Urteil des HessVGH vom 30.10.1997

VGH Kassel: wiedereinsetzung in den vorigen stand, rechtsmittelfrist, abholung der post, schriftstück, rücknahme der klage, ablauf der frist, anerkennung, asylbewerber, klagefrist, zustellungsfiktion

1
2
3
4
Gericht:
Hessischer
Verwaltungsgerichtshof
13. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
13 UZ 383/97.A
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 10 Abs 4 AsylVfG 1992, §
74 Abs 1 AsylVfG 1992, §
78 Abs 3 Nr 3 AsylVfG
1992, Art 19 Abs 4 GG, Art
103 Abs 1 GG
(Asylverfahren: Verletzung des rechtlichen Gehörs durch
Abweisung einer Klage als verfristet; Organisation der
Zustellung an Asylbewerber in einer Aufnahmeeinrichtung;
Zustellungsfiktion)
Gründe
Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung gegen das im Tenor dieses
Beschlusses näher bezeichnete Urteil des Verwaltungsgerichts Frankfurt am Main
ist gemäß § 78 Abs. 4 AsylVfG statthaft, bleibt in der Sache aber ohne Erfolg.
Weder liegt der von der Klägerin geltend gemachte Verfahrensmangel der
Versagung rechtlichen Gehörs (§§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylVfG, 138 Nr. 3 VwGO) vor
noch hat die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG).
Die Klägerin sieht eine Verletzung ihres Anspruchs auf Gewährung rechtlichen
Gehörs darin, daß die Vorinstanz die Zustellung des an sie adressierten
Bescheides des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge als
wirksam angesehen und deshalb ihre Asylverpflichtungsklage wegen verspäteter
Klageerhebung als unzulässig abgewiesen hat.
Der den Asylantrag der Klägerin ablehnende Bescheid des Bundesamtes für die
Anerkennung ausländischer Flüchtlinge wurde am 22. Dezember 1995 der
Hessischen Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge in Gießen, in der sich die
Klägerin zu diesem Zeitpunkt aufhielt, übergeben. Noch am 22. Dezember 1995
um 12.00 Uhr erfolgt seitens der Erstaufnahmeeinrichtung ein Aushang in
deutscher, englischer, französischer und somalischer Sprache, aus dem
hervorging, daß Post für die namentlich genannte Klägerin am Freitag, dem 29.
Dezember 1995, im Haus 1004 der Erstaufnahmeeinrichtung in der Zeit von 10.00
Uhr bis 11.00 Uhr zur Abholung bereitliege. Die Klägerin hat den Bescheid nicht in
Empfang genommen. Der Aushang wurde sodann am 2. Januar 1996 entfernt und
der an die Klägerin adressierte Bescheid am 5. Januar 1996 an das Bundesamt für
die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge zurückgesandt.
Das Verwaltungsgericht vertritt die Auffassung, daß der angefochtene
Bundesamtsbescheid der Klägerin wirksam nach § 10 Abs. 4 Satz 4, 2. Halbsatz
AsylVfG zugestellt worden sei. Es könne dahingestellt bleiben, ob die
Zustellungswirkung bereits drei Tage nach Übergabe des Bescheides an die
Erstaufnahmeeinrichtung, also am 25. Dezember 1995, eingetreten sei. Es liege
näher, den Zeitpunkt der Zustellung erst am 29. Dezember 1995 oder dem 3.
