Urteil des HessVGH vom 07.05.1990

VGH Kassel: politische verfolgung, ausreise, beschneidung, religionsunterricht, minderheit, bevölkerung, wahrscheinlichkeit, anerkennung, islam, staatliche verfolgung

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Gericht:
Hessischer
Verwaltungsgerichtshof
12. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
12 UE 54/86
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 1 AsylVfG 1992, § 4
AsylVfG 1992, Art 16 Abs 2
S 2 GG
Leitsatz
Hinsichtlich des verwitweten 48jährigen Vaters erfolglose, hinsichtlich der beiden
absehbar wehrpflichtigen Söhne dagegen erfolgreiche Asylverpflichtungsklage einer aus
einem Dorf in der Südosttürkei stammenden christlichen Familie syrisch-orthodoxen
Glaubens, deren Mitglieder sich vor der Ausreise fast 10 Jahre lang in Istanbul
aufgehalten haben. nachgehend: BVerwG, B. v. 10.09.1991 - 9 C 118/90 -
Tatbestand
Der am ... 1942 in Bakisyan, Bezirk Kerhuran, Provinz Mardin, geborene Kläger zu
1) ist der Vater der am ...1970 in Bakisyan und am ... 1972 in Istanbul geborenen
Kläger zu 2) und 3). Sämtliche Kläger sind türkische Staatsangehörige syrisch-
orthodoxen Glaubens. Sie reisten am 14. März 1980 zusammen mit ihrer
zwischenzeitlich verstorbenen Ehefrau bzw. Mutter - mit dem Flugzeug aus
Istanbul kommend - über den Flughafen Frankfurt am Main in die Bundesrepublik
Deutschland ein. Der Kläger zu 1) war im Besitz eines am 20. August 1979 in
Istanbul ausgestellten und für zwei Jahre gültigen Nationalpasses; die Kläger zu 2)
und 3) waren im Paß ihrer Mutter eingetragen.
Die erste Ehefrau N.K. des Klägers zu 1) und Mutter der Kläger zu 2) und 3) ist am
20. November 1980 verstorben; seit 1981 oder 1982 ist der Kläger zu 1) wieder
mit einer türkischen Christin verheiratet. Aus der ersten Ehe sind außer den
Klägern zu 2) und 3) noch weitere vier Kinder hervorgegangen: Der am 15.
September 1966 geborene Y. und der am 18. März 1975 geborene M. kamen
zusammen mit den Klägern ins Bundesgebiet; das Asylvorfahren von Y.K. , dessen
Ehefrau S. bereits unanfechtbar Asyl erhalten hat, ist noch in zweiter Instanz
rechtshängig (Hess. VGH 12 UE 55/86); M.K. kam am 13. April 1980 bei einem
Verkehrsunfall ums Leben. Die am 5. September 1957 geborene M., verheiratete
C., und der am 1. Mai 1959 geborene A. sind - ebenso wie ihre jeweiligen
Ehegatten A.C. und M.K. - unanfechtbar als Asylberechtigte anerkannt. Aus der
zweiten Ehe des Klägers zu 1) sind 1982 und 1983 zwei weitere Kinder
hervorgegangen. Die Eltern des Klägers zu 1) sind verstorben.
Mit Schriftsatz ihrer Bevollmächtigten vom 24. April 1980 beantragten die Kläger
ihre Anerkennung als Asylberechtigte mit folgender Begründung: Sie seien
christlich-orthodoxen Glaubens, gehörten der aramäischen Volksgruppe an und
stammten aus dem Südosten der Türkei. Zunächst sei es dem Kläger zu 1) trotz
immerwährender Verfolgungen der christlichen Türken durch Mohammedaner
gelungen, den Lebensunterhalt für seine Familie durch Bewirtschaftung von Land
zu verdienen. Im Jahre 1968 hätten Mohammedaner jedoch seine Weinberge
zerstört, indem sie alle Rebstöcke herausgerissen oder abgeholzt hätten. Im
selben Jahr sei der Kläger zu 1) von Mohammedanern bei der Feldbestellung
überfallen und so schwer zusammengeschlagen worden, daß er 14 Tage nicht
arbeitsfähig gewesen sei, und ihm seien seine beiden Zugochsen weggetrieben
worden. Auf seine Anzeige hin seien einige der Täter zwar festgenommen, jedoch
nach zwei Tagen wieder freigelassen worden. Als er sich deswegen bei der Polizei
beschwert habe, sei er ohne Erklärung weggejagt worden. In der Folgezeit hätten
ihm die angezeigten Mohammedaner den Tod angedroht, ihm mehrmals
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ihm die angezeigten Mohammedaner den Tod angedroht, ihm mehrmals
aufgelauert und sein Haus umstellt. Daraufhin sei er mit seiner Familie nach
Istanbul gezogen, wo er 1970 Arbeit in einer von griechisch-orthodoxen Christen
betriebenen Drahtfabrik gefunden habe, welche jedoch 1975 aufgrund ständiger
Übergriffe von Moslems geschlossen worden sei. Eine neue Arbeitsstelle habe er
wegen seines christlichen Glaubens, der aus seinem Geburtsort und seinem
Namen ersichtlich sei, nicht finden können. Er habe schließlich mit seinem ältesten
Sohn zusammen eine Schneiderei eröffnet, welche innerhalb der ersten vier
Monate bereits zweimal ausgeraubt worden sei. Dies hätten ihm moslemische
Nachbarn zuvor angedroht gehabt, wobei sie ihn immer wieder als Gottlosen
beschimpft und aufgefordert hätten, zum Islam überzutreten. Außerdem habe
sein Wohnungsgeber den Mietzins verdoppelt, nachdem er von der
Religionszugehörigkeit erfahren hatte, und auf die Beschwerde des Klägers zu 1)
diesen zusammengeschlagen und aus der Wohnung geworfen. Schließlich sei das
Schneidergeschäft im Jahre 1979 zum wiederholten Male ausgeplündert worden,
und hierbei seien nicht nur die Stoffe gestohlen, sondern alle Maschinen
mitgenommen oder zerstört worden. Die Polizei habe auf seine Anzeige hin zwar
ein Protokoll aufgenommen, ihm jedoch trotz mehrmaliger Nachfrage keine
Auskunft über den Fortgang der Ermittlungen erteilt, sondern ihm erklärt, daß er
als Christ an den Vorkommnissen selbst schuld sei. Wegen der Anzeige sei er in
der Folgezeit massiv von seinen Nachbarn bedroht worden, und die Kläger zu 2)
und 3) seien unter Schmähungen und Prügeln von mohammedanischen
Schulkindern am Schulbesuch gehindert worden. Als der Kläger zu 1) auch dies zur
Anzeige gebracht habe, sei ihm von Polizei und Schulleitung lediglich erklärt
worden, daß er mit Bestrafung rechnen müsse, wenn er seine schulpflichtigen
Kinder zuhause behalte. In Anbetracht dieser ihnen auch in Istanbul widerfahrenen
Übergriffe und des ihnen von staatlicher Seite verweigerten Schutzes hätten die
Kläger nicht länger in der Türkei bleiben können.
Bei seiner persönlichen Anhörung bei der Ausländerbehörde am 28. April 1980 gab
der Kläger zu 1) u.a. als Religion "christlich-orthodox" und als letzte Berufstätigkeit
im Heimat-/Herkunftsland "selbständig als Schneider" an; unter der Rubrik
Sprachkenntnisse wurde "aramäisch, türkisch" eingetragen. Auf die Frage nach
Verwandten im Bundesgebiet verwies der Kläger zu 1) auf zwei Cousins sowie auf
einen bereits eingebürgerten Onkel namens I.A.. Im übrigen bezog er sich auf den
anwaltlichen Asylantrag, dessen Inhalt er als richtig bestätigte.
Anläßlich seiner Anhörung im Rahmen der Vorprüfung durch das Bundesamt für
die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge am 29. April 1981 in Bergkamen-
Oberaden ließ der Kläger zu 1) seine Angaben bei der Ausländerbehörde
hinsichtlich der Religion in "syr.-christlich-orthodox" und hinsichtlich der
Sprachkenntnisse in "aramäisch, etwas türkisch" ändern. Außerdem führte er aus:
Er habe keine Schule besucht und auch keine Berufsausbildung erhalten. Von Juli
1962 bis Juli 1964 habe er in Tekirdag Militärdienst geleistet. Im Jahre 1968 sei er in
seinen Weinbergen von fünf bis sechs Moslems überfallen und so
zusammengeschlagen worden, daß er 14 Tage lang bettlägerig gewesen sei. Auf
seine Anzeige hin sei einer der Täter, den er persönlich gekannt habe, von der
Polizei festgenommen, jedoch nach zwei Tagen wieder freigelassen worden. Aus
Rache habe dieser alle seine Weinstöcke vernichtet und ihm für den Fall, daß er
das Dorf nicht verlasse, mit dem Tode gedroht. Im Jahre 1970 sei die Familie nach
Istanbul übergesiedelt, wo er, der Kläger zu 1), bis 1975 in einer Fabrik gearbeitet
habe, die einem griechisch-orthodoxen Christen gehört habe und in der
ausschließlich Christen beschäftigt gewesen seien. Sie seien mehrmals von
fanatischen Moslems überfallen und zusammengeschlagen, der Fabrikeigentümer
sei bedroht, und die Waren seien geraubt worden; daraufhin habe der
Fabrikeigentümer die Türkei verlassen. Er, der Kläger zu 1), habe 1975 in Istanbul
eine Schneiderei eröffnet. Dieses Geschäft sei in den Jahren 1975, 1976, 1977 und
zuletzt Ende 1979 von Moslems überfallen und ausgeraubt worden. Beim letzten
Mal seien gerade gekaufte und noch nicht bezahlte Stoffballen entwendet worden.
Die Täter hätten nur die Nähmaschinen stehengelassen. Diese habe er dann
veräußern müssen, um den Stoff zu bezahlen. Er habe jedesmal bei der Polizei
Anzeige erstattet, und ihm sei auch jeweils versprochen worden, daß man der
Sache nachgehen werde. Wenn er sich jedoch später nach dem Stand der
Ermittlungen erkundigt habe, sei er als Ungläubiger beschimpft und
hinausgeworfen worden. Es sei auch kaum noch möglich gewesen, zum
Gottesdienst zu gehen. Auf dem Weg dorthin seien sie mehrmals von Moslems
geschlagen und verhöhnt worden.
Mit Bescheid vom 2. Dezember 1982 - zugestellt am 22. April 1983 - lehnte das
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Mit Bescheid vom 2. Dezember 1982 - zugestellt am 22. April 1983 - lehnte das
Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge die Asylanträge der
Kläger und des Sohnes bzw. Bruders Y.K. ab. Zur Begründung wurde ausgeführt:
Es sei nicht ersichtlich, daß die Christen in der Türkei allgemein in asylerheblicher
Weise verfolgt wären und daß darüber hinaus im vorliegenden Fall für die Ausreise
aus der Türkei politische Verfolgung ursächlich gewesen sei oder daß bei einer
Rückkehr mit asylerheblichen Verfolgungsmaßnahmen gerechnet werden müsse.
Weder gebe es in der Türkei eine gezielte staatliche Verfolgung von Angehörigen
der christlichen Minderheit, noch könne von einer generellen Duldung, Untätigkeit
oder gar Unterstützung des türkischen Staates bei Übergriffen Dritter die Rede
sein, wenn gleich die türkische Regierung nicht in jedem Fall die Sicherheit des
Einzelnen habe garantieren können. Die Folgen der früheren desolaten
innenpolitischen Zustände hätten im übrigen nicht nur die christlichen
Minderheiten, sondern die türkische Bevölkerung in ihrer Gesamtheit getroffen.
Daß vielfach Christen Opfer von Angriffen und Bedrohungen von Privatpersonen
wurden, sei nicht in erster Linie auf ihre Volks- bzw. Religionszugehörigkeit,
sondern auf ihre relativ bessere wirtschaftliche Situation sowie auf ihre - durch
Abwanderung eines großen Teils der arbeits- und verteidigungsfähigen Männer
geschwächte - Selbstverteidigungskraft zurückzuführen. Gegen die von den
Klägern geltend gemachten Bedrohungen und Übergriffe von Privatpersonen sei
der Schutz des türkischen Staates in Anspruch zu nehmen. Daß gezielt staatlicher
Schutz - trotz nachdrücklichen Bemühens hierum und Ausschöpfung aller
Möglichkeiten des Rechtsweges - verweigert worden sei, hätten die Kläger nicht
hinreichend substantiiert und glaubhaft gemacht. Insbesondere sei nicht
dargelegt, daß die Volks- bzw. Religionszugehörigkeit der Kläger für die
vorgetragenen Raubüberfälle von ausschlaggebender Bedeutung gewesen sei,
zumal derartige Übergriffe regelmäßig auch von moslemischen Asylbewerbern
geltend gemacht würden. Nach dem vorliegenden Informationsmaterial sei im
übrigen davon auszugehen, daß auch Christen bei Anrufung der Gerichte in der
Türkei zu ihrem Recht gelangen könnten. Durch den Machtwechsel vom 12.
September 1980 habe sich überdies die Sicherheitslage grundlegend gebessert;
dies gelte sowohl für die traditionellen Siedlungsgebiete der Christen in der
Südosttürkei als auch für die Stadt Istanbul, wo mit Blick auf die intakte syrisch-
orthodoxe Gemeinde auch für vom Lande dorthin ziehende Christen die
Möglichkeit bestehe, sich einen Arbeits- und Sozialkreis zu schaffen. Für die Kläger
zu 2) und 3) seien weitere eigene Asylgründe ohnehin nicht dargetan.
Mit Bescheid vom 20. April 1983 forderte der Landrat des Landkreises Gießen den
Kläger zu 1) zur Ausreise auf und drohte ihm für den Fall, daß er nicht innerhalb
eines Monats nach Eintritt der Unanfechtbarkeit dieses Bescheids und des
Bescheids des Bundesamtes der Ausreiseaufforderung nachkomme, die
Abschiebung an.
Mit Schriftsatz vom 26. April 1983, der am folgenden Tage einging, erhoben die
Kläger gegen Bundesamtsbescheid und Ausreiseaufforderung Klage.
Zur Begründung wiederholten sie durch ihre Bevollmächtigten im wesentlichen das
Vorbringen des Klägers zu 1) bei dessen Vorprüfungsanhörung, das sie wie folgt
ergänzten: Die Christen würden im Südosten und auch sonst innerhalb der Türkei
wegen ihrer Volks- bzw. Religionszugehörigkeit nach wie vor Opfer von Übergriffen
durch Mohammedaner, die der Staat generell dulde oder bei denen er mindestens
untätig bleibe. In Istanbul könnten sich die christlichen Gemeinden überdies nur
noch mit Mühe behaupten, da sie zunehmend an Größe verlören und der Staat
dies gleichgültig oder gar wohlwollend zur Kenntnis nehme. Hiervon abweichende
Auskünfte deutscher staatlicher Stellen seien von diplomatischer Rücksichtnahme
geprägt, und ihnen sei deshalb mit Skepsis zu begegnen.
In der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht am 3. Oktober 1985
erklärte der informatorisch gehörte Kläger zu 1): Was er bei der
Vorprüfungsanhörung bekundet habe, treffe zu. Darüber hinaus sei am Morgen
des Karfreitags im Jahre 1959 von Moslems auf sie geschossen worden, als sie in
ihrem Dorf auf dem Weg zur Kirche gewesen seien; dabei sei ein Christ namens
Gevriye ums Leben gekommen. Im Jahre 1965 hätten Moslems das Dorf gestürmt
und den christlichen Dorfvorsteher mit Namen S. getötet.
Die Kläger beantragten,
die Beklagte zu 1) unter Aufhebung des Bescheids des Bundesamtes für die
Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 2. Dezember 1982, soweit dieser sie
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Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 2. Dezember 1982, soweit dieser sie
betrifft, zu verpflichten, sie als Asylberechtigte anzuerkennen, sowie den Bescheid
des Landrats des Landkreises Gießen vom 20. April 1983 aufzuheben.
Die Beklagte zu 1) beantragte,
die Klage abzuweisen.
Sie machte geltend: Im Anerkennungsverfahren vor dem Bundesamt sei
zutreffend festgestellt worden, daß ein Anspruch auf Asylgewährung nicht bestehe.
Eine generelle mittelbare Verfolgung der Christen finde in der Türkei nicht statt. Im
übrigen seien die den Klägern vor ihrem Umzug nach Istanbul widerfahrenen
Übergriffe für ihre Ausreise nicht ursächlich gewesen. Soweit sie geltend machten,
auch in Istanbul verfolgt worden zu sein, sei dies nicht glaubhaft. Grund hierfür
wäre überdies die damalige instabile innenpolitische Situation gewesen, die sich
seit September 1980 allgemein und auch für die christliche Minderheit deutlich
verbessert habe. Daher biete sich mindestens in Istanbul für Angehörige der
christlichen Minderheit eine inländische Fluchtalternative, wobei die die Kläger
erwartende materielle Lebenssituation asylrechtlich unbeachtlich sei; von einer
lebensbedrohlichen Existenzgefährdung der Christen in Istanbul könne aber
ohnehin nicht die Rede sein.
Der Beklagte zu 2) beantragte ebenfalls,
die Klage abzuweisen.
Der Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten äußerte sich nicht.
Das Verwaltungsgericht gab mit Urteil vom 3. Oktober 1985 den Klagen unter
Zulassung der Berufung statt und führte zur Begründung aus: Die Kläger seien als
Asylberechtigte anzuerkennen, denn sie seien politisch Verfolgte i.S. des Art. 16
Abs. 2 Satz 2 GG. Politisch Verfolgter sei ein Ausländer, der in seiner Person
liegenden Eigenschaften wegen oder aufgrund seiner Überzeugungen
Verfolgungsmaßnahmen staatlicher Organe seines Heimat- oder Herkunftslandes
erlitten oder zu befürchten habe. Diese Voraussetzungen erfüllten die Kläger, da
sie als syrisch-orthodoxe Christen einer Gruppe angehörten, die in jüngster Zeit in
asylrechtlich erheblicher Weise verfolgt worden sei. Es erscheine allerdings
zweifelhaft, ob von einer religiösen Gruppenverfolgung gesprochen werden könne;
die Situation stelle sich eher als eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer
bestimmten sozialen Gruppe dar, nämlich einer durch das gemeinsame Merkmal
des christlichen Glaubens verbundenen Minderheit. Nach 1960 sei die syrisch-
orthodoxe Minderheit zunehmend nicht mehr in der Lage gewesen, sich gegen die
vornehmlich aus Neid und Feindseligkeit erfolgten Übergriffe türkischer Moslems
zu wehren. Staatliche Hilfe hätten die Christen nur in seltenen Fällen zu erlangen
vermocht. Insofern treffe die Stellungnahme von Msgr. Wilschowitz vom 9. April
1981 den Kern der Sache, wenn es sich hierbei auch um eine vereinfachende
Darstellung der Situation der Christen in der Türkei handele. Die Beklagte zu 1)
habe die Lage der Christen in zahlreichen Bescheiden (etwa vom 10. Dezember
1982 - Tür-T-13538 -) ebenfalls zutreffend geschildert. Da die Kläger nach ihren
glaubhaften Darlegungen in der Türkei mit feindlich gesinnten Moslems in
Berührung gekommen seien, könne auch nicht davon ausgegangen werden, daß
sie von der allgemein stattfindenden Gruppenverfolgung der Christen in der Türkei
ausgenommen gewesen seien. Zudem müßten sie bei einer Rückkehr in die Türkei
befürchten, dort in asylrechtlich erheblicher Weise verfolgt zu werden. Zwar habe
sich insgesamt gesehen die Sicherheitslage nach dem Militärputsch am 12.
