslawien dürften sich ebenfalls negativ auf
die Verhältnisse in der R.S. und ein friedliches Zusammenleben zwischen
Bosniaken und Serben zumindest außerhalb der sogenannten "open cities",
auswirken. Jedenfalls ist unter diesen Umständen Personen im Alter des
Antragstellers, der auf fremde Hilfe angewiesen ist, diese Hilfe aber in der R.S.
nicht finden wird, bei summarischer Prüfung eine "Rückkehr" dorthin derzeit nicht
zuzumuten.
Aber auch die "Rückkehr" solcher Flüchtlinge aus der R.S. in die Föderation von
Bosnien und Herzegowina ist aufgrund neuerer Erkenntnisse mit vielen Problemen
behaftet, so dass die Frage, ob sie dem 71-jährigen Antragsteller, der auch in der
Föderation keine Bezugsperson hat, zugemutet werden kann, bei summarischer
Prüfung ebenfalls verneint werden muss.
In seiner bisherigen Rechtsprechung (siehe Beschlüsse vom 12.02.1998 - 10 TZ
472/98 - und vom 16. März 1998 - 10 TZ 3973/97 -) hat der Senat das Vorliegen
eines zwingenden Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG in
Bezug auf die Föderation aufgrund drohender Unterversorgung mit Wohnraum,
Lebensmitteln und medizinischer Betreuung unter Bezugnahme auf die Schrift des
UNHCR Sarajewo vom Mai 1997 "Die behördliche Registrierung von Rückkehrern in
der Föderation Bosnien und Herzegowina ..." (Seite 11, Fußnote 21) und die
Schreiben des Bundesministeriums des Innern an die Verwaltungsgerichte Berlin
und München vom 20. Oktober 1997 verneint. Danach war davon auszugehen,
dass die Regierung von BiH ihren Verpflichtungen aus dem
Rückkehrübernahmeabkommen voll inhaltlich nachkommt und für die
ordnungsgemäße Unterbringung und Registrierung auch solcher Personen sorgt,
die aus dem Gebiet der R.S. stammen. Diese Auskünfte waren deshalb von solch
zentraler Bedeutung, weil ohne Registrierung des Rückkehrers als Flüchtling bzw.
Vertriebener dessen menschenwürdiges Leben in BiH in Frage gestellt ist (siehe
Schreiben des hessischen Bosnien-Beauftragten an den Beauftragten der
Bundesregierung vom 13.08.1998).
Aufgrund der im Senatsbeschluss vom 28. Oktober 1998 (a.a.O.) bereits
verwerteten Auskünfte (siehe UNHCR an das VG Karlsruhe vom 12.09.1997,
Schreiben des Evangelischen Regionalverbandes Frankfurt am Main - Sozialdienst
für Flüchtlinge - vom 05.08.1998; Zusammenfassung der Position des UNHCR
bezüglich jener Gruppen von Personen aus BiH, die weiterhin internationalen
Schutzes bedürfen, vom 26. Juni 1998; Ausarbeitung des UNHCR Sarajewo -
Protection Unit - zur Registrierungspraxis in BiH vom Juni 1998), aber auch
aufgrund neuerer Erkenntnisquellen (siehe insbesondere das Update des UNHCR-
Berichts über "Die behördliche Registrierung von Rückkehrern in der Föderation
und der Anspruch auf Ausweispapiere, Lebensmittelhilfe und medizinische
Versorgung", Stand: November 1998) steht für den Senat nach der hier lediglich
gebotenen und allein möglichen summarischen Überprüfung mit überwiegender
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gebotenen und allein möglichen summarischen Überprüfung mit überwiegender
Wahrscheinlichkeit fest, dass der Antragsteller, der vor seiner Flucht in der jetzigen
R.S. lebte, sich in Gemeinden der Föderation nicht registrieren lassen kann. Zwar
wird im Bericht des UNHCR Sarajewo vom November 1998 ebenfalls auf die
Auskunft des Ministeriums für zivile Angelegenheiten und Kommunikation
hingewiesen, wonach die erzwungene Rückkehr nach dem
Rückübernahmeabkommen als organisiert angesehen werde mit der Folge, dass
die Behörden dem Betroffenen helfen würden, eine Unterkunft zu finden (Seite 14,
Fußnote 44). Darauf, dass es sich hierbei lediglich um eine offizielle Verlautbarung
handelt, die sich mit der Realität nicht unbedingt zu decken braucht, deutet indes
die diplomatische Formulierung auf Seite 15 hin, "ein organisierter Rückkehrer
sollte (gesperrt vom Senat) nach seiner Rückkehr keine Schwierigkeiten haben,
sich entweder bei der örtlichen Stelle des Innenministeriums oder der örtlichen
Behörde für Flüchtlinge und Vertriebene registrieren zu lassen". Dass insoweit
amtliche Verlautbarungen und Realität nicht unbedingt übereinstimmen, erhellen
auch die Angaben in dem zitierten Bericht zur Situation in den einzelnen Kantonen
(siehe zum Kanton Sarajewo Seiten 28/29 und Seite 41). Sie verstärken nach
Auffassung des beschließenden Senats den Gesamteindruck, dass jedenfalls ein
Rückkehrer in der Situation des Antragstellers mit hoher Wahrscheinlichkeit derzeit
nicht in der Lage sein wird, seinen Anspruch auf Registrierung durchzusetzen,
zumal er in der Föderation mit Ausnahme seiner Ehefrau, die selbst auf fremde
Hilfe angewiesen ist (siehe Senatsbeschluss vom heutigen Tage - 10 TG 4162/98 -
), keine Vertrauenspersonen hat, die sich in geeigneter Form und wirksam für ihn
einsetzen können und wollen.