Werktag danach eintreten zu lassen, da die Erstaufnahmeeinrichtung der Klägerin
eine Postabholung durch öffentlichen Aushang in der Einrichtung auch erst für den
29. Dezember 1995 in Aussicht gestellt habe. Der Aushang sei so frühzeitig
erfolgt, daß die Klägerin sich auf die Abholung des zuzustellenden Schriftstückes
habe einstellen können. Während der gesamten Zeit vom 22. Dezember 1995 bis
einschließlich 2. Januar 1996 morgens - dem Zeitpunkt, zu welchen der Aushang
abgenommen worden sei, - hätte sie dem Aushang entnehmen können, daß in der
Erstaufnahmeeinrichtung Post zur Abholung für sie bereit gehalten werde. Sie
habe jedoch nichts unternommen, um bei der Verwaltung der
Erstaufnahmeeinrichtung die entsprechende Post zu erhalten. Wenn die
5
6
7
8
Erstaufnahmeeinrichtung die entsprechende Post zu erhalten. Wenn die
Erstaufnahmeeinrichtung den Bescheid nach Nichtabholung am 5. Januar 1996 an
das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge zurückgegeben
habe - so das Verwaltungsgericht -, so sei dies jedenfalls nach Ablauf von drei
Werktagen, gerechnet ab dem 29. Dezember 1995, geschehen. Da die Klägerin im
übrigen nie vorgetragen habe, sich unmittelbar danach um eine Abholung der Post
bemüht zu haben, sei es auch irrelevant, ob der Bescheid während der gesamten
zweiwöchigen Klagefrist in der Erstaufnahmeeinrichtung zur Abholung bereit
gehalten worden sei. Das Nichtbereithalten während der zweiwöchigen Klagefrist
sei erkennbar nicht ursächlich dafür gewesen, daß die Klägerin den Bescheid nicht
abgeholt und auch sonst keine Schritte unternommen habe, die Klagefrist zu
wahren. Nach § 10 Abs. 4 Satz 4, 2. Halbsatz AsylVfG sei zumindest davon
auszugehen, daß drei Tage nach der Möglichkeit, den Bescheid bei der Verwaltung
der Erstaufnahmeeinrichtung abzuholen, eine Zustellung auf jeden Fall als bewirkt
anzusehen sei.
Gegen diese Auffassung des Verwaltungsgerichts wendet sich die Klägerin. Sie ist
der Ansicht, daß gegen die Zustellungsvorschrift des § 10 Abs. 4 AsylVfG in
mehrfacher Hinsicht verstoßen worden sei. Der angefochtene Bescheid sei der
Erstaufnahmeeinrichtung am 22. Dezember 1995 zugegangen und am 29.
Dezember 1995 zur Abholung bereitgestellt worden. Die gesetzliche
Zustellungsfiktion des § 10 Abs. 4 Satz 4, 2. Halbsatz AsylVfG, wonach die
Zustellung am dritten Tage nach der Übergabe an die Einrichtung als bewirkt
gelte, könne nur dann eintreten, wenn der betreffende Bescheid tatsächlich vor
Ablauf dieser Dreitagesfrist zur Abholung bereit gehalten werde. Eine Heilung
dieses Zustellungsfehlers sei nicht dadurch möglich, daß die Zustellungswirkung
auf den vorgesehenen Übergabetag oder aber drei Tage danach verschoben
werde. Ein weiterer Zustellungsfehler liege darin, daß die Erstaufnahmeeinrichtung
den streitgegenständlichen Bescheid nicht bis zum Ablauf der Rechtsmittelfrist für
die Klägerin bereit gehalten, sondern ihn schon am 5. Januar 1996 an das
Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge zurückgesandt habe.
Mit diesem Vorbringen der Klägerin ist der behauptete Gehörsverstoß nicht
hinreichend dargelegt.
Der über Art. 103 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich verbürgte Anspruch der
Prozeßbeteiligten auf Gewährung rechtlichen Gehörs, der seine einfachgesetzliche
Ausprägung für das verwaltungsgerichtliche Verfahren in § 108 Abs. 2 VwGO
gefunden hat, verpflichtet das zuständige Gericht unter anderem dazu, das
Vorbringen der Beteiligten und die von ihnen gestellten Anträge zur Kenntnis zu
nehmen und bei seiner Entscheidung in Erwägung zu ziehen (vgl. z. B.
Senatsbeschlüsse vom 27. April 1995 - 13 UZ 2826/94 -, vom 11. August 1995 -
13 UZ 3537/95 - und vom 23. Oktober 1995 - 13 UZ 2713/94 -, unter Hinweis auf
die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, vgl. z. B. BVerfG,
Beschluß vom 30. Januar 1985 - 1 BvR 876/84 -, BVerfGE 69, 145 (148)). Das
Verwaltungsgericht hat zwar als Folge der Auffassung, die Zustellung des
streitgegenständlichen Bescheides an die Klägerin sei wirksam gewesen, die Klage
als unzulässig abgewiesen, da sie nicht innerhalb der Frist des § 74 Abs. 1, 1.