September 1980 deutlich verbessert. Dies gelte jedoch - bedingt durch
zunehmende Abwanderung - nicht für die christlichen Minderheiten, so daß von
einer weiterhin bestehenden Gruppenverfolgung gesprochen werden müsse.
Schließlich gebe es keine Möglichkeit, der Gruppenverfolgung innerhalb der Türkei
auszuweichen. Die als inländische Fluchtalternative in Betracht kommenden
übrigen Großstädte der Türkei seien nicht in der Lage, die große Zahl der
abgewanderten Christen aufzunehmen und ihnen das Existenzminimum zu
gewährleisten. Die Rückkehr der Christen würde deshalb voraussichtlich zu
Spannungen führen, die sich zu pogromartigen Übergriffen steigern könnten.
Letztes Endes könne aber dahinstehen, ob zum gegenwärtigen Zeitpunkt die
Minderheit der Christen in der Türkei verfolgt werde; sie müsse hiermit jedenfalls in
absehbarer Zukunft ernsthaft rechnen; denn die weitere Entwicklung lasse sich vor
dem Hintergrund der wachsenden Islamisierungstendenzen nicht sicher
abschätzen. Nach alledem sei den Klägern Asyl zu gewähren. Dementsprechend
sei auch die Klage begründet, die sich gegen den Bescheid des Beklagten zu 2)
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sei auch die Klage begründet, die sich gegen den Bescheid des Beklagten zu 2)
richtet.
Gegen dieses ihm am 5. Dezember 1985 zugestellte Urteil hat der
Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten mit Schriftsatz vom 27. Dezember
1985 - eingegangen am 31. Dezember 1985 - Berufung eingelegt.
Er macht geltend: Die Kläger hätten weder bisher eine asylrechtlich erhebliche
Verfolgung erlitten, noch brauchten sie eine solche für den Fall ihrer Rückkehr zu
befürchten. In Istanbul, wo die Kläger vor ihrer Ausreise gelebt hätten, seien die
syrisch-orthodoxen Christen bereits in der Zeit vor dem Militärputsch keiner
asylrechtlich relevanten Gruppenverfolgung ausgesetzt gewesen. Schwierigkeiten
und Diskriminierungen hätten damals nicht den Grad einer asylrechtlich
erheblichen Verfolgung erreicht, und es gebe auch keine Anhaltspunkte dafür, daß
der türkische Staat seinerzeit die in Istanbul lebenden syrisch-orthodoxen Christen
gezielt benachteiligt habe. Die damalige schlechte wirtschaftliche Situation habe
zugewanderte Moslems in gleicher Weise betroffen. Anhaltspunkte dafür, daß
Übergriffe Dritter gerade an die Religions- und Volkszugehörigkeit der syrisch-
orthodoxen Christen angeknüpft hätten, fehlten ebenfalls; die betreffenden
Übergriffe seien vielmehr Abbild der damaligen Gewaltkriminalität gewesen und
ohne Rücksicht auf die Religions- und Volkszugehörigkeit der Opfer erfolgt, zumal
ihre Häufigkeit nach der Machtübernahme durch die Militärs rapide abgenommen
habe. Im übrigen habe es sich um Einzelfälle gehandelt, aus denen sich eine dem
türkischen Staat zurechenbare politische Verfolgung nicht herleiten lasse. Die den
Klägern persönlich widerfahrenen Schwierigkeiten in Istanbul hätten nicht den Grad
einer asylrechtlich relevanten Verfolgung erreicht. Den Klägern drohe auch für den
Fall ihrer Rückkehr keine politische Verfolgung. Sie erhielten zumindest seit dem
Militärputsch - trotz einer in jüngerer Zeit bemerkbaren allgemeinen Tendenz zur
Islamisierung - in allen Landesteilen bei Übergriffen im Grundsatz ausreichenden
staatlichen Schutz.
Der Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten beantragt,
das Urteil des Verwaltungsgerichts Wiesbaden vom 3. Oktober 1985 in bezug
auf die Beklagte zu 1) aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Kläger beantragen,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigen die erstinstanzliche Entscheidung und tragen ergänzend vor: Aus
nunmehr bekannt gewordenen Erkenntnisquellen ergebe sich, daß in der Türkei
eine asylrechtlich relevante Gruppenverfolgung der Christen unter der
schützenden Hand des Staates stattfinde. Zum einen würden Schüler durch
Zwang zur Teilnahme am islamischen Religionsunterricht in ihrer
Religionsausübungsfreiheit beeinträchtigt. Zum anderen schütze der türkische
Staat syrisch-orthodoxe Christen im Bezirk Midyat nicht vor Gewalttaten, sondern
fördere offensichtlich sogar derartige Übergriffe.
Die Beklagte zu 1) stellt zu der Berufung keinen Antrag.
Der Senat hat aufgrund des Beschlusses vom 8. November 1989 Beweis erhoben
über die Asylgründe der Kläger durch deren Vernehmung als Beteiligte durch den
Berichterstatter als beauftragten Richter. Wegen des Ergebnisses der
Beweisaufnahme wird auf die Niederschrift vom 19. Dezember 1989 verwiesen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung
einverstanden erklärt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der
Beteiligten wird auf die von diesen eingereichten Schriftsätze, den einschlägigen
Vorgang des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge -
Gesch.-Z.: Tür-S-56581 - und die über die Kläger zu 1) und 2) geführten
Ausländerakten des Landrats des Landkreises Gießen (drei Hefter) Bezug
genommen, ferner auf die über den Sohn bzw. Bruder Y.K. der Kläger geführten
Ausländerbehördenakten (zwei Hefter) und Gerichtsakten (VG Wiesbaden II/1 E
5602/83 und Hess. VGH 12 UE 55/86). Diese sind ebenso Gegenstand der
Beratung gewesen wie die nachfolgend aufgeführten Dokumente:
1. Dez. 1978 Yonan: "Assyrer heute" 2. 11.04.1979 Auswärtiges Amt an Bay. VGH
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1. Dez. 1978 Yonan: "Assyrer heute" 2. 11.04.1979 Auswärtiges Amt an Bay. VGH
3. Mai/Juni 1979 pogrom Nr. 64 (Yonan: "Die Lage der christlichen Minderheiten in
der Türkei" u.a.) 4. 07.08.1979 Dr. Harb-Anschütz an Bay. VGH 5. 12.11.1979 epd
Dokumentation Nr. 49/79: "Christliche Minderheiten aus der Türkei" 6. Nov. 1979
Ev. Akademie Bad Boll, Materialdienst 2/80: "Christen aus der Türkei suchen Asyl"
7. Mai 1980 pogrom Nr. 72/73 (Yonan: "Der unbekannte Völkermord an den
Assyrern 1915 - 1918" u.a.) 8. 20.05.1980 Patriarch Yakup III und Bischof Cicek vor
dem VG Gelsenkirchen 9. 15.10.1980 Carragher an Bay. VGH 10. 09.04.1981
Msgr. Wilschowitz: "Die Situation der christlichen Minderheiten in der Türkei" 11.
29.04.1981 Reisebericht einer schwedisch-norwegischen Reisegruppe 12.
02.05.1981 Dr. Hofmann: "Zur Lage der Armenier in Istanbul/Konstantinopel" 13.
12.06.1981 Prof. Dr. Kappert vor VG Hamburg 14. 06.07.1981 Staatssekretär von
Staden (BT-Drs. 9/650) 15. 20.07.1981 IGFM an VG Wiesbaden 16. 22.07.1981
Vocke an VG Karlsruhe 17. 04.08.1981 Auswärtiges Amt an VG Wiesbaden 18.
24.11.1981 RA Wiskandt an Bundesamt: "Situation der Christen in der Türkei" 19.
21.01.1982 Schweiz. Ev. Pressedienst Nr. 3 20. 03.02.1982 Auswärtiges Amt an
VG Minden 21. 26.03.1982 Auswärtiges Amt an VG Trier 22. 07.04.1982 Pfarrer
Diestelmann: "Die Situation der syrisch-orthodoxen Christen ...." 23. 19.04.1982
Carragher zum Gutachten Wiskandt 24. 28.04.1982 Dr. Hofmann zum Gutachten
Wiskandt 25. 06.05.1982 Diakonisches Werk EKD zum Gutachten Wiskandt 26.
18.05.1982 Ev. Gemeinde dt. Sprache in der Türkei an EKD 27. 26.07.1982
Sürjanni Kadim an VG Minden 28. 17.08.1982 Dr. Harb-Anschütz an VG Minden 29.
1983 Kraft, in "Christ in der Gegenwart": "Fremde und Außenseiter" 30. Mai 1983
Ev. Akademie Bad Boll, Protokolldienst 27/83: "Studienfahrt in die Türkei" 31.
25.05.1984 Auswärtiges Amt an VG Karlsruhe 32. 12.06.1984 epd Dokumentation
Nr. 26/84: "Die Lage der christlichen Minderheiten in der Türkei ...." 33. 26.06.1984
Auswärtiges Amt an Bay. VGH 34. 11.09.1984 Auswärtiges Amt an Hess. VGH 35.
14.09.1984 Dr. Gehring an VG Minden 36. 09.11.1984 Auswärtiges Amt an VGH
Baden-Württemberg 37. 03.12.1984 RA Müller, RA Wiskandt, Dr. Gehring und
Erzbischof Cicek als sachverständige Zeugen vor dem Bay. VGH 38. 1985
Anschütz: "Die syrischen Christen vom Tur'Abdin" 39. 04.02.1985 Dr. Hofmann an
VG Stuttgart 40. 17.03.1985 Prof. Dr. Wießner an VG Stuttgart 41. 07.05.1985 Dr.
Binswanger an VGH Baden-Württemberg 42. 30.05.1985 Dr. Gehring an VG
Gelsenkirchen 43. 22.06.1985 RA Müller: "Reisebericht zur Lage der Christen in der
Türkei" 44. 07.10.1985 Auswärtiges Amt an VG Ansbach 45. 01.07.1986 EKD an
VG Hamburg 46. 14.10.1986 Prof. Dr. Wießner an VG Hamburg 47. 06.01.1987 Dr.
Tasci vor VG Gelsenkirchen 48. 07.04.1987 Yonan: Gutachten 49. 23.04.1987
Yonan an Bundesamt; Stellungnahme 50. 01.06.1987 Auswärtiges Amt an VG
Ansbach 51. 30.06.1987 Ev. Gemeinde deutscher Sprache in der Türkei an VGH
Baden-Württemberg 52. 06.07.1987 Auswärtiges Amt an VGH Baden-Württemberg
53. 18.12.1987 Auswärtiges Amt an OVG Bremen 54. 15.01.1988 Dr. Oehring an
VGH Baden-Württemberg 55. April 1988 Regine Erichsen: "Die Religionspolitik im
türkischen Erziehungswesen von der Atatürk-Ära bis heute" in: Zeitschrift für
Kulturaustausch 1988, S. 234 ff. 56. 15.05.1988 Taylan an VG Karlsruhe 57.
25.05.1988 Dr. Oehring an VG Düsseldorf 58. Juli 1988 Auswärtiges Amt - Bericht
zur "Lage der Christen in der Türkei" 59. 11.07.1988 Dr. Oehring an VG Kassel 60.
02.09.1988 Dr. Binswanger an VGH Baden-Württemberg 61. 24.09.1988 Dr.
Binswanger an VG Karlsruhe 62. 02.11.1988 Taylan an Hess. VGH 63. Dez. 1988
Gesellschaft für bedrohte Völker - Gutachten - 64. 09.12.1988 Pfarrer Klautke vor
VG Köln 65. 08.01.1989 Wochenzeitschrift "Ikibine Dogru": "Die geheimen
Beschlüsse des islamischen internationalen Rates sind enthüllt." 66. 12.01.1989
Auswärtiges Amt an VG Ansbach 67. 17.01.1989 Auswärtiges Amt an Hess. VGH
68. 27.01.1989 Dr. Binswanger an Hess. VGH 69. März 1989 Gesellschaft für
bedrohte Völker: "Wie einst die Hugenotten - Glaubensflüchtlinge heute" in: Vierte
Welt Aktuell Nr. 79 70. 20.03.1989 Dr. Oehring an VG Ansbach 71. 02.04.1989 Dr.
Oehring an Hess. VGH 72. 09.06.1989 Auswärtiges Amt an VG Ansbach 73.
01.07.1989 Sternberg-Spohr u.a. in terre des hommes "Religionsverfolgte aus der
Türkei - politische Verfolgte oder Scheinasylanten" 74. 04.09.1989 Taylan an OVG
Koblenz 75. 18.10.1989 Auswärtiges Amt an OVG Münster 76. Nov. 1989
Weber/Günter/Reuter: "Zur Lage der Christen in der Türkei", Bericht einer
ökumenischen Besuchsreise vom 31.08. bis 11.09.1989 unter Leitung von Dr.
Oehring 77. 22.01.1990 Taylan vor Hess. VGH 78. 22.03.1990 6 Zeugen vor Hess.
VGH
Entscheidungsgründe
In Anbetracht des Einverständnisses der Beteiligten kann der Senat ohne
mündliche Verhandlung entscheiden (§ 125 Abs. 1 i.V.m. § 101 Abs. 2 VwGO).
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I.
Die Berufung des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten ist frist- und
formgerecht eingelegt (§§ 124, 125 VwGO) und auch sonst zulässig. Sie ist
nämlich vom Verwaltungsgericht zugelassen worden (§ 32 Abs. 1 AsylVfG), und der
Bundesbeauftragte war zur Einlegung der Berufung ungeachtet dessen befugt,
daß er sich am erstinstanzlichen Verfahren weder durch einen Antrag noch sonst
beteiligt hat (BVerwG, 11.03.1983 - 9 B 2597.82 -, BVerwGE 67, 64 = NVwZ 1983,
413; Hess. VGH, 11.08.1981 - X OE 649/81 -, ESVGH 31, 268).
II.
Die Berufung des Bundesbeauftragten ist aber nur hinsichtlich des Klägers zu 1)
begründet, denn dieser kann nach der maßgeblichen Sach- und Rechtslage im
Zeitpunkt der Berufungsentscheidung die Anerkennung als Asylberechtigter durch
die Beklagte zu 1) nicht beanspruchen, weil er nicht politisch verfolgt ist (§§ 1 Abs.
1, 4 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG). Dagegen ist die Berufung
hinsichtlich der Kläger zu 2) und 3) nicht begründet; zu ihrer Anerkennung als
Asylberechtigte ist die Beklagte zu 1) vom Verwaltungsgericht im Ergebnis zu
Recht verpflichtet worden.
Asylrecht als politisch Verfolgter im Sinne von Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG genießt,
wer bei einer Rückkehr in seine Heimat aus politischen Gründen
Verfolgungsmaßnahmen mit Gefahr für Leib und Leben oder Beeinträchtigungen
seiner persönlichen Freiheit zu erwarten hat (BVerfG, 02.07.1980 - 1 BvR 147/80
u.a. -, BVerfGE 54, 341 = EZAR 200 Nr. 1). Eine Verfolgung ist in Anlehnung an
den Flüchtlingsbegriff des Art. 1 Abschn. A Nr. 2 GK als politisch im Sinne von Art.
16 Abs. 2 Satz 2 GG anzusehen, wenn sie auf die Rasse, Religion, Nationalität,
Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder die politische
Überzeugung des Betroffenen zielt (BVerfG, 01.07.1987 - 2 BvR 478/86 u.a. -,
BVerfGE 76, 143 = EZAR 200 Nr. 20; BVerwG, 17.05.1983 - 9 C 874.82 -, BVerwGE
67, 195 = EZAR 201 Nr. 5, u. 26.06.1984 - 9 C 185.83 -, BVerwGE 69, 320 = EZAR
201 Nr. 8). Diese spezifische Zielrichtung ist anhand des inhaltlichen Charakters
der Verfolgung nach deren erkennbarem Zweck und nicht nach den subjektiven
Motiven des Verfolgenden zu ermitteln (BVerfG, 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 u.a. -,
BVerfGE 79, 315 = EZAR 201 Nr. 20; zur Motivation vgl. BVerwG, 19.05.1987 - 9 C
184.86 -, BVerwGE 77, 258 = EZAR 200 Nr. 19). Werden nicht Leib, Leben oder
physische Freiheit gefährdet, sondern andere Grundfreiheiten wie etwa die
Religionsausübung oder die berufliche und wirtschaftliche Betätigung, so sind
allerdings nur solche Beeinträchtigungen asylrelevant, die nach Intensität und
Schwere die Menschenwürde verletzen und über das hinausgehen, was die
Bewohner des Heimatstaats aufgrund des dort herrschenden Systems allgemein
hinzunehmen haben (BVerfG, 02.07.1980 - 1 BvR 147/80 u.a. -, a.a.O., u.
01.07.1987 - 2 BvR 478/86 u.a. -, a.a.O.; BVerwG, 18.02.1986 - 9 C 16.85 -,
BVerwGE 74, 31 = EZAR 202 Nr. 7). Die Gefahr einer derartigen Verfolgung ist
gegeben, wenn dem Asylsuchenden bei verständiger Würdigung aller Umstände
seines Falles politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, wobei
die insoweit erforderliche Zukunftsprognose auf die Verhältnisse im Zeitpunkt der
letzten gerichtlichen Tatsachenentscheidung abgestellt und auf einen absehbaren
Zeitraum ausgerichtet sein muß (BVerwG, 03.12.1985 - 9 C 22.85 -, EZAR 202 Nr.
6 = NVwZ 1986, 760 m.w.N.). Einem Asylbewerber, der bereits einmal politisch
verfolgt war, kann eine Rückkehr in seine Heimat nur zugemutet werden, wenn die
Wiederholung von Verfolgungsmaßnahmen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit
ausgeschlossen ist (BVerfG, 02.07.1980 - 1 BvR 147/80 u.a. -, a.a.O.; BVerwG,
25.09.1984 - 9 C 17.84 -, BVerwGE 70, 169 = EZAR 200 Nr. 12 m.w.N.). Der
Asylbewerber ist aufgrund der ihm obliegenden prozessualen Mitwirkungspflicht
gehalten, umfassend die in seine eigene Sphäre fallenden Ereignisse zu schildern,
die seiner Auffassung zufolge geeignet sind, den Asylanspruch zu tragen (BVerwG,
08.05.1984 - 9 C 141.83 -, EZAR 630 Nr. 13 = NVwZ 1985, 36, 12.11.1985 - 9 C
27.85 -, EZAR 630 Nr. 23 = InfAuslR 1986, 79, u. 23.02. 1988 - 9 C 32.87 -, EZAR
630 Nr. 25) und insbesondere auch den politischen Charakter der
Verfolgungsmaßnahmen festzustellen (vgl. BVerwG. 22.03.1983 - 9 C 68.81 -
Buchholz 402.24 Nr. 44 zu § 28 AuslG, u. 18.10.1983 - 9 C 473.82 -, EZAR 630 Nr.