Rückkehrer, die nicht registriert werden, müssen jedoch aufgrund eigener Initiative
ein Unterkommen finden und sich irgendwie "durchschlagen". Dies gelingt auch
vielen, die "über genügend Selbsthilfekapazitäten verfügen", die sie etwa in die
Lage versetzen, zerstörten Wohnraum, in den immer mehr Rückkehrer
ausweichen, wieder herzurichten (ZDWF - Aktuelle Informationen für Rückkehrer,
Seite 6). Der Senat geht indes davon aus, dass der Antragsteller nicht zu diesem
Personenkreis gehört. Aufgrund seines hohen Lebensalters wird es ihm vielmehr
voraussichtlich nicht möglich sein, sich aus eigener Kraft in der Föderation
"durchzuschlagen" und dort aufgrund eigener Initiative eine menschenwürdige
Bleibe und ein Auskommen zu finden. Der Antragsteller müsste sich vielmehr im
Falle der Abschiebung darauf einrichten, auf unabsehbare Zeit in einer der noch
nicht vollständig belegten Sammelunterkünfte (Collective Centers, CC genannt) zu
leben, in denen nach der derzeitigen Erkenntnislage des Senats indes teilweise
sehr schlechte Bedingungen herrschen. Es kann hier offen bleiben, ob die
Verhältnisse in den Sammelunterkünften derart unzureichend sind, dass mit mehr
als beachtlicher Wahrscheinlichkeit Gefahren für die körperliche Unversehrtheit
bzw. Gesundheit des Antragstellers bestünden, so dass seine Abschiebung nur
unter Verletzung der zwingenden Verfassungsnormen des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und
Art. 1 Abs. 1 GG erfolgen könnte (BVerwG, Urteil vom 19.11.1996 - 1 C 6.95 -,
NVwZ 1997, 685, 686 m.w.N.). Jedenfalls führt die hier vorzunehmende
Interessenabwägung unter Berücksichtigung des hohen Werts des gefährdeten
Rechtsguts des Antragstellers dazu, dass diesem derzeit auch eine "Rückkehr" in
die Föderation nicht zugemutet werden kann. Dabei kommt dem Umstand
Bedeutung zu, dass nach der Erlassregelung (vgl. Bosnien-Erlasse des Hessischen
Ministeriums des Innern und für Landwirtschaft, Forsten und Naturschutz vom
23.06.1997 und vom 26.03.1998 - Abschnitt III) Flüchtlinge im Alter des
Antragstellers ohne Familienangehörige in BiH von der "Rückführung" weiterhin
ausgenommen sind bzw. sogar in den Genuss einer verlängerten
Aufenthaltsbefugnis kommen können, allerdings unter der Voraussetzung, dass ihr
Lebensunterhalt in Deutschland gesichert ist. Auch wenn bei der Anwendung des §
32 AuslG (siehe Erlass vom 26.03.1998) humanitäre Gründe mit wirtschaftlichen
Interessen in bedenklicher Weise miteinander verquickt werden, so zeigt doch die
der Erlassregelung zugrunde liegende grundsätzliche Wertentscheidung, dass
öffentliche Interessen in derartigen Fällen hinter den Interessen der betroffenen
Personen zurücktreten müssen. Umso weniger besteht Veranlassung, im Rahmen
der hier vorzunehmenden Interessenabwägung wirtschaftlichen Interessen der
Bundesrepublik Deutschland bzw. des Landes Hessen den Vorrang einzuräumen,
wenn solch gewichtige Rechtsgüter wie die Gesundheit und die körperliche
Unversehrtheit des Antragstellers im Falle einer Abschiebung gefährdet sein
können. Von einer solchen dem Antragsteller drohenden ernsthaften Gefahr geht
der Senat angesichts der Umstände des hier zu entscheidenden Einzelfalles
jedoch aus. Insoweit ist die Lage des Antragstellers nicht vergleichbar mit
derjenigen der meisten Bosnienrückkehrer, für die ein längerer Lageraufenthalt
zwar eine mehr oder weniger große, letztlich aber doch zumutbare Belastung
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zwar eine mehr oder weniger große, letztlich aber doch zumutbare Belastung
darstellt (so auch im Ergebnis VGH Mannheim, Beschluss vom 26.01.1998 - 13 S
287/97 -).
Nach alledem war der Beschwerde stattzugeben mit der Folge, dass die
Antragsgegnerin die Kosten beider Rechtszüge zu tragen hat (§ 154 Abs. 1 VwGO).
Die Festsetzung des Streitwertes beruht auf §§ 14 Abs. 1, 13 Abs. 1, 20 Abs. 3
GKG i.V.m. Abschnitt 6.3 des Streitwertkatalogs 1996.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 25 Abs. 3 Satz 2
GKG).
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.