Halbsatz AsylVfG erhoben worden sei. Folgerichtig hat das Verwaltungsgericht
demgemäß das Vorbringen der Klägerin zu ihrem Verfolgungsschicksal nicht in
Erwägung gezogen. Dies begründet jedoch vorliegend keinen Gehörsverstoß, da
das Grundrecht auf Gewährung rechtlichen Gehörs gemäß Art. 103 Abs. 1 GG
grundsätzlich keinen Schutz vor Entscheidungen gewährt, die den Sachvortrag
eines Beteiligten aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts außer
Betracht lassen (so z. B. BVerfG, Beschluß vom 30. Januar 1985 - 1 BvR 876/84 -,
BVerfGE 69, 145 (148 f.) m. w. N.).
Aus diesem Grundsatz hat der vorliegend zur Entscheidung berufene Senat die
Folgerung gezogen, daß die Abweisung einer Klage als unzulässig wegen
(angeblicher) Versäumung der Klagefrist und die damit einhergehende
Konsequenz der Nichtberücksichtigung des sachlichen Vorbringens eines Klägers
regelmäßig keinen Verstoß gegen die verfassungsmäßig verankerte Pflicht zur
Gewährung rechtlichen Gehörs bedeute (vgl. Beschlüsse vom 10. September 1990
- 13 TE 3624/89 - und vom 11. Juli 1996 - 13 UZ 2400/96.A -). Zur Begründung hat
der Senat ausgeführt, daß der verfassungsrechtliche Anspruch auf Gewährung
rechtlichen Gehörs nicht bereits dann verletzt sei, wenn ein Gericht unter Verstoß
gegen einfachgesetzliche Verfahrensvorschriften eine Asylklage als unzulässig
abgewiesen und daher das Vorbringen des Asylklägers sachlich nicht gewürdigt
habe. Auch der besondere Schutzgedanke des Asylgrundrechts - so der Senat -
9
10
11
habe. Auch der besondere Schutzgedanke des Asylgrundrechts - so der Senat -
gebiete es nicht, die Berufung unter dem Gesichtspunkt eines Verfahrensmangels
wegen der Verletzung rechtlichen Gehörs zuzulassen, wenn das
Verwaltungsgericht infolge unrichtiger Anwendung formellen Rechts nicht zu einer
sachlichen Entscheidung über die Asylverpflichtungsklage gelange. Zwar werde in
diesem Falle der Asylkläger durch die fehlerhafte erstinstanzliche Entscheidung an
der Durchsetzung seines Anspruchs auf Anerkennung als politisch Verfolgter im
Sinne des Asylgrundrechts gehindert. Die gleiche Rechtsfolge trete jedoch auch
dann ein, wenn das Verwaltungsgericht infolge fehlerhafter Subsumtion unter eine
für die Asylgewährung maßgebliche materielle Rechtsbestimmung oder infolge
unzureichender Tatsachenermittlung das ihm zur Kenntnis gebrachte
Asylvorbringen als für seine Entscheidung unerheblich ganz oder teilweise
unberücksichtigt lasse. Die Unanfechtbarkeit derartiger auf unrichtiger
Rechtsanwendung oder unzureichender Sachverhaltsaufklärung beruhender
Endurteile des Verwaltungsgerichts sei die Konsequenz aus der in
verfassungsrechtlich unbedenklicher Weise geregelten Zulassungsberufung, die
die Zulassung des Rechtsmittels vom Vorliegen der abschließend geregelten
Zulassungsgründe abhängig mache. Dabei sei vom Gesetzgeber in Kauf
genommen worden, daß unrichtige erstinstanzliche Entscheidungen auch bei
Vorliegen offenkundiger Rechtsanwendungsfehler oder erheblicher
Verfahrensmängel einer zweitinstanzlichen Überprüfung entzogen seien, wenn
nicht zugleich ein Zulassungsgrund gegeben sei.