8 = ZfSH/SGB 1984, 281). Bei der Darstellung der allgemeinen Umstände im
Herkunftsland genügt es dagegen, daß die vorgetragenen Tatsachen die nicht
entfernt liegende Möglichkeit politischer Verfolgung ergeben (BVerwG, 23.11.1982
- 9 C 74.81 -, BVerwGE 66, 237 = EZAR 630 Nr. 1). Die Gefahr einer asylrelevanten
Verfolgung kann schließlich nur festgestellt werden, wenn sich das Gericht in
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Verfolgung kann schließlich nur festgestellt werden, wenn sich das Gericht in
vollem Umfang die Überzeugung von der Wahrheit des von dem Asylbewerber
behaupteten individuellen Verfolgungsschicksals verschafft, wobei allerdings der
sachtypische Beweisnotstand hinsichtlich der Vorgänge im Verfolgerstaat bei der
Auswahl der Beweismittel und bei der Würdigung des Vortrags und der Beweise
angemessen zu berücksichtigen ist (BVerwG, 12.11. 1985, a.a.O.).
Der erkennende Senat ist nach diesen Grundsätzen aufgrund der eigenen
Angaben und Aussagen der Kläger, der beigezogenen Akten und der in das
Verfahren eingeführten Dokumente zu der Überzeugung gelangt, daß die Kläger
zwar nicht kraft innerstaatlich geltender völkerrechtlicher Vereinbarung als
Asylberechtigte anzuerkennen sind (1.) und daß sie auch vor ihrer Ausreise weder
als Mitglieder der Gruppe der syrisch-orthodoxen Christen politisch verfolgt (2.)
noch persönlich von Verfolgungsmaßnahmen betroffen (3.) waren und deshalb als
unverfolgt ausgereist anzusehen sind, ferner daß die Kläger auch bei einer
Rückkehr in die Türkei keine Gruppenverfolgung zu befürchten haben (4.), daß aber
die Kläger zu 2) und 3) dann - anders als der Kläger zu 1) (5.) - persönlich
politischer Verfolgung im Sinne des Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG ausgesetzt sein
werden (6.).
1. Die Kläger, an deren syrisch-orthodoxer Glaubenszugehörigkeit der Senat in
Anbetracht der Angaben des Klägers zu 1) bei der Vorprüfungsanhörung und des
in den Bundesamtsakten befindlichen auf den Kläger zu 1) lautenden
Personalausweises der Erzdiözese der syrisch-orthodoxen Kirche von Antiochien in
Europa - trotz hiermit nicht völlig in Einklang stehender Angaben in früheren
Stadien des Asylverfahrens, die auf nicht hinreichend genaue Übertragung
zurückgehen könnten -, letztlich keine Zweifel hegt, können ihre Anerkennung
nicht (schon) aufgrund des Abkommens über die Ausdehnung gewisser
Maßnahmen zugunsten russischer und armenischer Flüchtlinge auf andere
Kategorien von Flüchtlingen vom 30. Juni 1928 (abgedruckt in: Société des
Nations, Recueil des Traités, Bd. 89 <1929>, S. 64) erreichen. Da die Kläger
1942 und später geboren sind und erst 1980 die Türkei verlassen haben, kann
dieses Abkommen auf sie ohnehin nicht angewandt werden (ständige und vom
BVerwG durch Urteil vom 17.05.1985 - 9 C 874.82 -, BVerwGE 67, 195 = EZAR 201
Nr. 5, bestätigte Rechtsprechung des Hess. VGH, vgl. z.B. 11.08.1981 - X OE
649/81 -, ESVGH 31, 268, 07.08.1986 - X OE 189/82 -, 01.02.1988 - 12 OE 419/82 -
sowie 02.05.1990 - 12 UE 1078/84, 12 UE 1116/84 u. 12 UE 2784/87 -). Der Senat
kann deshalb offenlassen, ob dem durch die genannte Vereinbarung geschützten
Personenkreis überhaupt noch ein Anspruch auf Asylanerkennung oder
Asylgewährung in anderer Form zusteht, nachdem § 39 Nr. 4 AsylVfG die bis dahin
in § 28 AuslG enthaltene Bezugnahme auf Art. 1 GK und die dort in Abschn. A Nr. 1
enthaltene Verweisung auf die erwähnte Vereinbarung ersatzlos beseitigt hat und
eine Asylanerkennung nunmehr allein an die Voraussetzungen des Art. 16 Abs. 2
Satz 2 GG anknüpft (vgl. dazu auch Berberich, ZAR 1985, 30 ff., Köfner/Nicolaus,
ZAR 1986, 11, 15, und zu Art. 1 Abschn. A Nr. 2 GK BVerwG, 25.10.1988 - 9 C
76.87 -, EZAR 200 Nr. 22).
2. Der Senat hat auch nicht feststellen können, daß die Angehörigen der syrisch-
orthodoxen Minderheit in der Türkei bis zur Ausreise der Kläger einer
unmittelbaren oder mittelbaren Gruppenverfolgung ausgesetzt waren.
Asylerhebliche Bedeutung haben nicht nur unmittelbare Verfolgungsmaßnahmen
des Staats; dieser muß sich vielmehr auch Übergriffe nichtstaatlicher Personen
und Gruppen als mittelbare staatliche Verfolgungsmaßnahmen zurechnen lassen,
wenn er sie anregt, unterstützt, billigt oder tatenlos hinnimmt und damit den
Betroffenen den erforderlichen Schutz versagt (BVerfG, 02.07.1980 - 1 BvR 147/80
u.a. -, BVerfGE 54, 341 = EZAR 200 Nr. 1). Eine derartige staatliche
Verantwortlichkeit kommt aber nur in Betracht, wenn der Staat wegen fehlender
Schutzfähigkeit oder -willigkeit zum Schutz gegen Ausschreitungen oder Übergriffe
nicht in der Lage ist, wobei dem Staat für Schutzmaßnahmen besonders bei
spontanen und schwerwiegenden Ereignissen eine gewisse Zeitspanne zugebilligt
werden muß (BVerwG, 23.02.1988 - 9 C 85.87 -, BVerwGE 79, 79 = EZAR 202 Nr.
3). Asylrelevante politische Verfolgung - und zwar sowohl unmittelbar staatlicher
als auch mittelbar staatlicher Art - kann sich nicht nur gegen Einzelpersonen,
sondern auch gegen durch gemeinsame Merkmale verbundene Gruppen von
Menschen richten mit der regelmäßigen Folge, daß jedes Gruppenmitglied als von
dem Gruppenschicksal mitbetroffen anzusehen ist (BVerfG, 02.07.1980 - 1 BvR
147/80 u.a. -, BVerfGE 54, 341 = EZAR 200 Nr. 1, u. 01.07.1987 - 2 BvR 478/86
u.a. -, BVerfGE 76, 143 = EZAR 200 Nr. 20; BVerwG, 02.08.1983 - 9 C 599.81 -,
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u.a. -, BVerfGE 76, 143 = EZAR 200 Nr. 20; BVerwG, 02.08.1983 - 9 C 599.81 -,
BVerwGE 67, 314 = EZAR 203 Nr. 1, u. 23.02.1988 - 9 C 85.87 -, a.a.O.). Die
Annahme einer Gruppenverfolgung setzt eine Verfolgungsdichte voraus, die in
quantitativer Hinsicht die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen
aufweist, daß ohne weiteres von einer aktuellen Gefahr eigener Betroffenheit jedes
Gruppenmitglieds gesprochen werden kann (BVerwG, 08.02.1989 - 9 C 33.87 -,
EZAR 202 Nr. 15 = NVwZ-RR 1989, 502). Als nicht verfolgt ist nur derjenige
Gruppenangehörige anzusehen, für den die Verfolgungsvermutung widerlegt
werden kann; es kommt nicht darauf an, ob sich die Verfolgungsmaßnahmen
schon in seiner Person verwirklicht haben (BVerwG, 23.02.1988 - 9 C 85.87 -,
a.a.O.). Auch eine frühere Gruppenverfolgung führt für die Betroffenen zur
Anwendung des herabgestuften Prognosemaßstabs hinsichtlich künftiger
Verfolgung (BVerwG, 23.02.1988 - 9 C 85.87 -, a.a.O.).
Der Senat legt seiner Beurteilung der Lage der Christen in der Türkei im
allgemeinen und der syrisch-orthodoxen Glaubensgemeinschaft im besonderen
sowie des Verhältnisses dieser Christen zu anderen, dort lebenden religiösen und
ethnischen Gruppen die nachfolgend anhand der vorliegenden schriftlichen
Unterlagen (im folgenden nur noch mit der entsprechenden Nr. der Liste von S. 11
ff. bezeichnet) auszugsweise dargestellte historische Entwicklung der christlichen
Siedlungsgemeinschaften im Nahen Osten zugrunde.
Die Anhänger der syrischen Kirchen siedelten ursprünglich im mesopotamischen
Raum, und zwar im Bergland des Tur'Abdin mit dem Zentrum Midyat, im weiter
östlich gelegenen Bergland von Bohtan, im alpenähnlichen Hochgebirge Hakkari
und weiter südlich in der Mosul-Ebene sowie in der Urmia-Ebene. Nachdem im 7.
Jahrhundert im Zuge der Arabisierung die Mehrheit dieser Christen zum Islam
übergetreten war und dann mongolische Eindringlinge Ende des 14. Jahrhunderts
die syrischen Kirchen bis auf wenige Überreste vernichtet hatten, erlebten sowohl
die syrisch-orthodoxen als auch die anderen im Osmanischen Reich lebenden
Christen vom Ende des 15. Jahrhunderts an eine vergleichsweise friedliche und
gesicherte Periode (38., S. 18), in der einigen der christlichen Kirchen - allerdings
nicht der syrisch-orthodoxen (3., S. 46) - der Status als "millat" zuerkannt wurde,
so daß sie ihr Personal- und Familienrecht nach eigenem Rechtsstatut regeln
konnten. Während der im 19. Jahrhundert zur Bewahrung des Osmanischen Reichs
eingeleiteten Reformbewegungen kam es sodann etwa nach der Seeschlacht von
Navarino 1827 zu einer Verfolgung der Armenier und 1843 zu einem Massaker der
Kurden unter den nestorianischen Bergstämmen im Hakkari. Die abseits in ihren
Siedlungsräumen in Ostanatolien lebenden syrischen Christen blieben von
derartigen Ereignissen weitgehend verschont. Sie waren ähnlich wie die ebenfalls in
dieser Region siedelnden Kurden stammesmäßig organisiert und erhielten sich
Unabhängigkeit und Schutz durch Selbstverteidigung und durch Tributzahlungen
an den Sultan. Nachdem seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine rege
Missionstätigkeit christlicher Religionsgesellschaften aus Amerika, England und
Frankreich dazu beigetragen hatte, die kulturelle und gesellschaftliche Bedeutung
der Christen im Nahen Osten zu heben und gleichzeitig deren politisches
Bewußtsein zu fördern, reagierte das Osmanische Reich im letzten Viertel des 19.
Jahrhunderts auf Unabhängigkeitsbestrebungen der Christen mit dem Einsatz
kurdischer Söldnertruppen, und dabei kam es dann häufig zu Morden,
Plünderungen und Hungersnöten (1., S. 17 ff.). Schließlich fanden während des
Ersten Weltkriegs unter den Christen zahlreiche Massaker statt, die insgesamt
über drei Millionen Tote gefordert haben sollen (1., S. 28; 5., S. 14; 7.; 24., S. 6;
38., S. 9 u. 18 f.; 48., S. 18); für sie werden zumindest auch die Allianz der Christen
mit England und Rußland und die Kriegserklärung des damaligen syrisch-
orthodoxen Patriarchen Benjamin XXI. an die Türkei im Mai 1915 verantwortlich
gemacht. So wurden etwa bis März 1915 im Urmia- und im Salamas-Gebiet über
70 Dörfer von türkischen Truppen und kurdischen Freiwilligen zerstört und
geplündert und die christliche Bevölkerung massakriert, und im selben Jahr folgten
weitere Massenmorde in der armenischen Stadt Van und im Bohtan-Gebiet (1., S.
29 f.). Bei der Flucht der Bergassyrer nach Salamas und der Urmia-Assyrer nach
Hamadan sollen jeweils mehr als 10.000 Menschen umgekommen sein (1., S. 30
ff.). Schließlich siedelten syrische Christen in den Jahren 1922 und 1924 in zwei
großen Fluchtbewegungen aus der Türkei in das benachbarte Syrien über (1., S.
110), und im Gefolge des Ersten Weltkriegs und des Friedensvertrags von
Lausanne vom 24. Juli 1923 verließen mehr als zwei Millionen Griechen die Türkei
(3., S. 41).
Es mag im einzelnen Streit darüber herrschen, welche Bedeutung das christliche
Bekenntnis der verschiedenen Gruppen der Christen für ihr jeweiliges Schicksal in
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Bekenntnis der verschiedenen Gruppen der Christen für ihr jeweiliges Schicksal in
der Vergangenheit im einzelnen hatte, welche Rolle politische und militärische
Interessen fremder Großmächte gespielt haben und ob und in welchem Maße sich
etwa bei Armeniern, Griechen oder Assyrern ein eigenes Nationalbewußtsein
entwickeln konnte (vgl. dazu: 1., S. 12 ff.; 5., S. 1 ff.; 18., S. 6 ff.). Die Situation der
Christen in der Türkei ist jedenfalls seit langem geprägt von ihrer bis in die Anfänge
des Christentums zurückreichenden religiösen und kirchlichen Tradition, von den
ethnischen und sprachlichen Besonderheiten der einzelnen Gruppen und von
einem mehr und mehr hoffnungslos erscheinenden Überlebenskampf in einer
mehrheitlich türkischen/muslimischen Umwelt, der angesichts der leidvollen
historischen Erfahrungen als besonders bedrückend empfunden wird. Während die
Christen Ende des 19. Jahrhunderts noch etwa 30 % der Untertanen des
Osmanischen Reichs ausmachten, stellen sie nunmehr in der Türkei mit
schätzungsweise kaum noch 100.000 Menschen nur eine äußerst kleine Minderheit
der Gesamtbevölkerung von 43 Millionen (zu den Zahlenangaben und im übrigen
vgl.: 2.; 5., S. 5; 6., S. 5; 7.; 18., S. 8; 40.). Außer den Armeniern und den Griechen
sind zahlenmäßig vor allem die Assyrer von Bedeutung, denen aber im
Unterschied zu den Armeniern, Griechen und Juden ein Schutz als
nichtmuslimische Minderheit aufgrund des Lausanner Vertrags von 1923 nicht
zugestanden wird (3., S. 46; 5., S. 6; 32., S. 17 u. 40.; 41., S. 2 f.; 60.; 63., S. 7;
68.). Die syrischen Christen gehören im wesentlichen vier Kirchen an, nämlich der
alten apostolischen Kirche des Ostens (oder nestorianischen), der syrisch-
orthodoxen (oder jakobitischen), der chaldäischen und der syrisch-katholischen
(1., S. 3; 6., S. 5 f. u. 16 f.; 38., S. 8 f.). Die alte apostolische Kirche, die die
diophysitische Lehre des Nestorius (Christ als Gott und Mensch zugleich sowie
Maria als Gebärerin Christi) vertritt, brach auf dem Konzil von Ephesus im Jahre
431 mit der römischen Kirche (vgl. 1., S. 12, u. 6., S. 15 f.). Das Konzil von
Chalkedon im Jahre 451 führte zur Abspaltung der syrisch-orthodoxen Kirche von
Rom, wobei wiederum eine abweichende - diesmal extrem monophysitische -
Lehrmeinung über die Person Christi ausschlaggebend war (1., S. 12; 6., S. 5 f.);
ihr Patriarch von Antiochia und dem gesamten Osten, Mar Ignatius Yakup III., hat
seinen Sitz seit 1954 in Damaskus (5., S. 21; 8., S. 2; 9., S. 2). Nestorianer und
Syrisch-Orthodoxe bedienen sich bis heute einer alt-syrischen Liturgiesprache (1.,
S. 12); die Syrisch-Orthodoxen heben sich außerdem durch verschiedene Dialekte
der neuaramäischen Umgangssprache (im Tur'Abdin: Turoyo) von den
muslimischen Türken und Kurden sowie von den Yeziden ab. Im 16. und 17.
Jahrhundert kämen Teile der nestorianischen Kirche infolge innerer Streitigkeiten
und auf Betreiben von Kapuzinermissionaren unter Beibehaltung ihres Ritus mit
der römischen Kirche zum Ausgleich; diese unierte nestorianische Kirche nennt
sich chaldäische Kirche; ihr Patriarch residiert (nach Vereinigung der früheren
Patriarchiate von Babylon und Mosul) heute in Bagdad (1., S. 12; 3., S. 46; 5., S. 5;
6., S. 16; 29.; 38., S. 9). Im 18. oder 19. Jahrhundert kam es schließlich auch zu
einer Union eines Teils der syrisch-orthodoxen Kirche mit Rom, wobei gleichfalls
der syrische Ritus beibehalten wurde; hierbei handelt es sich um die sog. syrisch-
katholische Kirche (1., S. 3 u. 12; 3., S. 46; 5., S. 5; 6., S. 6 u. 16 f.; 38., S. 9).
Während bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts im Gebiet der heutigen Türkei noch
etwa eine Million Jakobiten und Nestorianer gelebt haben sollen und 1927
immerhin noch insgesamt 257.000 (1., S. 46 u. 110), beträgt die Zahl der Syrisch-
Orthodoxen in der Türkei neueren Schätzungen zufolge nur noch etwa 45.000 (1.,
S. 111; 5.,S. 20), 35.000 (1., S. 46), 20.000 bis 25.000 bzw. 35.000 (6.,S. 17; 58.,
S. 1), 20.000 (8., S. 2) oder sogar nur 10.000 bis 15.000 (2.). Im Gebiet des
Tur'Abdin (Berg der Gottesknechte), wo vor 25 Jahren noch 70.000 Syrisch-
Orthodoxe lebten, sollen es 1967/68 noch 20.000 gewesen sein (4., S. 2), 1980
noch ca. 13.000 (70., S. 7), 25.000 (5., S. 29) oder auch annähernd 40.000 (32., S.
17), 1987/1988 lediglich noch 5.000 bis 7.000 (48., S. 14; 63., S. 5; 70., S. 4 f., 7 u.
14) oder 12.000 (58., S. 2) und 1989 sogar nur noch ungefähr 4.000 (76., S. 13 u.