Andererseits hat der Senat unter Auseinandersetzung mit seiner zuvor genannten
Auffassung und unter Hinweis auf die Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts zu der Bestimmung des § 81 AsylVfG, wonach die
Klage als zurückgenommen gilt, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung
des Gerichts länger als einen Monat nicht betreibt, im Beschluß vom 1. März 1996
- 13 UZ 4039/95 - die Auffassung vertreten, daß eine handgreiflich unrichtige und
offensichtlich mit dem Gesetz und seiner Zielsetzung nicht zu vereinbarende
Anwendung der einfachgesetzlichen Bestimmung des § 81 AsylVfG angesichts der
unmittelbaren Grundrechtsrelevanz des Sachgebietes (Art. 16 a GG) und im
Hinblick auf die schwerwiegenden und über eine bloße Präklusion hinausgehenden
Konsequenzen des § 81 AsylVfG mit der aus Art. 103 Abs. 1 GG herrührenden
Verpflichtung des Gerichts zur Gewährung rechtlichen Gehörs nicht mehr zu
vereinbaren sei.
Unter Berücksichtigung dieser differenzierten Rechtsprechung könnte einiges dafür
sprechen, daß bei einer handgreiflich unrichtigen und offensichtlich mit dem
Gesetz nicht mehr zu vereinbarenden Auslegung einer für die Bemessung der
Klagefrist maßgeblichen Zustellungsvorschrift - vorliegend des § 10 Abs. 4 AsylVfG
- ebenso ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG zu bejahen ist, wie bei der
entsprechend fehlerhaften Anwendung des § 81 AsylVfG. Denn derartige
Zustellungsvorschriften dienen der Verwirklichung rechtlichen Gehörs, da sie
gewährleisten, daß der Adressat Kenntnis von dem zuzustellenden Schriftstück
nehmen und seine Rechtsverteidigung darauf einrichten kann (vgl. allgemein zu
Zustellungsvorschriften: BVerfG, Beschlüsse vom 5. Juli 1984 - 1 BvR 1269/83 -,
BVerfGE 67, 208 (211) und vom 29. November 1989 - 1 BvR 1011/88 -, BVerfGE
81, 123 (129)). Auch die Konsequenzen, die sich aus einer fehlerhaften
Anwendung einer Zustellungsvorschrift wie der des § 10 Abs. 4 AsylVfG ergeben
können - Unzulässigkeit der Klage -, und die Auswirkungen einer fehlerhaften
Anwendung des § 81 AsylVfG - fiktive Rücknahme der Klage - sind für den
Asylkläger gleichermaßen einschneidend. Ob auch die fehlerhafte Anwendung des
§ 10 Abs. 4 AsylVfG unter den vom Senat in dem Beschluß vom 1. März 1996
aufgestellten besonderen Voraussetzungen einen Gehörsverstoß zu begründen
vermag, bedarf hier jedoch keiner Entscheidung, weil die Anwendung dieser
Bestimmung durch das Verwaltungsgericht weder handgreiflich falsch noch
offensichtlich mit dem Gesetz und seiner Zielsetzung unvereinbar ist.
Eine handgreiflich unrichtige Anwendung der Bestimmung des § 10 Abs. 4 AsylVfG
durch die Vorinstanz hat die Klägerin selbst nicht behauptet. Es kann auch nicht
festgestellt werden, daß die Auslegung des § 10 Abs. 4 AsylVfG, wie sie vom
Verwaltungsgericht vorgenommen worden ist, mit der Zielsetzung des Gesetzes
nicht mehr zu vereinbaren wäre. Mit der Zielsetzung des § 10 Abs. 4 AsylVfG als
gehörsspezifischer Zustellungsvorschrift wäre nach Auffassung des Senats eine
Anwendung erst dann nicht mehr vereinbar, wenn sie den Mindestanforderungen
nicht gerecht würde, die der Grundsatz des rechtlichen Gehörs nach Art. 103 Abs.
1 GG an eine faire Verfahrensgestaltung stellt (vgl. dazu auch BVerwG, Beschluß
vom 7. Dezember 1983 - BVerwG 7 B 159/83 -, NVwZ 1984, 234). Gegen diese
12
13
14
15
vom 7. Dezember 1983 - BVerwG 7 B 159/83 -, NVwZ 1984, 234). Gegen diese
Mindestanforderungen, die der Grundsatz des rechtlichen Gehörs an eine faire
Verfahrensgestaltung stellt, verstößt auch eine objektiv fehlerhafte
Rechtsanwendung solange nicht, wie sie einem Beteiligten ausreichend
Gelegenheit beläßt, sich in allen für ihn wichtigen Punkten zur Sache zu äußern,
diese Möglichkeit aber aus von dem Beteiligten zu vertretenden Gründen
versäumt wird (vgl. hierzu BVerfG, Beschluß vom 30. Januar 1985 - 1 BvR 99/84 -,
BVerfGE 69, 126 (137), m. w. N.). Diese Mindestanforderungen erfüllt die
Bestimmung des § 10 Abs. 4 AsylVfG auch in der von der Klägerin als fehlerhaft
gerügten Auslegung durch das Verwaltungsgericht.
Soweit die Klägerin rügt, der Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung
ausländischer Flüchtlinge sei erst nach der Frist, innerhalb derer er auf jeden Fall
als zugestellt gelte, zur Abholung für die Klägerin bereitgestellt worden, kann dies
einen Gehörsverstoß nicht begründen. Selbst wenn man davon ausgehen wollte,
daß den Mindestanforderungen, die der Grundsatz des rechtlichen Gehörs an eine
faire Verfahrensgestaltung stellt, nicht genügt wäre, wenn nicht spätestens am
Tage des Eintritts der Zustellungsfiktion auch in zumutbarer Weise die Möglichkeit
eröffnet wurde, von dem zuzustellenden Schriftstück Kenntnis zu erlangen, kann
ein Gehörsverstoß durch die durch die Vorinstanz vorgenommene Auslegung des
§ 10 Abs. 4 AsylVfG nicht festgestellt werden. Denn das Verwaltungsgericht trägt
bei seiner Auslegung des § 10 Abs. 4 Satz 4, 2. Halbsatz AsylVfG diesem Umstand
dadurch Rechnung, daß es die Fiktionswirkung frühestens am Tag des erstmaligen
Bereithaltens des Schriftstücks eintreten läßt. Ob diese Auslegung des § 10 Abs. 4
Satz 4, 2. Halbsatz AsylVfG mit dem geltenden einfachen Recht vereinbar ist, kann
nach dem oben Gesagten dahingestellt bleiben. Ein Gehörsverstoß wird durch
diese Auslegung jedenfalls nicht bewirkt.
Entsprechendes gilt, soweit die Klägerin rügt, der zuzustellende Bescheid sei nicht
bis zum Ablauf der Rechtsmittelfrist für sie bereitgehalten worden. Ob ein
Nichtbereithalten bis zum Ablauf der Rechtsmittelfrist gegebenenfalls zu einem
Gehörsverstoß führen kann, wenn die Erstaufnahmeeinrichtung allgemein die
Postausgabe- oder Postverteilungszeiten bekanntmacht, ohne darauf
hinzuweisen, daß für namentlich benannte Personen ein zuzustellendes
Schriftstück bereitliegt, bedarf an dieser Stelle keiner Entscheidung. Jedenfalls
wenn - wie vorliegend - eine Woche vor der beabsichtigten Übergabe des
Schriftstücks in einem Aushang darauf hingewiesen wird, daß einer namentlich
benannten Person ein Schriftstück übergeben werden soll, führt die Auffassung
des Verwaltungsgerichts, wonach die Entfernung des Aushangs und die
Rücksendung des zugestellten Schriftstücks an den Adressaten vor Ablauf der
Rechtsmittelfrist unschädlich seien, nicht zu einem Gehörsverstoß. Denn der
einzige Zweck des Aufenthaltes des Ausländers in der Erstaufnahmeeinrichtung ist
die Durchführung des Asylverfahrens. Deshalb kann es ihm zugemutet werden,
sich zur Vermeidung von Nachteilen regelmäßig nach Posteingängen zu
erkundigen (vgl. auch BT-Drucks. 12/4450 zu § 10 Abs. 3 bis 5 AsylVfG). Wenn er
dieser Obliegenheit - wie hier sieben Tage lang - nicht nachkommt, indem er es
unterläßt, am Ort des Aushangs nachzusehen, ob für ihn bestimmte Post zur
Abholung bereit liegt, stellt es keine unzumutbare Einschränkung der Möglichkeit,
von dem Bescheid Kenntnis zu erlangen dar, wenn der Aushang nach dem
vorgesehenen Übergabetag entfernt und der Bescheid an den Absender
zurückgesandt wird.
Auch der von der Klägerin geltend gemachte Zulassungsgrund des § 78 Abs. 3 Nr.