16), während ihre Zahl in Istanbul im selben Zeitraum von einigen Hundert auf
15.000 oder gar auf 17.000 angestiegen sein soll (5.,, S. 46; 9., S. 7; 21.; 26.; 27.;
für die Zeit nach 1982 vgl. auch 35.; 37., S. 11; 58., S. 2; 63., S. 5; 70., S. 4);
derzeit dürften in Istanbul noch ungefähr 10.000 syrisch-othodoxe Christen leben
(64., S. 3; 66., S. 1). In der Bezirksstadt Midyat sollen im Jahr 1978 von den
ursprünglich 3.000 syrischen Familien infolge einer seit 1960 anhaltenden starken
Abwanderung in türkische Großstädte und ins Ausland noch 1.000 Familien
gewohnt haben (1., S. 117).
Vor dem Hintergrund dieser geschichtlichen Entwicklung kann nicht festgestellt
werden, daß die christliche Bevölkerung in der Türkei und insbesondere im Gebiet
des Tur'Abdin in dem hier maßgeblichen Zeitraum bis zur Ausreise der Kläger im
März 1980 unter einer an die Religion anknüpfenden Gruppenverfolgung zu leiden
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März 1980 unter einer an die Religion anknüpfenden Gruppenverfolgung zu leiden
hatte; dies gilt sowohl hinsichtlich einer unmittelbaren staatlichen Verfolgung (a)
als auch hinsichtlich einer vom türkischen Staat gebilligten oder geduldeten
Verfolgung durch andere Bevölkerungsgruppen (b) (ebenso schon der früher für
Asylverfahren allein zuständige 10. Senat des Hess. VGH in st. Rspr., zuletzt
30.05.1985 - 10 OE 35/83 -, und jetzt der 12. Senat, 22.02.1988 - 12 UE 1071/84 -,
NVwZ-RR 1988, 48, - 12 UE 1587/84 u. 12 UE 2585/85 - sowie 26.03.1990 - 12 UE
2702/86 , 12 UE 2970/86, 12 UE 2997/86 u. 12 UE 2998/86 - sowie 23.04.1990 - 12
UE 2579/85, 12 UE 2581/85 u. 12 UE 61/86 -, ähnlich VGH Baden-Württemberg,
25.07.1985 - A 12 S 573/81 -, u. OVG Lüneburg, 25.08.1986 - 11 OVG A 263/85 -;
a.A. Bay. VGH, 19.03.1981 - 12 B/5074/79 -, InfAuslR 1981, 219, VGH Baden-
Württemberg, 09.02.1987 - A 13 S 709/86 -, u. OVG Nordrhein-Westfalen,
23.04.1985 - 18 A 10237/84 -, sowie OVG Rheinland-Pfalz, 10.12.1986 - 11 A
131/86 -). Für die Frage nach dem Vorliegen einer an die religiöse
Grundentscheidung anknüpfenden Gruppenverfolgung ist allgemein zu beachten,
daß eine aus Gründen der Religion stattfindende Verfolgung nur dann asylerheblich
ist, wenn die Beeinträchtigungen der Freiheit der religiösen Betätigung nach
Intensität und Schwere die Menschenwürde verletzen (BVerfG, 02.07.1980 - 1 BvR
147/80 u.a. -, BVerfGE 54, 341 <357> = EZAR 200 Nr. 1). Es muß sich um
Maßnahmen handeln, die den Gläubigen als religiös geprägte Persönlichkeit
ähnlich schwer treffen wie bei Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit oder die
physische Freiheit (BVerwG, 18.02.1986 - 9 C 16.85 -, BVerwGE 74, 31 = EZAR 202
Nr. 7), indem sie ihn physisch vernichten, mit vergleichbar schweren Sanktionen
bedrohen, seiner religiösen Identität berauben oder daran hindern, seinen Glauben
im privaten Bereich und durch Gebet und Gottesdienst zu bekennen (BVerfG,
01.07.1987 - BvR 472/86 u.a. -, BVerfGE 76, 143 = EZAR 200 Nr. 20, u. 10.11.1989
- 2 BvR 403/84 u.a. -, EZAR 203 Nr. 5 = NVwZ 1990, 254).
a) Aus den in das Verfahren eingeführten Gutachten, Auskünften und anderen
Erkenntnisquellen ergeben sich insgesamt keine tragfähigen Anhaltspunkte dafür,
daß der türkische Staat die syrisch-orthodoxen Christen in diesem Sinne in dem
hier maßgeblichen Zeitraum unmittelbar aus religiösen Gründen verfolgt hat.
Die syrisch-orthodoxen Christen waren - und sind - von Verfassungs wegen ebenso
wie die Angehörigen anderer muslimischer und nichtmuslimischer
Glaubensgemeinschaften gegen Eingriffe in die Religionsfreiheit und gegen
Diskriminierungen aus religiösen Gründen geschützt (Art. 19 d. türk. Verf. v. 1961,
Art. 24 Abs. 1 d. türk. Verf. vom 07.11.1982; 18., S. 23; 41., S. 3; 57., S. 17 f.). Sie
sind in den durch Art. 14 der Verfassung von 1982 gezogenen Grenzen frei,
Gottesdienste, religiöse Zeremonien und Feiern abzuhalten (Art. 24 Abs. 2 dieser
Verfassung). Sie werden jedoch seit jeher anders als die Armenier, Griechen und
Juden in der Staatspraxis nicht zu den nichtmuslimischen Minderheiten gerechnet,
denen aufgrund der Art. 38 ff., des Friedensvertrags von Lausanne vom 24. Juli
1923 besondere Minderheitenrechte gewährleistet sind, so u.a. gemäß Art. 40 das
Recht, auf eigene Kosten jegliche karitative, religiöse und soziale Institutionen,
Schulen und andere Einrichtungen für Lehre und Erziehung mit dem Recht auf
Gebrauch ihrer eigenen Sprache und freie Religionsausübung zu errichten, zu
betreiben und zu kontrollieren (1., S. 112; 3., S. 46; 5., S. 6 u. 57 f.; 8., S. 3 f.; 9., S.
15 f.; 13.; 32., S. 17 u. 40; 41., S. 2 f.; 60.; 68.). Während die in Istanbul lebenden
etwa 80.000 Armenier dazu imstande sind, ungefähr 30 bis 40 Kirchen und einige
Schulen, mindestens ein Krankenhaus und 12 Jugendclubs zu unterhalten (12.;
53.; 76., S. 3), verfügen die etwa 10.000 Syrisch-Orthodoxen in Istanbul lediglich
über ein eigenes Kirchenzentrum und sind in fünf bis sieben weiteren Kirchen zu
Gast (18., S. 49; 26.; 27.; 35., S. 6; 37., S. 3, 8 u. 13; 64., S. 9; 66.; 76., S. 4 f.), sie
dürfen aber keine Schulen und keine Sozialeinrichtungen betreiben (58., S. 4; 63.,
S. 7). Die syrisch-orthodoxen Christen werden allerdings ebensowenig wie andere
christliche Glaubensgemeinschaften staatlicherseits unmittelbar an der Ausübung
ihrer Religion gehindert. Sie können sowohl im Gebiet des Tur'Abdin als auch in
Istanbul in den ihnen verbliebenen Kirchen Gottesdienst nach ihrer Liturgie feiern
und ihren Glauben praktizieren. Insbesondere haben sie die Möglichkeit zum Gebet
und zum Gottesdienst im häuslich-privaten Bereich und in Gemeinschaft mit
anderen Gemeindemitgliedern.
Obwohl die Religionsausübung nach außen hin - weder in der Vergangenheit noch
jetzt - offen behindert oder gar untersagt (worden) ist, sind dennoch zahlreiche
administrative Schwierigkeiten festzustellen (58., S. 5), die die Syrisch-Orthodoxen
bei der Ausübung ihres Glaubens und der Pflege ihres Brauchtums empfindlich
stören und auf Dauer gesehen das kirchliche und religiöse Leben beeinträchtigen
und schließlich zum Erliegen bringen können. So ist beispielsweise die Ausbildung
und schließlich zum Erliegen bringen können. So ist beispielsweise die Ausbildung
der Priester zwar von Staats wegen nicht verboten und auch nicht erkennbar
restriktiv reglementiert. Tatsächlich gibt es aber seit geraumer Zeit in der Türkei
weder einen syrisch-orthodoxen Bischof noch Priesterseminare (8., S. 4; 19., S.
16), und deshalb können neue Priester, die die türkische Staatsangehörigkeit
besitzen müssen, nur im Ausland ausgebildet und geweiht werden (9., S. 5; 12., S.
5; 45., S. 6 f.; 46., S. 6; 48., S. 19; 60., S. 2). Die seelsorgerische Betreuung der
noch in den ehemals syrisch-orthodoxen Siedlungsgebieten verbliebenen
Gläubigen ist auch dadurch erschwert, daß viele Priester ihre Gemeinden gegen
den Willen der Kirchenleitung verlassen haben und im Zuge der Anwerbung von
Arbeitnehmern durch die Bundesrepublik Deutschland und andere westdeutsche
Staaten ins Ausland abgewandert sind (40., S. 3; 46., S. 3). Die ehemals
zahlreichen Klöster im Tur'Abdin sind jetzt nur noch von wenigen Mönchen oder
Nonnen bewohnt und im übrigen verlassen (5., S. 21). Die Klosterschule in Dair L
Za'faran wurde zudem mehrmals zumindest zeitweilig geschlossen, weil der
türkische Staat das Schulprogramm mit syrisch-aramäischem Sprachunterricht
und christlichem Religionsunterricht für illegal erachtete (5., S. 28; 6., S. 18; 32., S.
18; 46., S. 5; 76., S. 15). Der Bau und die Errichtung von Kirchen sind, nachdem
das Eigentum an dem Besitz der "frommen Stiftungen" im Jahre 1965 auf den
Staat übertragen worden ist, nur noch mit vorheriger staatlicher Genehmigung
zulässig (9., S. 17). Die Tatsache, daß in den vergangenen Jahren keine neue
syrisch-orthodoxe Kirche gebaut worden ist, während in der ganzen Türkei
zahlreiche neue Moscheen entstanden sind (43., S. 3 f.; 45., S. 3; 46., S. 4), kann
allerdings darauf zurückzuführen sein, daß Geld für einen derartigen Kirchenbau
nicht vorhanden war (28.). Trotz dieser faktischen Behinderungen im
administrativen Bereich läßt sich daraus eine unmittelbare staatliche
Beeinträchtigung der Religionsfreiheit für die Zeit bis zur Ausreise der Kläger aus
der Türkei nicht herleiten. Ebenso verhält es sich im Ergebnis mit der Gestaltung
des Religionsunterrichts an den staatlichen Schulen (vgl. 55.). Insoweit ist
allerdings zu beachten, daß die Belastung nur eines bestimmten genau
abgegrenzten Kreises von Gruppenangehörigen - hier: der eine Schule
besuchenden und in der Regel minderjährigen Personen - nicht bereits eine
Verfolgung der Religionsgruppe insgesamt darstellt (BVerwG, 24.08.1989 - 9 B
301.89 -, NVwZ 1990, 80 = InfAuslR 1989, 348). Indessen kann eine asylrelevante
Belastung der Angehörigen einer solchen Untergruppe - zumal ihr grundsätzlich
jedes Mitglied der Religionsgruppe im Verlaufe seines Lebens eine Zeitlang
angehört - ein gewisses Indiz für eine Verfolgung aller Gruppenangehörigen sein.
Wären nämlich Angehörige weiterer Untergruppen - etwa der Wehrpflichtigen, der
Frauen bestimmten Alters und/oder der minderjährigen Kinder - ebenfalls
asylrechtlich erheblicher Verfolgung ausgesetzt, so könnte sich eine Verdichtung
bis hin zur Annahme einer Gruppenverfolgung aller Mitglieder der betreffenden
Religionsgruppe ergeben. Soweit das Bundesverwaltungsgericht ausgesprochen
hat, die Pflicht zur Teilnahme am islamischen Religionsunterricht stelle für sich
allein keine asylerhebliche Beeinträchtigung der Religionsausübung dar, da sie
nicht gleichgesetzt werden könne mit der Pflicht, sich zum Islam zu bekennen
(BVerwG, 14.05.1987 - 9 B 149.87 -, EZAR 202 Nr. 9 = DVBl. 1987, 1113), neigt
der Senat zu einer grundsätzlich anderen Betrachtungsweise. Denn
Religionsunterricht, der gegen den Willen der Kinder oder der insoweit
erziehungsberechtigten Eltern erteilt wird, kann den Beginn einer
Zwangsbekehrung bedeuten, stellt doch die religiöse Unterweisung von Kindern,
Jugendlichen und Erwachsenen einen unverzichtbaren - weil lebenswichtigen - Teil
der Religionsfreiheit dar. Ohne die Weitergabe religiösen Wissens und religiöser
Überzeugungen vermag nämlich weder der einzelne Gläubige noch die
Glaubensgemeinschaft auf Dauer zu bestehen. Neben der Verkündigung des
Glaubens während des kirchlichen Gottesdienstes spielt hierbei vor allem der
Religionsunterricht für Kinder eine ausschlaggebende Rolle. In vorliegendem
Zusammenhang ist indessen von maßgeblicher Bedeutung, daß zur Zeit der
Ausreise der Kläger im März 1980 noch keine Pflicht zur Teilnahme am islamischen
Religionsunterricht bestanden hat. Zwar war 1950 für die vierte und fünfte
Grundschulklasse, 1956 für die sechste und siebte Klasse der Mittelschule und
1967/68 auch für die erste und zweite Klasse des Gymnasiums der
Religionsunterricht auf freiwilliger Basis eingeführt und ab 1976 in allen Klassen der
Mittelschule und des Gymnasiums angeboten worden. Auch hatte man 1974/75 in
den beiden letztgenannten Schulformen einen sog. Ethik- bzw.
Moralkundeunterricht als Pflichtfach eingeführt (55.; 63., S. 20). Dieser war aber
jedenfalls in den 70er Jahren weitgehend laizistisch und wertneutral; erst später
wurde er in der Praxis zu einem "Neben-Religionsunterricht" (35.) und schließlich
zwischen 1982 und 1985 mit dem Religionsunterricht zusammengelegt (55.). Für
die Zeit vor dem Inkrafttreten der Verfassung von 1982 und vor der
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die Zeit vor dem Inkrafttreten der Verfassung von 1982 und vor der
Machtübernahme durch das Militär im September 1980 besteht daher keine
Veranlassung zu der Annahme, der türkische Staat habe durch die Gestaltung des
Religionsunterrichts an staatlichen Schulen unmittelbar in einer Art und Weise in
die Freiheit der religiösen Betätigung der syrisch-orthodoxen Christen eingegriffen,
die die Menschenwürde und das sog. religiöse Existenzminimum antastete. Auch
wenn man berücksichtigt, daß ein christlicher Religionsunterricht an staatlichen
Schulen nicht angeboten wurde und es im Rahmen des Ethik- bzw.
Moralkundeunterrichts bei der praktischen Handhabung der Unterscheidung
zwischen ethischen und allgemein religiösen Lehrinhalten einerseits und
islamischen Glaubensinhalten andererseits zu Benachteiligungen und
Beeinträchtigungen der Glaubensüberzeugungen christlicher Schüler kommen
konnte, kann darin insgesamt ein asylrelevanter Eingriff nicht gesehen werden.
Denn abgesehen von der regelmäßig fehlenden Intensität mangelte es insoweit
jedenfalls an der asylrechtlichen Zurechenbarkeit, weil Anhaltspunkte dafür, daß
die verantwortlichen Stellen derartiges dienstliches Fehlverhalten von Lehrern
seinerzeit förderten oder zumindest duldeten, aus den dem Senat vorliegenden
Erkenntnisquellen nicht zu entnehmen sind.
Schließlich können Anzeichen für eine gegen Christen gerichtete
Gruppenverfolgung zur Zeit der Ausreise der Kläger auch nicht aus der Art und
Weise entnommen werden, wie christliche Wehrpflichtige damals in der türkischen
Armee behandelt worden sind. Eine Verfolgung der betreffenden Religionsgruppe
insgesamt könnte allein daraus ohnehin nicht entnommen werden (vgl. BVerwG,
24.08.1989 - 9 B 301.89 -, NVwZ 1990, 80 = InfAuslR 1989, 348). Für den Senat
steht aufgrund der vorliegenden Erkenntnisquellen und der Erkenntnisse aus den
in letzter Zeit entschiedenen zahlreichen Berufungsverfahren fest, daß es
jedenfalls bis etwa zum Zeitpunkt des Militärputsches im September 1980 nur in
Einzelfällen zu ihrer Intensität nach als Verfolgung zu qualifizierenden Übergriffen
auf christliche Wehrpflichtige gekommen ist. Bis dahin scheint die Führung der
türkischen Streitkräfte, die sich als Hüter laizistischer Prinzipien verstehen, mit
Erfolg darauf geachtet zu haben, daß religiöse Strömungen dort keinen
nachhaltigen Widerhall finden konnten (vgl. 36.). Demzufolge hatten christliche
Wehrpflichtige in aller Regel weder seitens ihrer Vorgesetzten noch seitens ihrer
Kameraden mit schwerwiegenden Diskriminierungen zu rechnen, wenn auch - nach
der Darstellung des Auswärtigen Amtes - Sticheleien und gelegentliche Übergriffe
von Kameraden nicht auszuschließen waren (33.; 36.) und es - nach den
Äußerungen anderer Sachverständiger - darüber hinaus vielfach zur Betrauung mit
besonders unangenehmen Aufgaben, zu verbalen Beleidigungen, zum Versuch
der Bekehrung zum Islam und zur Androhung der Zwangsbeschneidung sowie in
Einzelfällen auch zu schweren Körperverletzungen gekommen sein mag (39.; 40.;
42.) und christliche Wehrpflichtige mit Abitur meist - anders als Muslime - nicht als
Offiziersanwärter rekrutiert wurden (und werden) (41.). Die zwangsweise
Durchführung von Beschneidungen christlicher Wehrpflichtiger war in der Zeit bis
September 1980 offenbar nur in seltenen Einzelfällen festzustellen (42.). Diese
Einschätzung der damaligen Situation christlicher Wehrpflichtiger wird durch die
von dem erkennenden Senat in zahlreichen Berufungsverfahren gewonnenen
Erkenntnisse bestätigt. Die vom Senat gehörten Christen haben entweder selbst in
dem Zeitraum zwischen 1953 und 1978 ihren Wehrdienst abgeleistet oder aber
von den Erfahrungen ihrer Brüder oder anderer Verwandter während deren
damaliger Dienstzeit berichtet. Während einige, obgleich sie vom Alter her
Wehrdienst geleistet haben müßten, diesen Punkt in ihren Asylverfahren
überhaupt nicht angesprochen haben, haben sich andere - wie übrigens auch der
Kläger zu 1) - auf die Mitteilung der Dienstleistung als solcher beschränkt und von
irgendwelchen Benachteiligungen nichts erwähnt (vgl. etwa Hess. VGH, 27.06.1988
- 12 UE 2438/85 - -Abdruck S. 3>, 04.07.1988 - 12 UE 25/86 - -Abdruck S.
3>, 06.02.1989 - 12 UE 2584/85 - -Abdruck S. 3>, 29.05.1989 - 12 UE
2586/85 - -Abdruck S. 3 u. 40>). Die übrigen haben von einer übermäßigen
Heranziehung zum Wachdienst und zu besonders schmutzigen Arbeiten, von
Beschimpfungen ihrer Person und ihrer Religion und von wiederholten Schlägen
berichtet, mit denen regelmäßig das Ziel verfolgt worden sei, sie zum Übertritt
zum Islam und zur Beschneidung zu bewegen; in allen Fällen gelang es den
Betroffenen jedoch, sowohl einer Zwangsbekehrung als auch einer
Zwangsbeschneidung letztlich zu entgehen, wobei es allerdings einmal zu einer
Brandverletzung am Geschlechtsteil kam und ein andermal erst im
Militärkrankenhaus der Arzt dazu bewegt werden konnte, von einer Beschneidung
Abstand zu nehmen (vgl. etwa Hess. VGH, 22.02.1988 - 12 UE 1071/84 - -Abdruck
S. 4 u. 34> u. - 12 UE 2585/85 - -Abdruck S. 4 u. 34 f.>, 30.05.1988 - 12 UE
2514/85 - -Abdruck S. 5 u. 35 f.>, 17.10.1988 - 12 UE 2601/84 - -Abdruck S.
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2514/85 - -Abdruck S. 5 u. 35 f.>, 17.10.1988 - 12 UE 2601/84 - -Abdruck S.
35> u. - 12 UE 767/85 - -Abdruck S. 37>, 18.10.1988 - 12 UE 433/85 - -
Abdruck S. 33 f.>), 20.03.1989 - 12 UE 1705/85 - -Abdruck S. 5 u. 46 ff.> u. -
12 UE 2192/86 --Abdruck S. 44 f.>, 04.12.1989 - 12 UE 2652/85 - -Abdruck S.
39> sowie 26.03.1990 - 12 UE 2997/86 - -Abdruck S. 5>). Danach kann
schon nicht festgestellt werden, daß seinerzeit christliche Wehrpflichtige mit
Rechtsverletzungen zu rechnen hatten, die nicht nur als Beeinträchtigungen,
sondern auch als sie ihrer Intensität nach aus der übergreifenden Friedensordnung
der staatlichen Einheit ausgrenzende Verfolgungsmaßnahmen zu qualifizieren sind
(vgl. BVerfG, 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 u.a. -, BVerfGE 79, 315 = EZAR 201 Nr.
20). Schon deshalb kann daraus für die Zeit vor dem Militärputsch nicht auf eine
Verfolgung des abgegrenzten Kreises der wehrpflichtigen Gruppenangehörigen
und erst recht nicht auf eine Gruppenverfolgung aller syrisch-orthodoxen Christen
geschlossen werden. Darüber hinaus fehlen für den betreffenden Zeitraum
Anhaltspunkte dafür, daß die militärische Führung Übergriffe, soweit sie vorkamen,
geduldet oder gar gefördert hat (vgl. 33.; 41.); mithin läßt sich für die damalige
Zeit die asylrechtliche Zurechenbarkeit, die auch für Zugriffe innerhalb der Armee
erforderlich ist, ebenfalls nicht annehmen, weil nicht festgestellt werden kann, daß
der türkische Staat seinerzeit an die Religion anknüpfenden Übergriffen auf
Wehrpflichtige nicht entgegengewirkt hätte, indem er beispielsweise präventive
Vorkehrungen unterlassen hätte, um weitere Übergriffe zu verhindern und, wenn
sie gleichwohl vorgekommen wären, weder den Opfern Schutz gewährt noch gegen
pflichtwidrig Handelnde Sanktionen verhängt hätte (vgl. BVerwG, 22.04.1986 - 9 C
318.85 u.a. -, BVerwGE 74, 160 = EZAR 202 Nr. 8).
b) Darüber hinaus waren die Christen in der Türkei, insbesondere in der
Südosttürkei in dem hier maßgeblichen Zeitraum, auch keiner mittelbaren
staatlichen Kollektivverfolgung in der Weise ausgesetzt, daß sie von anderen
Bevölkerungsgruppen ihrer Religion und ihres christlichen Bekenntnisses wegen
verfolgt wurden und hiergegen staatlichen Schutz nicht erhalten konnten.
In diesem Zusammenhang ist es nicht erforderlich, die Ursachen der oben (unter
II. 2.) dargestellten Abwanderungsbewegungen aus den ursprünglich ausschließlich
oder zumindest überwiegend christlichen Dörfern nach Mardin und Midyat und vor
allem nach Istanbul und von dort aus ins Ausland im einzelnen zu ermitteln.
Tatsächlich sind die Christen den Anwerbeaktionen der westeuropäischen
Wirtschaft seit Beginn der 60er Jahre wohl dank ihrer besseren Ausbildung und
ihrer größeren Flexibilität eher gefolgt als die in der Südosttürkei lebenden Kurden
und haben dann nach und nach ihre Familien in die Bundesrepublik Deutschland
und in andere westeuropäische Länder nachgeholt. Eine gewisse Rolle mag
anfangs auch die allgemein in der Türkei zu beobachtende Landflucht gespielt
haben, die die Einwohnerzahl von Istanbul auf jetzt 8 bis 10 Millionen hat
anwachsen lassen (1., S. 111; 18., S. 20). Wie bereits oben (unter II. 2. a)
festgestellt, haben zudem viele Priester im Zuge der Gastarbeiterwanderung ihre
syrisch-orthodoxen Gemeinden im Tur'Abdin verlassen und sind gegen den Willen
der Kirchenleitung nach Europa und nach Übersee ausgewandert (40., S. 3; 45., S.
3), was zusätzlich zu einer Destabilisierung der gewachsenen Siedlungsstrukturen
der Christen in der Südosttürkei beigetragen hat. Schließlich haben auch die
Ereignisse um Zypern, im Libanon und im Iran sowie allenthalben feststellbare
Islamisierungstendenzen zu einer Verhärtung des Verhältnisses zwischen Christen
und muslimischen Kurden im Tur'Abdin beigetragen. Ungeachtet der im einzelnen
maßgeblichen Gründe für die Bevölkerungsbewegungen, die durchaus umstritten
sein mögen, wurde aber seit Mitte der 70er Jahre aus dem Gebiet um Midyat über
eine auffällige Zunahme schwerer Übergriffe der muslimischen Mehrheit (meist
Kurden) gegen Christen berichtet, und zwar über Morde, Mordversuche,
Entführungen, Zwangsbeschneidungen, Viehdiebstähle, Landwegnahmen,
Sachbeschädigungen und Plünderungen (vgl. dazu etwa: 1., S. 112 f. u. 115 f.; 3.,
S. 46 ff.; 5., S. 32 ff. u. 106 ff.; 11., S. 5 ff.; 14.; 16.; 32., S. 17 ff.). Gleichzeitig
wurde allgemein beanstandet, daß staatliche Stellen, wenn sie um Hilfe
angegangen wurden, entweder überhaupt nicht tätig geworden sind oder aber
sogar offen zum Ausdruck gebracht haben, sie lehnten es ab, Christen Schutz zu
gewähren (vgl. etwa: 4., S. 3 u. 5; 5., S. 34; 15.). Außerdem wurde betont, ähnliche
Gewalttaten Syrisch-Orthodoxer seien, wenn sie vereinzelt vorgekommen seien,
auch verfolgt worden (9., S. 21).
Bei der Frage nach den Ursachen für die danach seit Mitte der 70er Jahre vermehrt
feststellbaren Beeinträchtigungen der Christen durch die muslimische Bevölkerung
im Tur'Abdin werden teils die Auswirkungen der Verfolgung weniger schwerwiegend
dargestellt, teils die religionsbezogene Motivation der Verfolger bezweifelt und teils
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dargestellt, teils die religionsbezogene Motivation der Verfolger bezweifelt und teils
die Einstellung der staatlichen Stellen zu diesen Maßnahmen der andersgläubigen
Mitbürger nicht so gewertet und eingeschätzt, daß den Christen der erforderliche
staatliche Schutz gegen private Übergriffe ihrer Religion wegen verwehrt wurde. So
bestätigen etwa auch andere als die bereits erwähnten Quellen gewalttätige
Auseinandersetzungen und existenzbedrohende Übergriffe im Südosten der Türkei
(2., S. 2; 17.) und die Gefahr administrativer Schikanen sowie die Schutzlosigkeit
gegenüber gesetzlosen Zuständen vor der Machtübernahme durch das Militär im
September 1980 (15.). Andererseits wird aber darauf hingewiesen, daß unter
schwierigen Lebensverhältnissen und der gesetzlosen Lage vor September 1980
auch die übrige Bevölkerung zu leiden gehabt habe, die Abwanderung aus dem
Tur'Abdin vorwiegend wirtschaftliche und soziale Gründe habe und die
Wanderungsbewegung bei den Christen nicht stärker sei als bei der übrigen
Bevölkerung (vgl. vor allem 18., S. 23 ff. u. 31 ff.). Während das Auswärtige Amt als
Ursachen für die Abwanderung neben religiösen Spannungen sowohl
wirtschaftliche Schwierigkeiten als auch die in Gewalttätigkeiten ausufernden
Streitigkeiten aus sprachlichen, sozialen und ethnischen Motiven nennt, räumt es
doch gleichzeitig ein, Christen hätten teilweise existenzbedrohende
Benachteiligungen erlitten und seien gewalttätigen Übergriffen ausgesetzt
gewesen, gegen die ausreichender staatlicher Schutz besonders in schwer
zugänglichen ländlichen Gebieten häufig nicht habe gewährt werden können, so
daß praktisch die christliche Minderheit oftmals gewalttätigen Übergriffen schutzlos
preisgegeben gewesen sei (2., S. 2). Wenn Wiskandt bezweifelt, daß Christen aus
dem Tur'Abdin in wesentlich größerem Ausmaß als Kurden abgewandert sind (18.,
S. 23 ff., besonders S. 28), so fällt auf, daß er die Anzahl der in der Provinz Mardin
lebenden Syrisch-Orthodoxen aus einer offiziellen Einwohnerstatistik und eigenen
Berechnungen ableitet, während die oben (unter II. 2.) erwähnten Zahlenangaben
anderer Autoren zwar vorwiegend auf Schätzungen beruhen, aber insgesamt
zutreffender erscheinen, weil dort der Bevölkerungsrückgang bei den Christen zum
größten Teil durch die Nennung von Ortsnamen und exakten Einwohnerzahlen
belegt ist. Es mag zutreffen, daß die historischen Fakten in den epd-
Dokumentationen (5. u. 32.) nicht immer neutral dargestellt sind und die religiösen
Bezüge dort ebenso einseitig in den Vordergrund gestellt werden wie von Yonan
(1.) der Prozeß der Entwicklung einer assyrischen Nation. Abgesehen aber davon,
daß Wiskandt seine Befragungen offenbar ohne die in solchen Situationen wichtige
Vertrauensbasis zu den befragten Personen ohne Bekanntgabe seines Auftrags
durchgeführt hat, ist in seinem Gutachten an zahlreichen Stellen nachzuweisen,
daß seine Ausführungen nicht völlig frei sind von Vorverständnissen und
festliegenden persönlichen Positionen, die die Beantwortung der ihm gestellten
Fragen teilweise beeinflußt haben könnten (vgl. dazu im einzelnen 23., 24., 25.).
So wirft er der ersten epd-Dokumentation offen bewußte Zahlenmanipulation vor
(S. 27, 29), polemisiert gegen die "hiesige Lobby der Sürjannis" (S. 65) und
beschreibt die "Erfolge" der Militärregierung ohne jede Einschränkung (S. 20 ff.),
obwohl Vorbehalte gegen die Politik der Militärregierung angesichts zahlreicher
Proteste gegen Menschenrechtsverletzungen in der Türkei zumindest
erwähnenswert gewesen wären.
Nach alledem vermag der Senat nicht festzustellen, daß die Christen in der Türkei
- und zwar auch im Tur'Abdin - in ihrer Gesamtheit in der Zeit bis zur
Machtübernahme der Militärs im September 1980 in der Weise mittelbar aus
religiösen Gründen verfolgt worden sind, daß sie als Angehörige der christlichen
Minderheit gewalttätigen Übergriffen mit Gefahren für Leib und Leben und die
persönliche Freiheit durch die muslimische Bevölkerung ausgesetzt waren und der
türkische Staat diese Verfolgungsmaßnahmen entweder gebilligt oder zumindest
tatenlos hingenommen und damit den Christen den erforderlichen staatlichen
Schutz versagt hat. Die dargelegten Verhältnisse stellen sich allerdings so dar,
daß in zahlreichen Einzelfällen tatsächlich syrisch-orthodoxe Bewohner des
Tur'Abdin von muslimischen Mitbürgern umgebracht, verletzt, entführt oder
beraubt worden sind, ohne daß die zuständigen staatlichen Behörden hiergegen
eingeschritten sind, obwohl ihnen dies möglich gewesen wäre.
Wenn das Verwaltungsgericht demgegenüber in dem angegriffenen Urteil
angenommen hat, die Kläger seien von einer mittelbaren Gruppenverfolgung aller
Syrisch-Orthodoxen in der Türkei betroffen worden, die allerdings nach dem
Militärputsch vom September 1980 nicht mehr andauere, dann beruht dies auf
einer nicht gerechtfertigten Auswertung des Inhalts der in diesem Urteil zitierten
Gerichtsentscheidungen und Erkenntnisquellen. So beruft sich das
Verwaltungsgericht zu Unrecht zum Nachweis dafür, daß die Syrisch-Orthodoxen
zumindest vor September 1980 im Tur'Abdin wegen ihres Glaubens verfolgt
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zumindest vor September 1980 im Tur'Abdin wegen ihres Glaubens verfolgt
worden seien u.a. auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 2. August
1983 - 9 C 599.81 - (BVerwGE 67, 314 = EZAR 203 Nr. 1). In dieser Entscheidung
mußte das Bundesverwaltungsgericht - wie auch in anderen Verfahren - aufgrund
seiner Bindung an Tatsachenfeststellungen in dem zugrundeliegenden Urteil des
Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (vgl. § 137 Abs. 2 VwGO) davon ausgehen,
daß existenzbedrohende Benachteiligungen und gewalttätige Übergriffe um das
Jahr 1976 so zugenommen hatten, daß die Auswanderung der Christen aus dieser
Region zunehmend Fluchtcharakter annahm und ihre Zahl von ursprünglich 70.000
auf einen Bruchteil dessen absank und daß die Sachwalter des türkischen Staats
das Vorgehen der Muslime aufgrund der weitgehend von feudalen Stammes- und
Religionsführern bestimmten Machtstrukturen in der Region nicht oder völlig
unzureichend ahndeten. Wenn das Revisionsgericht daraufhin ausgeführt hat, das
Berufungsgericht habe diesen Sachverhalt zu Recht dahin gewürdigt, daß zu der
im dortigen Verfahren maßgeblichen Zeit die syrisch-orthodoxen Christen in einer
dem türkischen Staat zuzurechnenden Weise als Gruppe asylrechtlich verfolgt
worden sind, dann bedeutet dies nicht, daß diese Frage seitdem letztverbindlich
entschieden war. Deshalb blieb auch die Revision eines syrisch-orthodoxen
Christen erfolglos, in dessen Verfahren der 10. Senat des Hessischen
Verwaltungsgerichtshofs eine dem türkischen Staat zurechenbare allgemeine
Gruppenverfolgung syrisch-orthodoxer Christen im Tur'Abdin verneint hatte
(27.05.1982 - X OE 727/81 -); das Bundesverwaltungsgericht hat dazu ausdrücklich
ausgeführt, ein Asylbewerber könne tatsächliche Feststellungen der
Tatsachengerichte zur Gruppenverfolgung im Revisionsverfahren nicht erfolgreich
damit angreifen, daß andere Tatsachengerichte dieselbe Situation anders
beurteilten (BVerwG, 08.05.1984 - 9 C 141.83 -, EZAR 630 Nr. 13 = NVwZ 1985,
36). Hinsichtlich der tatsächlichen Feststellungen des Verwaltungsgerichts über
eine Fortdauer der landesweiten Gruppenverfolgung Syrisch-Orthodoxer in der
Türkei fällt auf, daß diese nahezu ausschließlich auf die Stellungnahme von
Monsignore Wilschowitz vom 9. April 1981 (10.) gestützt sind, obwohl die
Beteiligten mit der Ladung zu dem Termin vom 3. Oktober 1985 auf mehr als 70
Dokumente über die Lage der Christen in der Türkei hingewiesen worden waren,
daß die Äußerungen von Monsignore Wilschowitz in dem angegriffenen Urteil nur
teilweise zitiert sind, ohne daß Gründe für die Auswahl der entsprechenden
Passagen genannt sind, und daß die Bekundungen von Monsignore Wilschowitz
den vom Verwaltungsgericht hieraus gezogenen Schlußfolgerungen
widersprechen. Monsignore Wilschowitz hat in dem Anschreiben vom 9. April 1981
nämlich zusammenfassend u.a. ausgeführt: "Von einer generellen
Christenverfolgung in der Türkei zu sprechen, ohne differenziert auf die allgemeine
Benachteiligung aller Minderheiten in der Türkei und insbesondere im Osten dieses
Landes hinzuweisen, ist unseriös." In der Stellungnahme selbst heißt es u.a.: "Als
Minderheiten in der Osttürkei werden die Christen benachteiligt, sie werden
bedrängt, und je schwächer sie werden umso mehr. Die christlichen Dörfer werden
immer kleiner, die Kirchen immer leerer. Übergriffe und Diskriminierungen sind an
der Tagesordnung. Dazu kommt, daß eine allgemeine religiöse Besinnung und
islamische Neuorientierung (als Reaktion auf die atatürkischen Reformen!) schon
seit Jahren im Osten zu verzeichnen ist. Aber jetzt von den Betroffenen und von
den sie vertretenden deutschen Anwälten, die in Normalzeiten sich selten mit dem
europäischen Christentum, geschweige denn mit dem Christentum östlicher
Prägung befaßt hätten, Druck auf die öffentliche Meinung in der Bundesrepublik
auszuüben mit dem schrecklichen Wort 'Christenverfolgung', halte ich für
schlechthin unredlich."
3. Es kann auch nicht festgestellt werden, daß die Kläger persönlich bereits vor
ihrer Ausreise aus der Türkei in Bakisyan (a) oder in Istanbul (b) von
asylerheblichen Übergriffen muslimischer Mitbürger betroffen waren und dagegen
staatlichen Schutz nicht in Anspruch nehmen konnten. Ebensowenig kann
angenommen werden, daß die Kläger damals schon in ihrer persönlichen Freiheit,
in ihrer körperlichen Unversehrtheit oder in ihrer Religionsfreiheit beeinträchtigt
oder bereits so konkret bedroht waren, daß ein asylrelevanter Eingriff unmittelbar
bevorstand, und sie deswegen als vorverfolgt anzusehen sind (c). Die Angaben der
Kläger zu ihrem Lebensschicksal und zu den Gründen und Umständen ihrer
Ausreise aus der Türkei sind allerdings im wesentlichen glaubhaft.