1 AsylVfG ist nicht gegeben, da der vorliegenden Rechtssache die ihr von der
Klägerin beigemessene grundsätzliche Bedeutung nicht zukommt.
Es kann zunächst dahingestellt bleiben, ob die Klägerin die grundsätzliche
Bedeutung der Rechtssache schon nicht in einer den Anforderungen des § 78 Abs.
4 Satz 4 AsylVfG genügenden Weise dargelegt hat. Nach dieser
asylverfahrensrechtlichen Bestimmung muß zur hinreichenden Darlegung des
Zulassungsgrundes des § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG zumindest dargetan werden,
welche konkrete und in ihrer Bedeutung über den Einzelfall hinausreichende
Rechtsfrage oder welche bestimmte und für eine Vielzahl gleichgelagerter Fälle
bedeutsame Frage tatsächlicher Art im Berufungsverfahren geklärt werden soll
und inwiefern diese Frage einer (weitergehenden) Klärung im Berufungsverfahren
bedarf. Grundsätzliche Bedeutung im Sinne der vorgenannten
asylverfahrensrechtlichen Bestimmung hat ein Asylstreitverfahren nämlich nur
dann, wenn es eine tatsächliche oder rechtliche Frage aufwirft, die für die
Berufungsinstanz entscheidungserheblich ist und die über den Einzelfall hinaus im
16
17
18
19
20
21
22
Berufungsinstanz entscheidungserheblich ist und die über den Einzelfall hinaus im
Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung einer Klärung bedarf (ständige
Rechtsprechung des Senats, vgl. beispielsweise Beschluß vom 13. März 1996 - 13
UZ 195/96 -).
Eine Rechts- oder Tatsachenfrage wird von der Klägerin nicht formuliert. Sie trägt
der Sache nach vor, daß die im Zusammenhang mit dem von ihr gerügten
Gehörsverstoß aufgeworfenen Rechtsfragen zugleich die Zulassung der Berufung
wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache rechtfertigten. Ob damit
der erhobenen Grundsatzrüge schon wegen nicht hinreichender Darlegung der
Erfolg versagt bleiben muß, bedarf jedoch keiner Entscheidung. Denn selbst bei
einer für die Klägerin günstigen Betrachtung könnte allenfalls davon ausgegangen
werden, daß sie die folgenden Rechtsfragen in einem Berufungsverfahren geklärt
wissen möchte:
- Tritt die gesetzliche Zustellungsfiktion des § 10 Abs. 4 Satz 4, 2. Halbsatz
AsylVfG nur dann ein, wenn der betreffende Bescheid vor Ablauf der in dieser
Bestimmung genannten Frist bereitgehalten wird?
- Ist für den Fall, daß der Bescheid nicht vor Ablauf der Frist des § 10 Abs. 4 Satz 4,
2. Halbsatz AsylVfG bereitgehalten wird, eine "Heilung" durch "Verschieben" des
Beginns der Dreitagesfrist auf auf den Tag des erstmaligen Bereithaltens möglich?
- Setzt die Wirksamkeit der Zustellung nach § 10 Abs. 4 Satz 4, 2. Halbsatz
AsylVfG voraus, daß das an den Asylbewerber in der Aufnahmeeinrichtung
zuzustellende Schriftstück während der gesamten Rechtsmittelfrist bereitgehalten
wird?
Hinsichtlich dieser Rechtsfragen - würde es aber - selbst wenn sie von der Klägerin
angemessen formuliert worden wären - an dem notwendigen Klärungsbedarf
fehlen, da sie sich anhand des Wortlauts sowie aus dem Sinn und Zweck der
Bestimmung des § 10 Abs. 4 AsylVfG eindeutig beantworten lassen, ohne daß es
der Durchführung eines Berufungsverfahrens bedürfte.