Danach steht fest, daß der Kläger zu 1) in dem ca. 24 km nordöstlich von Midyat
entfernten Dorf Bakisyan (vgl. zu weiteren Bezeichnungen 38., S. 74) geboren und
aufgewachsen ist, daß er dort auch nach seiner Heirat zunächst weiter gelebt hat
und daß die Familie kurz nach der Geburt des Klägers zu 2) im Herbst 1970 nach
Istanbul übergesiedelt ist, wo der Kläger zu 3) geboren ist. Dies ergibt sich aus den
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Istanbul übergesiedelt ist, wo der Kläger zu 3) geboren ist. Dies ergibt sich aus den
im wesentlichen widerspruchsfreien und insgesamt glaubhaften Angaben im
Asylantrag und des Klägers zu 1) bei der Vorprüfungsanhörung und bei seiner
Vernehmung am 19. Dezember 1989 (Bl. 170 d.A. u. Bl. 16 u. 28 der
Bundesamtsakte). Der Senat geht desweiteren davon aus, daß Bakisyan ein rein
christliches Dorf war und ist, in dem Mitte der 70er Jahre über 100, 1978 noch 80,
1980 noch 25 und 1988 noch 20 bis 25 Familien lebten, von denen sich jetzt noch
fünf bis sechs dort aufhalten, und daß es im Dorf eine eigene Kirche gibt, in der bis
1979 vom Priester Y.D. Gottesdienst gehalten wurde. Diese Feststellungen
beruhen auf den Angaben des Klägers zu 1) (vgl. insbesondere Bl. 170 d.A.) und
auf Erkenntnissen, die aus den in das vorliegende Verfahren eingeführten
Dokumenten (38., S. 74; 70., S. 62) sowie aus einem früheren Berufungsverfahren
herrühren (vgl. Hess.VGH, 04.07.1988 - 12 UE 25/86 - -Abdruck, S. 38 f.>).
Außerdem hat der Senat die Überzeugung gewonnen, daß der Kläger zu 1) in
Bakisyan Acker- und Weinbau betrieb, daß er nach dem Umzug der Familie nach
Istanbul dort zunächst bis 1975 in einer Drahtfabrik arbeitete, dann für drei oder
vier Monate arbeitslos war, schließlich zusammen mit seinem ältesten Sohn A. bis
Sommer 1979 ein Schneidergeschäft führte und die anschließende Zeit bis zur
Ausreise mit Hilfe von Geldüberweisungen seines bereits ausgereisten Sohnes A.
überbrückte, ferner daß der Kläger zu 2) bis zur vierten Klasse in Istanbul zur
Schule ging, während der Kläger zu 3) seiner Schulpflicht dort nicht nachkam (Bl.
171 f: d.A., Bl. 7 ff. u. 28 der Bundesamtsakte).
Der Senat konnte indessen nicht die Überzeugung gewinnen, daß die Kläger in
Bakisyan oder Istanbul politische Verfolgung erlitten haben. Die Gründe, warum die
Kläger zu 1) und 2) und zahlreiche weitere christliche Familien Bakisyan und warum
die Kläger schließlich auch Istanbul verlassen haben, erscheinen vielgestaltig,
rechtfertigen aber nicht die Annahme einer dortigen Verfolgung in asylrechtlich
erheblicher Weise.
a) Insbesondere kann der Kläger zu 1) aus dem Vorfall Ende der 50er Jahre keine
fluchtauslösende eigene Vorverfolgung herleiten, als er selbst sich mit seinen
Eltern und anderen Christen im Vorhof der Kirche von Bakisyan aufgehalten haben
will und Muslime auf sie geschossen und einen Christen getötet haben sollen (Bl.
53 R u. Bl. 170 d.A.). Denn zum einen lag dieses Ereignis mehr als 20 Jahre vor der
Ausreise des Klägers zu 1), und darüber hinaus fehlt es auch an Angaben, die eine
asylrechtliche Zurechnung zum türkischen Staat ermöglichen würden. Ähnliches
gilt, soweit der Kläger zu 1) davon berichtet hat, daß im Jahre 1965 Muslime das
Dorf überfallen und den Dorfvorsteher ermordet hätten (Bl. 53 R u. Bl. 170 d.A.);
hieraus ergibt sich auch deshalb nichts für das Asylbegehren des Klägers zu 1),
weil sein Elternhaus von dem Überfall nicht betroffen war und weil er selbst und
sein Vater offensichtlich nicht persönlich gefährdet waren, sondern ungehindert zur
Arbeit gehen konnten. Soweit der Kläger zu 1) weiter angegeben hat, er sei im
Jahre 1968 von Muslimen bei der Arbeit im Weinberg überfallen und so schwer
geschlagen worden, daß er zwei Wochen bettlägerig krank gewesen sei, und
außerdem hätten die Muslime bei dieser Gelegenheit den Weinberg beschädigt,
insbesondere Rebstöcke herausgerissen, Weintrauben und seine beiden
Zugochsen gestohlen (Bl. 171 d.A. sowie Bl. 6 f. u. 28 der Bundesamtsakte), so
fehlt es schon an hinreichend sicheren Anhaltspunkten dafür, daß hierbei
mindestens auch an die Religionszugehörigkeit des Klägers zu 1) angeknüpft
wurde; vielmehr dürften vor allem wirtschaftliche Beweggründe ausschlaggebend
gewesen sein. Was den wirtschaftlichen Verlust der Familie des Klägers zu 1)
angeht, so war dieser zudem offensichtlich nicht unmittelbar existenzbedrohend,
und deshalb kann auch auf sich beruhen, ob die betreffenden Übergriffe dem
türkischen Staat zugerechnet werden können; immerhin kam es auf Anzeige des
Klägers zu 1) zu mindestens einer - wenn auch nur vorübergehenden - Festnahme;
andererseits will der Kläger zu 1) bei einer später erhobenen Beschwerde bei der
Gendarmerie hinausgeworfen worden sein. Wenn der Kläger zu 1) weiter geltend
macht, in der Folgezeit bis 1970 hätten ihm der von ihm angezeigte Täter und
dessen Freunde aus Rache ständig verbal - zuletzt mit dem Tod - gedroht, und
nachts seien Personen um das Haus herumgeschlichen, so sind diese Angaben
schon nicht hinreichend substantiiert, um eine unmittelbar drohende
asylerhebliche Verfolgung erkennen zu lassen; abgesehen davon ist für eine
religiöse Anknüpfung nichts ersichtlich, und fehlt es an Anhaltspunkten für eine
staatliche Zurechenbarkeit, denn der Kläger zu 1) hat offenbar nicht versucht,
deswegen staatliche Hilfe in Anspruch zu nehmen.
b) Auch für die Zeit nach dem Umzug der Familie nach Istanbul bis zur Ausreise
vermag der Senat eine Vorverfolgung der Kläger nicht zu bejahen. Was die zur
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vermag der Senat eine Vorverfolgung der Kläger nicht zu bejahen. Was die zur
Schließung der Drahtfabrik, in der der Kläger zu 1) seit 1970 gearbeitet hatte,
führenden Umstände angeht (vgl. Bl. 171 d.A. sowie Bl. 7 u. 28 der
Bundesamtsakte), so könne diese deshalb auf sich beruhen, weil der Kläger zu 1)
und seine Familie durch den damit verbundenen Verlust des Arbeitsplatzes
ebensowenig wie durch die folgende kurze Periode der Arbeitslosigkeit
wirtschaftlich existenziell betroffen wurde. Dies ergibt sich bereits daraus, daß der
Kläger zu 1) den betreffenden Zeitraum überbrücken und als dann über mehrere
Jahre hinweg ein Schneidergeschäft betreiben konnte, das mindestens den
Unterhaltsbedarf zu decken imstande war. Durch die in den Jahren 1975 bis 1977
den Angaben des Klägers zu 1) zufolge erfolgten Raubüberfälle auf dieses
Geschäft wurde dessen Fortbestand und damit die wirtschaftliche Existenz der
Kläger ersichtlich ebenfalls nicht in Frage gestellt. Abgesehen davon sind insoweit
weder hinreichende Anhaltspunkte für eine religiöse - und nicht nur wirtschaftliche -
Anknüpfung noch für eine asylrechtliche Zurechenbarkeit dargetan, da der Polizei
angesichts der dem Kläger zu 1) unbekannten Täter Angaben für
erfolgversprechende Ermittlungen wohl nicht geliefert werden konnten. Das
Vorbringen zu dem erneuten Raubüberfall auf das Schneidergeschäft im Sommer
1979 ist in den einzelnen Verfahrensstadien und bei einem Vergleich mit den
Angaben des Sohnes bzw. Bruders der Kläger in dessen Asylverfahren hinsichtlich
der Einzelumstände nicht völlig frei von Widersprüchen (vgl. Bl. 171 f. d.A., Bl. 8 f.
der Bundesamtsakte u. Bl. 150 der Gerichtsakte 12 UE 55/86), bedarf aber
hinsichtlich der Glaubhaftigkeit keiner abschließenden Würdigung. Denn
Asylerheblichkeit kommt diesem Überfall jedenfalls deshalb nicht zu, weil für die
Täter offenbar wirtschaftliche Erwägungen bestimmend waren und sie mit ihrem
Verhalten ersichtlich nicht an die Religionszugehörigkeit der Kläger angeknüpft
haben. Deshalb kann - abgesehen von der asylrechtlichen Zurechenbarkeit - auch
dahinstehen, ob trotz der nunmehr erfolgten Geschäftsschließung eine
wirtschaftliche Existenzbeeinträchtigung der Kläger zu verneinen ist, weil die
Familie gleichwohl noch über ein halbes Jahr lang - offenbar von
Geldüberweisungen des Sohnes bzw. Bruders A der Kläger und von dem
Einkommen des bei einem Goldschmied beschäftigten Sohnes bzw. Bruders Y. - in
Istanbul gelebt hat. Auf die im anwaltlichen Asylantrag mitgeteilte Mieterhöhung
und die in diesem Zusammenhang angeblich erfolgte Mißhandlung des Klägers zu
1) durch den Hauseigentümer (Bl. 8 der Bundesamtsakte) ist der Kläger zu 1) in
späteren Verfahrensstadien nicht mehr zurückgekommen; jedenfalls läßt sich
daraus schon deshalb keine Vorverfolgung herleiten, weil die Familie offenbar bis
zu ihrer Ausreise über eine Wohnung verfügt hat und weil Angaben fehlen, die
insoweit eine asylrechtliche Verantwortlichkeit des türkischen Staates begründen
könnten. Was schließlich die dem Kläger zu 2) widerfahrene Behandlung im
Zusammenhang mit dem Schulbesuch betrifft (Bl. 172 f. d.A.), so ist nicht
substantiiert genug dargetan, daß die von muslimischen Kindern erhaltenen
Schläge ihrer Intensität nach über das bei Rangeleien zwischen Schulkindern
Übliche hinausgingen, daß Anknüpfungspunkt tatsächlich die
Religionszugehörigkeit des Klägers zu 2) war und daß hiergegen staatlicher Schutz
in Anspruch zu nehmen versucht worden ist (Bl. 172 f. d.A.). Entsprechendes gilt
hinsichtlich des Vorbringens des Klägers zu 3), er sei in Istanbul einige Male von
Nachbarkindern geschlagen worden (Bl. 174 d.A.). Wenn der Kläger zu 2) bei seiner
Vernehmung am 19. Dezember 1989 außerdem angegeben hat, er habe am
Religionsunterricht teilnehmen und auch islamische Gebete mitsprechen müssen
(Bl. 173 f. d.A.), so begründet dies deshalb keine Vorverfolgung des Klägers zu 2),
weil nicht ersichtlich ist, daß insoweit alle verfügbaren Beschwerdemöglichkeiten -
auch bei der Schule übergeordneten Stellen - ausgeschöpft worden sind. Soweit
schließlich der Kläger zu 1) geltend gemacht hat, ihm sei für den Fall, daß er seine
schulpflichtigen Kinder nicht zur Schule schicke, mit Bestrafung gedroht worden
(Bl. 172 d.A. u. Bl. 9 der Bundesamtsakte), so ist dies asylrechtlich irrelevant, weil
offenbar die betreffende Drohung in keinem Fall realisiert worden ist.
c) Schließlich sind die Kläger auch nicht deshalb als vorverfolgt anzusehen, weil
ihnen zum Zeitpunkt ihrer Ausreise ein asylrelevanter Eingriff unmittelbar
bevorgestanden hätte. Dies kann insbesondere unter dem Gesichtspunkt eines
etwa noch abzuleistenden Wehrdienstes nicht angenommen werden. Der damals
38jährige Kläger zu 1) unterlag zwar seinerzeit noch der Wehrpflicht; er hatte
indessen seinen Grundwehrdienst bereits geleistet, und Anhaltspunkte dafür, daß
ihm etwa die Einberufung zu einer Wehrübung unmittelbar bevorstand, sind nicht
dargetan, so daß unerörtert bleiben kann, ob christlichen Wehrpflichtigen zur Zeit
der Ausreise der Kläger überhaupt während des türkischen Wehrdienstes und ggfs.
auch bei Wehrübungen asylerhebliche Verfolgung drohte. Den damals neun und
sieben Jahre alten Klägern zu 2) und 3) stand eine Heranziehung zum Wehrdienst
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sieben Jahre alten Klägern zu 2) und 3) stand eine Heranziehung zum Wehrdienst
angesichts der erst mit Vollendung des 20sten Lebensjahres beginnenden
Wehrpflicht (53.; 63., S. 15) keinesfalls unmittelbar bevor.
4. Sind demnach die Kläger unverfolgt ausgereist und legt man demzufolge den
"normalen" Wahrscheinlichkeitsmaßstab an (vgl. BVerwG, 31.03.1981 - 9 C 286.80
-, EZAR 200 Nr. 3 = DVBl. 181, 1096, 25.09.1984 - 9 C 17.84 -, BVerwGE 70, 169 =
EZAR 200 Nr. 12, u. 03.12.1985 - 9 C 22.85 -, EZAR 202 Nr. 6 = NVwZ 1986, 760),
so kann auch nicht festgestellt werden, daß ihnen bei einer Rückkehr in die Türkei
im jetzigen Zeitpunkt als Angehörigen einer kollektiv verfolgten Gruppe politische
Verfolgungsmaßnahmen drohen. Zwar hat sich die Rechts- und Tatsachenlage seit
der Ausreise der Kläger im März 1980 in mehrfacher Hinsicht verändert; hieraus
kann aber auf eine gegenwärtige Gruppenverfolgung der syrisch-orthodoxen
Christen nicht geschlossen werden.
Was die Gestaltung des Religionsunterrichts an staatlichen Schulen angeht, so
sehen die Vorschriften des Art. 24 der 1982 in Kraft getretenen neuen türkischen
Verfassung vor, daß niemand gezwungen werden darf, an Gottesdiensten,
religiösen Zeremonien und Feiern teilzunehmen oder seine religiöse Anschauung
und seine religiösen Überzeugungen zu offenbaren (Abs. 3) und daß die Religions-
und Sittenerziehung und -lehre unter der Aufsicht und Kontrolle des Staates
durchgeführt werden und religiöse Kultur und Sittenlehre in den Grund- und
Mittelschulen zu den Pflichtfächern gehören (Abs. 4). Auf der Grundlage der
letztgenannten Verfassungsbestimmung ist in den Jahren 1982 bis 1985 der
bisherige Moralkundeunterricht mit dem Religionsunterricht zusammengelegt und
als Pflichtfach eingeführt worden (46., S. 5; 55. ; 57. , S. 9 ff., 58. , S. 5; 63., S. 20;
64, S. 5; 69.) . Mit Beschluß vom 3. Oktober 1986, Nr. 28, des Erziehungs- und
Ausbildungsausschusses, der im Mitteilungsblatt des Ministeriums für nationale
Erziehung, Jugend und Sport vom 20. Oktober 1986, Nr. 2219, veröffentlicht wurde
(Anlage zu 50.; 57., S. 21 ff.), wurden "allgemeine Prinzipien der Religionslehre und
des Ethikunterrichts" festgelegt und ein Ausbildungsprogramm für diese Fächer
verabschiedet. Danach ist der Grundsatz des Laizismus immer zu beachten und
zu schützen und darf niemand zu religiösen Handlungen gezwungen werden;
außerdem ist bestimmt, daß, wenn den Kindern die "nationale Moral gelehrt wird",
unter den Religionen nicht unterschieden wird, um den Kindern später die
Anpassung an die Gesellschaft zu erleichtern. Insgesamt kommt in dem
Ausbildungsprogramm zwar deutlich zum Ausdruck, daß der Islam die Religion der
Türkei und Mohammed ein Vorbild für die Türken sein soll (57., S. 28 ff.). Die nach
dem Verfassungsgrundsatz des Laizismus gebotene Distanz des türkischen
Staats gegenüber der islamischen Religion äußert sich aber darin, daß türkische
Schüler christlichen Glaubens das islamische Glaubensbekenntnis, die islamische
Einleitungsformel, die Glaubensformel Amentü, die Koranverse und das islamische
Ritualgebet Namaz nicht zu lernen und keine Kenntnisse über Namaz, Ramadan,
die Regeln über die islamischen Jahresspenden und das Pilgern nach Mekka zu
erwerben brauchen (vgl. Nr. 4 der Anlage zu 50. u. Nr. 4 in 57., S. 23). Durch
ergänzenden Beschluß vom 29. Januar 1987, Nr. 23, veröffentlicht im
Mitteilungsblatt vom 9. Februar 1987, Nr. 2227, wurde zudem klargestellt, daß
christliche Schüler während der Behandlung der betreffenden Lehrinhalte nicht in
der Klasse anwesend sein müssen (57., S. 31 ff.). Nach alledem bieten die
gesetzlichen und die verwaltungsinternen Vorschriften, die auch Gegenstand eines
beim Höchsten Gerichtshof anhängigen Prozesses sind (63., S. 24 ff.), keine
Veranlassung für die Annahme, der türkische Staat greife zum jetzigen Zeitpunkt
unmittelbar in die Freiheit der religiösen Betätigung der Syrisch-Orthodoxen in
einer Weise ein, die die Menschenwürde oder das religiöse Existenzminimum
antastet. Davon abgesehen verfolgte die Einführung des staatlichen
Pflichtunterrichts in Ethik und Religion das Ziel einer Eindämmung der privaten
Koranschulen (20.; 57., S. 1) und läßt deshalb für sich keinen Rückschluß auf eine
damals und noch jetzt vorhandene Neigung staatlicher Stellen zur gezielten
Beeinträchtigung nichtmuslimischer Religionen zu. Auch eine mittelbare staatliche
Gruppenverfolgung läßt sich im Zusammenhang mit dem Religionsunterricht nicht
feststellen. Zwar mag in einigen Fällen von den Lehrkräften gegen die oben
behandelten Vorschriften verstoßen werden und es zu Diskriminierungen von
christlichen Schülern kommen mit der Folge, daß diese lieber an den islamischen
Gebeten teilnehmen (vgl. 34.; 45., S. 3; 50.; 57., S. 26 ff., 35 ff. u. 47 ff; 58., S. 5;
63. S. 20 f.; 64., S. 5 ff.; 69.; 75.; 76., S. 5). Abgesehen von der insoweit meist
fehlenden Intensität der einzelnen Maßnahmen sind die gelegentlichen Übergriffe
von Lehrkräften dem türkischen Staat asylrechtlich nicht zuzurechnen, weil auch
gegenwärtig Anhaltspunkte dafür, daß die Verantwortlichen an höherer Stelle
derartige dienstliche Verfehlungen fördern oder zumindest dulden, nicht
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derartige dienstliche Verfehlungen fördern oder zumindest dulden, nicht
festgestellt werden können (vgl. 58., S. 5).