Aus § 10 Abs. 4 Satz 1 AsylVfG ergibt sich, daß die Aufnahmeeinrichtung
Zustellungen und formlose Mitteilungen an Ausländer, deren letzte bekannte
Anschrift im Sinne des § 10 Abs. 2 AsylVfG die der Aufnahmeeinrichtung ist,
vorzunehmen hat. Zu diesem Zweck sind durch die Aufnahmeeinrichtung
Postausgabe- und Postverteilungszeiten für jeden Werktag bekanntzumachen (§
10 Abs. 4 Satz 2 AsylVfG). Die Postverteilung hat somit derart zu erfolgen, daß die
für den Adressaten bestimmte Post von diesem bei einer zentralen Ausgabestelle
selbst abgeholt werden muß, oder aber Bedienstete der Aufnahmeeinrichtung den
Adressaten in dessen Unterkunft aufsuchen, um ihm das Schriftstück
auszuhändigen. Die Verpflichtung der Aufnahmeeinrichtung, die Abhol- oder
Verteilungszeiten für jeden Werktag bekanntzumachen und die Postausgabe
entsprechend der Bekanntmachung durchzuführen, soll bewirken, daß den
Adressaten von Schriftstücken spätestens am dritten Tag nach Übergabe des
Schriftstücks an die Aufnahmeeinrichtung, mithin bei Eintritt der Fiktionswirkung
des § 10 Abs. 4 Satz 4, 2. Halbsatz AsylVfG auch die Möglichkeit der
Kenntnisnahme eingeräumt wird. Sollte es trotz entsprechender Organisation der
Postausgabe- oder verteilung dazu kommen, daß dem Adressaten des
Schriftstücks vor Eintritt der Fiktionswirkung des § 10 Abs. 4 Satz 4, 2. Halbsatz
AsylVfG die Möglichkeit der Kenntnisnahme nicht eingeräumt worden ist, führt dies
- entgegen der Auffassung der Klägerin - nicht dazu, daß die Bestimmung des § 10
Abs. 4 Satz 4, 2. Halbsatz AsylVfG keine Anwendung findet. Nach dem eindeutigen
Wortlaut des § 10 Abs. 4 Satz 4, 2. Halbsatz AsylVfG tritt die Fiktionswirkung am
dritten Tage nach der Übergabe des Schriftstücks an die Aufnahmeeinrichtung ein.
Nicht vorausgesetzt wird, daß dem Asylbewerber am dritten Tag nach Übergabe
an die Aufnahmeeinrichtung auch durch diese die Möglichkeit eingeräumt worden
sein muß, von dem Schriftstück tatsächlich Kenntnis zu nehmen. Sollte eine
tatsächliche Kenntnisnahme nicht möglich gewesen sein, könnte dies jedoch nach
§ 60 VwGO bei Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen dazu führen, daß
dem Asylbewerber Wiedereinsetzung in eine versäumte Frist zu gewähren ist.
Aus den obigen Ausführungen ergibt sich zwar, daß die von der
Erstaufnahmeeinrichtung in Gießen gewählte Organisation der Postausgabe in der
Art, daß der Asylbewerber durch Aushang namentlich aufgefordert wird, das
zuzustellende Schriftstück an einem bestimmten Tag abzuholen, mit den
Vorgaben des § 10 Abs. 4 AsylVfG nicht vereinbar ist. Zur dahingehenden Klärung
bedarf es jedoch - wie die obigen Ausführungen zeigen - nicht der Durchführung
23
24
25
26
27
bedarf es jedoch - wie die obigen Ausführungen zeigen - nicht der Durchführung
eines Berufungsverfahrens.
Die im Zusammenhang mit der von der Klägerin erhobenen Gehörsrüge
möglicherweise für klärungsbedürftig erachtete Rechtsfrage, ob ein
Nichtbereithalten des Schriftstücks vor Eintritt der Fiktionswirkung des § 10 Abs. 4
Satz 4, 2. Halbsatz AsylVfG durch ein "Verschieben" des Beginns der Dreitagesfrist
auf den Tag des erstmaligen Bereithaltens geheilt werden kann, kann sich schon
gar nicht stellen. Da ein erstmaliges Bereithalten nach Eintritt der Fiktionswirkung -
wie oben ausgeführt - nicht zur Unwirksamkeit der Zustellung führt, sondern
allenfalls einen Anspruch auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand begründen
kann, bedarf es überhaupt keiner Heilungsmöglichkeit. Es widerspräche im übrigen
auch der Intention des Gesetzgebers, die Asylverfahren zu beschleunigen, wenn
der Lauf der Dreitagesfrist vom erstmaligen Bereithalten des Schriftstücks
abhängig gemacht würde. Dann wäre nämlich der Beginn des Laufs der
Rechtsmittelfrist von einer individuellen Handlung der Aufnahmeeinrichtung
abhängig.
Letztlich ergibt sich ein nur im Berufungsverfahren zu befriedigender
Klärungsbedarf auch nicht, soweit es um die Klärung der denkbaren Rechtsfrage
geht, ob die Wirksamkeit der Zustellung nach § 10 Abs. 4 Satz 4, 2. Halbsatz
AsylVfG voraussetzt, daß das zuzustellende Schriftstück während der gesamten
Rechtsmittelfrist bereitzuhalten ist. Hier bedarf es keines Eingehens auf die Frage,
ob das zuzustellende Schriftstück bereits nach dem erstmaligen erfolglosen
Versuch der Übergabe an den Empfänger oder nachdem dieser es am ersten
Tage des Bereithaltens nicht abgeholt hat, an den Absender zurückgesandt
werden darf, oder ob es von der Aufnahmeeinrichtung zumindest innerhalb der
Frist des § 10 Abs. 4 Satz 4, 2. Halbsatz AsylVfG bereitgehalten werden muß. Die
Notwendigkeit, daß zuzustellende Schriftstück während der gesamten
Rechtsmittelfrist bereitzuhalten, läßt sich der Bestimmung des § 10 Abs. 4 AsylVfG
jedenfalls nicht entnehmen. Auch weder die Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4
GG, die die Effektivität des Rechtsschutzes gebietet, noch der grundgesetzlich
garantierte Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG)
verpflichten dazu, das zuzustellende Schriftstück bis zum Ende der
Rechtsmittelfrist für den Adressaten bereitzuhalten. Durch das Nichtbereithalten
des zuzustellenden Schriftstücks während der gesamten Rechtsmittelfrist wird
weder der Zugang zum Gericht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu
rechtfertigender Weise erschwert, noch führt dies dazu, daß das von Verfassungs
wegen gebotene Ausmaß an Gehör, das sachangemessen ist, um dem Erfordernis
eines wirksamen Rechtsschutzes gerecht zu werden, nicht mehr gewährleistet ist
(vgl. hierzu BVerfG, Beschluß vom 29. November 1989 - 1 BvR 1011/88 -, BVerfGE
81, 123 (129)). Unter Berücksichtigung der Tatsache, daß es einem Asylbewerber
in einer Erstaufnahmeeinrichtung zuzumuten ist, sich - wie oben ausgeführt -
regelmäßig nach Posteingängen zu erkundigen, beziehungsweise sich für eine
Postübergabe bereitzuhalten, sowie in Ansehung des Verwaltungsmehraufwandes,
der mit einer Bereithaltungspflicht während der gesamten Rechtsmittelfrist für den
Betreiber einer Aufnahmeeinrichtung entsteht, verstößt die Regelung des § 10
Abs. 4 Satz 4, 2. Halbsatz AsylVfG, soweit sie ein Bereithalten des zuzustellenden
Schriftstücks bis zum Ende der Rechtsmittelfrist nicht gebietet, weder gegen Art.
19 Abs. 4 GG noch gegen Art. 103 Abs. 1 GG. Dies gilt umso mehr als in Fällen, in
denen dem Asylbewerber ohne dessen Verschulden eine Zustellung nicht
ausgehändigt werden kann, die Möglichkeit der Wiedereinsetzung in den vorigen
Stand besteht.
Da die Klägerin mit ihrem Rechtsmittel erfolglos bleibt, hat sie die Kosten des
Antragsverfahren zu tragen (§ 154 Abs. 2 VwGO). Gerichtskosten werden nach §
83 b Abs. 1 AsylVfG nicht erhoben. Aus diesem Grunde bedarf es keiner
Festsetzung eines Streitwertes für das Antragsverfahren.
Der Antrag der Klägerin auf Gewährung von Prozeßkostenhilfe ist abzulehnen, da
die beabsichtigte Rechtsverfolgung - was sich aus den obigen Ausführungen ergibt
- keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet (§§ 166 VwGO in Verbindung mit
114 ZPO).
Dieser Beschluß ist unanfechtbar (§§ 152 Abs. 1 VwGO, 78 Abs. 5 Satz 2, 80
AsylVfG).
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.