Die Behandlung christlicher Wehrpflichtiger in der türkischen Armee hat sich nach
den Erkenntnissen des Senats seit der Machtübernahme durch das Militär im
September 1980 merklich verschlimmert. Die vorliegenden Auskünfte und
Stellungnahmen gehen nach wie vor überwiegend dahin, daß Drangsalierungen
durch Verbalinjurien und Schläge weiterhin vorkämen, daß aber Fälle von
Zwangsbeschneidungen und -bekehrungen nicht oder nur selten bekannt
geworden seien (53.; 56.; 61., S. 6; 63., S. 15; 64., S. 9; 66., S. 2 f.; 74., S. 4 f.; 77.,
S. 4). Demgegenüber hat ein Zeuge in einem Verfahren vor dem
Verwaltungsgericht Gelsenkirchen nähere Angaben über einzelne Fälle von
Zwangsbeschneidungen gemacht (47.). Dieser ist 16 Monate lang bis Juli 1985
Militärarzt in Agri in der Osttürkei gewesen und hat während seiner Dienstzeit etwa
90 christliche Rekruten kennengelernt. Seinen Angaben zufolge kann er zwar nicht
als Augenzeuge bestätigen, daß jemand beim Militär einer mit körperlicher Gewalt
durchgeführten Zwangsbeschneidung unterzogen worden ist. Er hat allerdings
glaubhaft bezeugt, daß man auf andere Weise Personen dazu gezwungen hat, sich
beschneiden zu lassen. Er selbst habe die Beschneidung einiger Soldaten, die zu
ihm zur Zwangsbeschneidung geschickt worden seien, zwar abgelehnt. Er habe
aber mit eigenen Augen gesehen, daß man im Militärkrankenhaus von Agri einen
christlichen Soldaten beschnitten habe, der bei einem späteren Gespräch
offenbart habe, daß er nur unter Zwang die Beschneidung habe vornehmen
lassen; der Soldat sei nämlich nach seiner anfänglichen Weigerung "vom
Schreibdienst zum Toilettenplatz degradiert" und dann auch noch wiederholt
geschlagen worden. Der Zeuge gab ferner an, er wisse, daß 30 bis 40 Soldaten der
Beschneidung im Krankenhaus unterzogen worden seien; er habe diese Soldaten
aus den üblichen Generaluntersuchungen, die alle drei Monate stattfänden,
gekannt, und alle hätten ihm unter vier Augen bedeutet, sie seien auf keinen Fall
zur Beschneidung bereit gewesen. Die in einem anderen Berufungsverfahren am
22. März 1990 vernommenen sechs Zeugen haben ähnliches bekundet (78.). Sie
haben in dem Zeitraum zwischen Juli 1980 und Dezember 1986 jeweils unabhängig
voneinander ihren Militärdienst abgeleistet und sind allesamt Christen entweder -
in einem Fall - armenisch-katholischer oder arabisch- bzw. rum-orthodoxer
Religionszugehörigkeit. Ihre mindestens drei Monate lange Grundausbildung
absolvierten drei von ihnen in Sivas und die übrigen in Amazya, und ihren
anschließenden Dienst versahen sie in Samsun, Konya, Istanbul, Van, Agri und
Sarikamis. Alle sechs Zeugen haben glaubhaft bekundet, daß sie während ihrer
Militärzeit beschnitten worden sind, und zwar mit einer Ausnahme im Verlaufe der
Grundausbildung. Der Zeuge, der sich der Beschneidung in der Grundausbildung
noch entziehen konnte, hat dies nachvollziehbar auf ein gewisses Wohlwollen
seines Vorgesetzten zurückgeführt, das er durch die Reparatur von dessen
Fernsehapparat erlangt gehabt habe; dieser Zeuge wurde dann an seinem neuen
Standort Sarikamis beschnitten (78., S. 13). Die Zeugen sind ihren in sich
stimmigen und von den übrigen Verfahrensbeteiligten nicht in Zweifel gezogenen
Angaben zufolge jeweils im örtlichen Militärkrankenhaus beschnitten worden.
Einem wurde vorgetäuscht, daß er lediglich untersucht werde; er wurde sodann in
Vollnarkose versetzt und beschnitten (78., S. 3). Den anderen war klar oder wurde
spätestens von den Militärärzten eröffnet, daß sie beschnitten werden sollten.
Hiervon ließen sich die Ärzte auch nicht abbringen, obwohl drei der Zeugen ihnen
gegenüber äußerten, daß sie eine Beschneidung ablehnten; die Ärzte verwiesen
entweder auf einen ihnen erteilten Befehl oder auf die Regeln des Islam (78., S. 5,
7 u. 9). Einer der Zeugen gab an, er habe sich angesichts eines
vorausgegangenen Befehls des obersten Vorgesetzten am Standort und
anwesender Wachen nicht getraut, dem Arzt gegenüber eine Beschneidung zu
verweigern (78., S. 14). Und nur ein einziger der sechs Zeugen hat ausgesagt, daß
er sich nicht auf Befehl, sondern auf den Rat des Arztes hin habe beschneiden
lassen, weil er keinen anderen Ausweg gesehen habe, wenn er nicht jeden Tag
Prügel habe beziehen wollen (78., S. 11). Desweiteren haben fünf der Zeugen nicht
nur von ihrer eigenen Beschneidung, sondern darüber hinaus davon berichtet, daß
die übrigen ihnen bekannten christlichen Rekruten, die zum selben Zeitpunkt
einberufen worden waren oder in derselben Einheit Wehrdienst leisteten, nahezu
ausnahmslos während der Grundausbildung gegen ihren Willen beschnitten worden
seien; insoweit wurden für Sivas von einem Zeugen für seine Dienstzeit zehn
armenische Christen (78., S. 3) und von einem anderen für seine Dienstzeit
insgesamt ca. 30 Christen (78., S. 9) und für Amazya von drei Zeugen jeweils für
die eigene Dienstzeit ca. 35 bzw. 45 bzw. 30 christliche Rekruten genannt (78., S. 4
f., 8 u. 12 f.). Einer der Zeugen hat ferner bekundet, daß er sich nicht nur bei
seinem Kompaniechef, sondern - zusammen mit anderen zwangsbeschnittenen
seinem Kompaniechef, sondern - zusammen mit anderen zwangsbeschnittenen
Christen - sogar bei dem ranghöchsten Offizier in Sivas über den Eingriff erfolglos
beschwert habe (78., S. 3); ein anderer Zeuge hat angegeben, daß er sich bei
seinem direkten Vorgesetzten ohne Erfolg zum Zwecke einer Beschwerde bei dem
nächsthöheren Vorgesetzten angemeldet habe (78., S. 5), und ein dritter, daß er
wegen Beleidigung seines direkten Vorgesetzten Disziplinararrest erhalten habe,
als er sich über diesen beim nächsthöheren Vorgesetzten beschwert habe (78., S.
11). Wenn nach alledem nunmehr davon auszugehen ist, daß es nicht nur in Agri,
sondern auch in Sivas, Amazya und Sarikamis zu Zwangsbeschneidungen von
christlichen Wehrpflichtigen gekommen ist, und zwar nicht lediglich von einzelnen
Personen, sondern seit dem Militärputsch offenbar von nahezu allen zu einem
bestimmten Dienstantrittstermin einberufenen Rekruten, so vermag der Senat
jedenfalls in bezug auf diese Standorte und auch für die Zukunft eine beachtliche
Wahrscheinlichkeit dafür nicht (mehr) zu verneinen, daß - soweit eine
Beschneidung nicht sogar ausdrücklich befohlen wird - christliche Wehrpflichtige
von Kameraden und insbesondere auch von Vorgesetzten mindestens derart
unter Druck gesetzt werden, daß sie einer Beschneidung regelmäßig nicht
ausweichen können (Hess.VGH, 26.03.1990 - 12 UE 2702/86, 12 UE 2970/86, 12
UE 2997/86 u. 12 UE 2998/86 -, 23.04.1990 - 12 UE 2579/85, 12 UE 2581/85 u. 12
UE 61/86 - sowie 02.05.1990 - 12 UE 1078/84, 12 UE 1116/84 u. 12 UE 2784/87 -).
Mit physischer oder psychischer Gewalt durchgeführte Beschneidungen liegen als
Eingriffe in die körperliche Integrität, die regelmäßig mit einem stationären
Aufenthalt im Militärkrankenhaus verbunden sind, und als Maßnahmen, die die
Opfer unter Mißachtung ihres religiösen und personalen Selbstbestimmungsrechts
zum bloßen Objekt erniedrigen und deshalb das religiöse Existenzminimum
berühren, über der Schwelle dessen, was - auch mit Blick auf die allgemein rauhen
Umgangsformen innerhalb der türkischen Armee (39., S. 5; 41., S. 5 f.; 77., S. 2 u.
5) - noch als hinnehmbar angesehen werden kann (ebenso OVG Nordrhein-
Westfalen, 15.02.1990 - 14 A 10082/87 -). Derartige Beschneidungen knüpfen
überdies erkennbar an die Religionszugehörigkeit der Betroffenen an. Denn sie
stellen nach ihrem inhaltlichen Charakter objektiv und nicht nur aus der Sicht
derjenigen, die sie anordnen oder veranlassen, und derjenigen, die sie
durchführen, einen ersten und unabänderlichen äußeren Schritt zur zwangsweisen
Bekehrung der Opfer zum Islam dar; den Betroffenen wird damit nämlich die
symbolhafte Aufnahme in die islamische Gemeinschaft aufgenötigt, mag deren
innere religiöse Einstellung allein dadurch auch noch unberührt bleiben können
(vgl. 39., S. 5). Der Senat ist darüber hinaus aufgrund der ihm nunmehr
vorliegenden Erkenntnisse auch zu der Überzeugung gelangt, daß die
betreffenden Verfolgungsmaßnahmen dem türkischen Staat zuzurechnen sind
(ebenso OVG Nordrhein-Westfalen, 15.02.1990 - 14 A 10082/87 -). Eine
zurechenbare Verfolgung liegt nämlich schon dann vor, wenn der Staat in der
Armee auftretenden asylrelevanten Übergriffen auf Wehrpflichtige nicht
entgegenwirkt, indem er beispielsweise präventive Vorkehrungen trifft, um
Übergriffe zu verhindern, und indem er, wenn solche Übergriffe gleichwohl
vorkommen, den Opfern Schutz gewährt und gegen pflichtwidrig Handelnde
Sanktionen verhängt (BVerwG, 22.04.1986 - 9 C 318.85 u.a. -, BVerwGE 74, 160 =
EZAR 202 Nr. 8). Die Vielzahl der jetzt bekannt gewordenen Fälle von
Zwangsbeschneidungen christlicher Wehrpflichtiger während ihres Militärdienstes
kann der militärischen Führung nicht verborgen geblieben sein. Gleichwohl hat sie
keinerlei Vorkehrungen dafür getroffen, daß derartige Übergriffe in Zukunft
unterbleiben, sondern sie bietet hierzu offenbar weiterhin Gelegenheit in mehreren
Militärkrankenhäusern, in denen Beschneidungen ohne weiteres und gegen den
Willen der Betroffenen vorgenommen werden. Ebensowenig kann nach dem
Ergebnis der Beweisaufnahme vom 22. März 1990 (78.) und den sonst
vorliegenden Erkenntnisquellen noch festgestellt werden, daß den Betroffenen
wenigstens im nachhinein Schutz gewährt wird und daß diejenigen, die
Beschneidungen anordnen, veranlassen oder durchführen, prinzipiell zur
Rechenschaft gezogen werden. Schon bisher ist der Senat davon ausgegangen,
daß die Beschwerden von Soldaten in den unteren Rängen häufig nicht akzeptiert
werden und die Folgen einer Beschwerdeeinlegung für sie eher negativ seien, so
daß sie aus Angst oder wegen des sozialen Drucks in ihrer Einheit in der Praxis von
der Beschreitung des Beschwerdewegs meist absehen (41., S. 6; 56.; 57.; 61.; 77.,
S. 4). Diese Einschätzung haben einige der Zeugen bestätigt und dabei
insbesondere auch darauf hingewiesen, daß sie keine Chance für eine erfolgreiche
Beschwerde an höherer Stelle gesehen hätten, weil jeweils der Beschwerdeweg
über den direkten Vorgesetzten einzuhalten sei (78., S. 5 f., 7 u. 10), und daß
wegen der Kontrolle der Post auch die Einschaltung politischer Stellen nicht
angezeigt gewesen sei (78., S. 3). Darüber hinaus hat einer der Zeugen glaubhaft
bekundet, daß selbst der ranghöchste Vorgesetzte am Standort Sivas auf seine
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bekundet, daß selbst der ranghöchste Vorgesetzte am Standort Sivas auf seine
Beschwerde hin nicht tätig geworden sei (78., S. 3); andere haben angegeben, daß
ihre Beschneidung nicht irgendein militärischer Unterführer, sondern der jeweilige
Kapitän (Hauptmann) ihrer Einheit selbst befohlen habe (78., S. 7 u. 13 f.). Wenn
schließlich der ranghöchste Vorgesetzte in Sivas auf eine Beschwerde hin
geäußert hat, es sei beschlossene Sache, in der Türkei einen islamischen
Einheitsstaat zu schaffen (78., S. 3), so bestätigt dies hinreichend deutlich, daß die
Militärführung offenbar dem Laizismus nicht mehr hinreichend Geltung verschafft
und vor dem Hintergrund der in der Türkei spürbaren Rückbesinnung auf
islamische Werte Übergriffe gegenüber christlichen Wehrpflichtigen nicht mehr
energisch genug unterbindet (56.; 61.; 74. S. 4; 77., S. 5). Nimmt man noch hinzu,
daß der Generalstab im Ramadan 1984 kollektiv gefastet hat und daß in letzter
Zeit Offiziere zum gemeinsamen Freitagsgebet aufgefordert haben (77., S. 5),
ferner daß der Staatsminister für das Amt für religiöse Angelegenheiten am 10.
November 1989 geäußert haben soll, es sei jetzt notwendig, die Christen zu
islamisieren (76., S. 18; vgl. dazu auch 61., S. 6), so liegen nunmehr die - vom
Senat bisher vermißten (vgl. zuletzt vor allem Hess. VGH, 27.02.1989 - 12 UE
839/85 -, 20.11.1989 - 12 UE 2336/85 - u. 04.12.1989 - 12 UE 2652/85 u. 12 UE
63/86 -) - verwertbaren Tatsachen vor, die auf eine Förderung oder zumindest
Duldung von Zwangsbeschneidungen gegenüber christlichen Wehrpflichtigen
hindeuten. Denn einmal sind jetzt konkrete Fälle bekannt, in denen Beschwerden
eingereicht und bei höherer Stelle erfolglos geblieben sind, und zum anderen
finden sich Äußerungen verantwortlicher Personen in der Öffentlichkeit oder
gegenüber Betroffenen, die - im Einklang mit entsprechenden Beschlüssen des
"Islamischen Rates" aus dem Jahr 1984 (vgl. 65.) - den generellen Schluß auf eine
staatliche Politik zulassen, die den Umstand mindestens mit Wohlwollen sieht -
wenn nicht sogar gezielt herbeiführt -, daß sich Christen durch Drangsalierungen
auf verschiedensten Ebenen - nicht nur beim Militär - zur Ausreise veranlaßt sehen
(56.; 77., S. 4; vgl. auch 43., S. 7, u. 45, S. 4). Bei alledem bedarf es - zumal keiner
der Beteiligten das vorliegende Tatsachenmaterial angezweifelt oder die Einholung
weiterer Auskünfte oder gutachtlicher Stellungnahmen substantiiert beantragt hat
- derzeit keiner diesbezüglichen weiteren Ermittlungen; denn bereits auf der
Grundlage der dem Senat vorliegenden Erkenntnisquellen steht fest, daß
gegenwärtig nicht (mehr) davon die Rede sein kann, daß der türkische Staat im
großen und ganzen erfolgreich das pflichtwidrige Handeln von Militärangehörigen
bekämpft und daß deshalb - trotz Mißlingens einer lückenlosen Verhinderung und
Ahndung aller in seinem Machtbereich auftretenden Vorfälle - seine asylrechtliche
Verantwortlichkeit entfällt (Hess.VGH, 26.03.1990 - 12 UE 2702/86, 12 UE 2970/86,
12 UE 2997/86 u. 12 UE 2998/86 -, 23.04.1990 - 12 UE 2579/85, 12 UE 2581/85 u.
12 UE 61/86 - sowie 02.05.1990 - 12 UE 1078/84, 12 UE 1116/84 u. 12 UE 2784/87
-). Indessen reichen die vorliegenden Feststellungen nicht für die Annahme aus,
daß christliche Wehrpflichtige allgemein mit einer Zwangsbeschneidung im Militär
in dem Sinne zu rechnen haben, daß daraus auf eine politische Kollektivverfolgung
aller Christen oder zumindest des abgegrenzten Kreises aller wehrpflichtigen
Gruppenangehörigen geschlossen werden könnte. Denn die Annahme einer
Gruppenverfolgung setzt eine Verfolgungsdichte voraus, die in quantitativer
Hinsicht die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen aufweist, daß
dabei nicht mehr nur von - möglicherweise zahlreichen - individuellen Übergriffen
gesprochen werden kann, sondern von einer ohne weiteres bestehenden aktuellen
Gefahr eigener Betroffenheit jedes Gruppenmitglieds (BVerwG, 08.02.1989 - 9 C
33.87 -, EZAR 202 Nr. 15 = NVwZ-RR 1989, 502). Dafür genügen die bisher
lediglich für vier Standorte festgestellten Zwangsbeschneidungen von christlichen
Wehrpflichtigen für sich allein noch nicht, zumal aus einer politischen Verfolgung
der wehrpflichtigen Gruppenangehörigen nicht ohne weiteres eine
Kollektivverfolgung der Syrisch-Orthodoxen insgesamt entnommen werden könnte
(BVerwG, 24.08.1989 - 9 B 301.89 -, NVwZ 1990, 80 = InfAuslR 1989, 348).
Den Klägern droht im Rückkehrfalle auch keine mittelbare staatliche
Gruppenverfolgung im Hinblick auf mögliche Übergriffe muslimischer Eiferer
außerhalb des Militärdienstes. Wie oben (unter II. 2. b) ausgeführt, hatten die
syrisch-orthodoxen Christen bis zur Ausreise der Kläger aus der Türkei allgemein
und insbesondere in Istanbul eine derartige politische Verfolgung nicht zu
befürchten. Inzwischen hat sich die Sicherheitslage nach der Machtübernahme
durch die Militärs im September 1980 allgemein erheblich verbessert, und dies hat
sich nach allgemeiner Einschätzung auch zugunsten der syrisch-orthodoxen
Christen in Istanbul wie in anderen Landesteilen ausgewirkt (vgl. dazu etwa: 18., S.
34; 21.; 26.; 27.; 28.; 33.; 35.; 37.). Das Auswärtige Amt hat dazu nach
eingehenden Gesprächen mit syrisch-orthodoxen Geistlichen unter Bezugnahme
auf einen deutschsprachigen Bericht in dem Organ der Erzdiözese der syrisch-
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auf einen deutschsprachigen Bericht in dem Organ der Erzdiözese der syrisch-
orthodoxen Kirche von Antiochien in Europa vom Dezember 1982/Januar 1983
einen zunehmenden staatlichen Schutz für die syrisch-orthodoxen Christen nach
der Machtübernahme durch die Militärs festgestellt (33.). Die Evangelische
Gemeinde deutscher Sprache in der Türkei berichtet davon, daß von der
Geistlichkeit und von einzelnen Gemeindemitgliedern immer wieder festgestellt
werde, daß sich die Verhältnisse nach dem 12. September 1980 gebessert hätten
(26.). Die Sürjanni Kadim berichtet, ihre Mitglieder befänden sich wie jeder andere
türkische Bürger nach dem 12. September 1980 "in Ruhe und in Sicherheit" (27.).
Nach Auskunft der Sachverständigen Dr. Harb-Anschütz hat sich nach dem 12.
September 1980 auch in Istanbul der Lage der syrisch-orthodoxen Christen
wesentlich verbessert (28.). Zu demselben Ergebnis gelangten die Teilnehmer
einer von der Evangelischen Akademie Bad Boll im Mai 1983 veranstalteten
Studienfahrt in die Türkei (30., S. 7 u. 18). Soweit eine Verbesserung der
Sicherheitslage mit den entsprechenden Auswirkungen auf die Situation der
Syrisch-Orthodoxen in Instanbul bezweifelt wird (32., S. 17 ff.), fehlt es an
konkreten Hinweisen darauf, daß sich tatsächlich entgegen der allgemeinen
Lebenserfahrung die in der Türkei in den letzten Jahren zu beobachtende
Verbesserung der Sicherheitslage nicht auch zugunsten der christlichen
Bevölkerung ausgewirkt haben könnte. Auch bei Berücksichtigung neuerer
Erkenntnisquellen hält der Senat an dieser Einschätzung fest. Insbesondere läßt
die insgesamt vorsichtig gehaltene und nach Straftaten differenzierende
Stellungnahme des Sachverständigen Oehring an das Verwaltungsgericht Kassel
vom 11. Juli 1988 (59.) nicht die Annahme zu, daß türkische Staatsbürger
christlichen Glaubens generell gegenüber Straftaten muslimischer Staatsbürger
strafrechtlichen Schutz nicht erhielten; entsprechend ist das Gutachten der
Gesellschaft für bedrohte Völker vom Dezember 1988 (63., S. 13 f.) zu würdigen.
Denn nach einer aktuellen Auskunft des Auswärtigen Amts (72.), die der Senat mit
der von den Klägern geforderten Zurückhaltung bewertet, sind keine Fälle bekannt
geworden, in denen christlichen Türken behördlicher Schutz durch Abweisung ihrer
Strafanzeigen versagt worden ist (im Ergebnis ebenso Bay. VGH, 29.11.1985 - 11
B 85 C 35 -; VGH Baden-Württemberg, 20.06.1985 - A 13 S 221/84 - u. 09.02.1987
- A 13 S 709/86 -; OVG Bremen, 14.04.1987 - 2 BA 28/85 u. 32/85 -; OVG
Hamburg, 10.06.1987 - Bf V 21/86 -; OVG Nordrhein-Westfalen, 19.02.1987 - 18 A
10315/86 -; Hess. VGH, 30.08.1984 - X OE 306/82 -, 22.02.1988 - 12 UE 1071/84 -
NVwZ-RR 1988, 48, - 12 UE 1587/84 u. 12 UE 2585/85 -, 26.03.1990 - 12 UE
2702/86, 12 UE 2970/86, 12 UE 2997/86 u. 12 UE 2998/86 - sowie 23.04.1990 - 12
UE 2579/85, 12 UE 2581/85 u. 12 UE 61/86 -).
5. Ferner kann für den Kläger zu 1) nicht zur Überzeugung des Senats festgestellt
werden, daß gerade ihm bei einer Rückkehr in seine Heimat im derzeitigen
Zeitpunkt politische, nämlich an seine Religionszugehörigkeit anknüpfende
Einzelverfolgung droht.
Die Verfolgungsprognose ist für das gesamte Territorium des Heimatstaats
anzustellen; eine Beschränkung auf etwa den Geburts- oder den letzten
Herkunftsort ist nicht statthaft. Droht dem Asylsuchenden politische Verfolgung
nur in einem Teil des Heimatstaats, so kann er auf Gebiete verwiesen werden, in
denen er vor politischer Verfolgung hinreichend sicher ist, es sei denn, es drohen
dort andere Nachteile und Gefahren, die nach ihrer Intensität und Schwere einer
asylerheblichen Rechtsgutsbeeinträchtigung aus politischen Gründen
gleichkommen, sofern diese existentielle Gefährdung am Herkunftsort so nicht
bestünde (BVerfG, 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 u.a.-, BVerfGE 79, 315 = EZAR 201
Nr. 20). Ist jemand vor einer regionalen, an seine Religionszugehörigkeit
anknüpfenden politischen Verfolgung geflohen, so ist er am Ort einer in Betracht
kommenden Fluchtalternative auch dann nicht hinreichend sicher vor politischer
Verfolgung, wenn der Staat ihn durch eigene Maßnahmen daran hindert, das
religiöse Existenzminimum zu wahren; entsprechendes gilt, wenn die dort
ansässige Bevölkerung die Wahrung des religiösen Existenzminimums durch
aktives, mit dem für alle geltenden Recht unvereinbares Handeln unmöglich
macht, ohne daß der Staat die nach seiner Rechtsordnung hiergegen allgemein in
Betracht kommenden Maßnahmen ergreift (BVerfG, 10.11.1989 - 2 BvR 403/84
u.a. -, EZAR 203 Nr. 5 = NVwZ 1990, 254).
Eine dem Kläger zu 1) im Rückkehrfalle drohende politische Verfolgung vermag der
Senat derzeit weder in bezug auf das Dorf Bakisyan festzustellen, wo er geboren
und aufgewachsen ist, noch in bezug auf Istanbul, wo er vor seiner Ausreise fast 10
Jahre lang gelebt hat. Der Kläger zu 1) könnte vielmehr in diesen beiden Orten
ebenso wie anderswo in der Türkei ohne unmittelbar drohende Furcht vor
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ebenso wie anderswo in der Türkei ohne unmittelbar drohende Furcht vor
politischer Verfolgung leben. Denn wie oben (unter II. 4.) dargelegt, hat sich die
Verbesserung der Sicherheitslage nach der Machtübernahme durch die Militärs im
September 1980 auch zugunsten der Christen ausgewirkt und hat sich hieran im
Ergebnis bis heute nichts geändert. Offenbar gibt es aus jüngerer Zeit auch keine
Bezugsfälle, in denen Christen im Alter des jetzt 48jährigen Klägers zu 1) ernsthaft
an der Ausübung ihrer Religion gehindert worden sind. Mithin kann nicht mit
beachtlicher Wahrscheinlichkeit angenommen werden, daß der Kläger zu 1) -
zumal er aufgrund seines Alters nicht mehr der Wehrpflicht unterliegt und deshalb
auch nicht mit der Heranziehung zu Wehrübungen rechnen muß - im Rückkehrfalle
von an seine Religionszugehörigkeit anknüpfenden Übergriffen muslimischer
Türken betroffen und diesen Verfolgungsmaßnahmen schutzlos ausgesetzt wäre.
Freilich kann nicht ausgeschlossen werden, daß der Kläger zu 1) in seinem
früheren Heimatort Bakisyan nicht in der Lage sein würde, eine ausreichende
materielle Lebensgrundlage zu erlangen. Denn der dortige Familienbesitz wurde
anläßlich der Übersiedlung der Kläger nach Istanbul aufgegeben, und es leben dort
keine Angehörigen mehr, die den Kläger zu 1) beim Wiederaufbau einer Existenz
unterstützen könnten. Anders dürfte sich die Situation in Istanbul darstellen, wo
der Kläger zu 1) fast 10 Jahre lang gelebt und meist auch gearbeitet hat. Auch
wenn ihm dort kein verwandtschaftlicher Anknüpfungspunkt zur Verfügung steht
und er nur leidlich Türkisch spricht, fehlen doch Anzeichen dafür, daß es ihm nicht
wie anderen zurückkehrenden oder aus dem Tur'Abdin zuwandernden Männern
gelingen sollte, in Istanbul eine seinen Lebensunterhalt deckende Beschäftigung
zu finden, zumal er - wie schon vor der Ausreise - wohl wieder mit
Geldüberweisungen seiner im Bundesgebiet lebenden Angehörigen rechnen
könnte. Letztlich braucht dies nicht abschließend entschieden zu werden, denn die
Frage einer eventuellen Existenzgefährdung im Rückkehrfall ist ohnehin nur von
ausländerrechtlicher und nicht von asylrechtlicher Bedeutung, so daß
diesbezüglich weitere Ermittlungen, sollten sie sich überhaupt aufdrängen,
unterbleiben konnten. Zwar hatte der erkennende Senat zugunsten einer als
vorverfolgt anzusehenden mindestens 72jährigen türkischen Christin zunächst
eine im Rückkehrfalle drohende existentielle Notlage als asylrelevant anerkannt
(16.05.1988 - 12 UE 2571/85 -). Dieses Urteil ist jedoch vom
Bundesverwaltungsgericht mit der Begründung aufgehoben worden, daß mangels
gegenwärtiger Verfolgungsbetroffenheit eine Asylanerkennung selbst dann nicht in
Betracht komme, wenn die durch eine frühere Verfolgungsgefahr veranlaßte Flucht
dadurch nachwirke, daß der Ausländer nunmehr bei einer Rückkehr in seinen
Heimatstaat in eine existenzbedrohende wirtschaftliche Notlage geraten würde
(31.01.1989 - 9 C 43.88 -, EZAR 200 Nr. 24). Im Hinblick darauf hält der
erkennende Senat an seiner früheren Auffassung nicht mehr fest (vgl. schon Hess.
VGH, 23.05.1989 - 12 TE 3945/87 -, 29.05.1989 - 12 UE 2586/85 u. 12 UE 2643/85
- u. 04.12.1989 - 12 UE 63/86 -). Unerheblich ist in diesem Zusammenhang, daß
auf eine sog. inländische Fluchtalternative nur verwiesen werden kann, wenn dem
Betroffenen in den in Betracht kommenden Gebieten auch keine
asylunabhängigen Nachteile und Gefahren drohen, die nach ihrer Intensität und
Schwere einer asylerheblichen Rechtsgutsbeeinträchtigung aus politischen
Gründen gleichkommen, sofern diese existentielle Gefährdung am Herkunftsort so
nicht bestünde (vgl. oben unter II. 5.). Denn hierauf kommt es im vorliegenden Fall
schon deshalb nicht an, weil gegenwärtig eine politische Verfolgung des Klägers zu
1) landesweit auszuschließen ist und deshalb - mangels Betroffenheit von
mindestens regionaler politischer Verfolgung - gar kein Raum für die Frage ist,
unter welchen Voraussetzungen eine zumutbare inländische Fluchtalternative
angenommen werden kann (BVerwG, 31.01.1989 - 9 C 43.88 -, EZAR 200 Nr. 24;
Hess. VGH, 04.12.1989 - 12 UE 63/86 -). Nach alledem könnte selbst eine den
Kläger zu 1) bei einer Rückkehr in den Heimatstaat möglicherweise erwartende
existentielle Notlage nicht bei der Entscheidung über die vorliegende
Asylverpflichtungsklage, sondern nur bei der Frage berücksichtigt werden, ob ihm
ungeachtet der Ablehnung seines Asylantrags der weitere Aufenthalt zu gestatten
ist; dem hat der Beklagte zu 2) durch eine allen Klägern unter dem 11. April 1988
erteilte dahingehende Zusicherung bereits Rechnung getragen.
6. Den Klägern zu 2) und 3) droht indessen zur Überzeugung des Senats bei einer
Rückkehr in ihre Heimat zum derzeitigen Zeitpunkt mit beachtlicher
Wahrscheinlichkeit politische, nämlich an ihre Religionszugehörigkeit anknüpfende
Einzelverfolgung im Rahmen des für sie absehbar bevorstehenden Militärdienstes
(Hess.VGH, 26.03.1990 - 12 UE 2997/86 - sowie 02.05.1990 - 12 UE 1078/84, 12
UE 1116/84 u. 12 UE 2784/87 -).
Für die hinsichtlich des Rückkehrfalles anzustellende Prognose ist davon
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Für die hinsichtlich des Rückkehrfalles anzustellende Prognose ist davon
auszugehen, daß die Kläger zu 2) und 3) allein in die Türkei zurückkehren werden.
Zwar lassen Familienmitglieder nach der Lebenserfahrung einander in
Notsituationen nicht mutwillig im Stich und geben einander nicht einem unsicheren
Schicksal preis, dessen erkennbar bedrohliche Folgen sie ohne eigene Gefährdung
oder übermäßige Anstrengung abwenden können, und deshalb spricht eine
tatsächliche Vermutung dafür, daß der Ehemann und Vater einer mit ihrem
Asylbegehren erfolglos gebliebenen Familie diese heimbegleitet, wenn sie ohne ihn
einer Existenzgefährdung ausgesetzt wäre (BVerwG, 06.03.1990 - 9 C 14.89 u. 9 C
15.89 -). Die genannte Vermutung gilt aber nur für das Verhältnis von Eltern zu
ihren noch sorgebedürftigen Kindern und von Eheleuten untereinander und
überdies nur dann, wenn nicht ihr entgegenstehende Tatsachen festgestellt sind
wie etwa die Anerkennung des Familienvaters als politisch Verfolgter oder dessen
erklärte Absicht, auf keinen Fall in das Herkunftsland zurückzukehren (BVerwG,
06.03.1990 - 9 C 14.89 u. 9 C 15.89 -). In bezug auf die zusammen mit ihrem
Vater, dem Kläger zu 1), im Alter von neun und sieben Jahren ausgereisten Kläger
zu 2) und 3) greift die vorgenannte Vermutung schon deshalb nicht, weil der Kläger
zu 2) mittlerweile 19 Jahre alt, also volljährig ist, und weil - soweit der in gut einem
Monat volljährig werdende Kläger zu 3) in Rede steht - der Kläger zu 1) wegen der
ihm erteilten Aufenthaltserlaubniszusicherung für den Fall der unanfechtbaren
Ablehnung seines Asylantrags nicht ausreisepflichtig ist (vgl. Hess.VGH,
26.03.1990 - 12 UE 2702/86 u. 12 UE 2998/86 -).
Eine den Klägern zu 2) und 3) im Rückkehrfalle - außerhalb des Militärdienstes -
drohende politische Verfolgung vermag der Senat derzeit weder in bezug auf das
Dorf Bakisyan festzustellen, wo der Kläger zu 2) geboren ist, noch in bezug auf
Istanbul, wo der Kläger zu 3) geboren ist und wo beide bis zu ihrer Ausreise gelebt
haben. Die Kläger zu 2) und 3) können vielmehr in diesen beiden Orten ebenso wie
anderswo in der Türkei ohne unmittelbar drohende Flucht vor politischer
Verfolgung leben. Denn wie oben (unter II. 4.) dargelegt, hat sich die Verbesserung
der Sicherheitslage nach der Machtübernahme durch die Militärs im September
1980 auch zugunsten der Christen ausgewirkt. Offenbar gibt es aus jüngerer Zeit
keine Bezugsfälle, in denen männliche Christen im Alter der Kläger zu 2) und 3)
ernsthaft an der Ausübung ihrer Religion gehindert worden sind. Mithin kann nicht
mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit angenommen werden, daß die Kläger zu 2)
und 3) im Rückkehrfalle außerhalb des Militärdienstes von an ihrer
Religionszugehörigkeit anknüpfenden Übergriffen muslimischer Türken betroffen
und diesen Verfolgungsmaßnahmen schutzlos ausgesetzt wären.
In bezug auf den derzeit noch minderjährigen Kläger zu 3) kann auch nicht als
beachtlich wahrscheinlich angesehen werden, daß ihm im Rückkehrfalle, da er den
Angaben des Klägers zu 1) bei dessen Vernehmung am 19. Dezember 1989
zufolge (B1. 169 d.A.) weder in Bakisyan noch in Istanbul oder sonstwo in der
Türkei über aufnahmebereite Verwandte verfügt, die Einweisung in ein staatliches
türkisches Waisenhaus und damit die zwangsweise Aufgabe seines christlichen
Bekenntnisses droht. Zwar ist hierin nach der ständigen Rechtsprechung des
Hessischen Verwaltungsgerichtshofs grundsätzlich ein asylrelevanter Eingriff in die
Religionsfreiheit zu erblicken (23.08.1984 - X OE 609/82 -, 30.05.1988 - 12 UE
2514/85 -, 06.02.1989 - 12 UE 2580/85 -, 20.03.1989 - 12 UE 1705/85 -,
29.05.1989 - 12 UE 2586/85 u. 12 UE 2643/85 - sowie 26.03.1990 - 12 UE 2702/86,
12 UE 2970/86 u. 12 UE 2998/86 -; vgl. ferner OVG Nordrhein-Westfalen, 23.04.
1985 - 18 A 10237/84 -), und gilt dies regelmäßig auch für ältere Minderjährige, die
durch die ihnen in einem staatlichen türkischen Waisenhaus widerfahrenden
Einschränkungen insofern stärker betroffen werden, als sie diese infolge ihrer
längeren christlichen Erziehung subjektiv als einschneidender empfinden,
andererseits aber aufgrund ihrer meist ausgeprägteren religiösen Überzeugung
eher in der Lage sein werden, trotzdem innerlich an ihrem Glauben festzuhalten.
Die Wahrscheinlichkeit einer derartigen Verfolgung muß indessen für einen
absehbaren Zeitraum nach dem jetzigen Zeitpunkt beurteilt werden, und deshalb
ist vorliegend von ausschlaggebender Bedeutung, daß der Kläger zu 3) bereits am
10. Juni 1990 - mithin vor dem regelmäßigen Eintritt der Rechtskraft des
vorliegenden Urteils - das 18. Lebensjahr vollenden wird. Für einen derart kurzen,
etwa einen Monat umfassenden Zeitraum, kann dem Kläger zu 3) aber abverlangt
werden, die betreffende - ohnehin nur theoretisch drohende Verfolgung
hinzunehmen. Demgemäß hat der Senat bisher lediglich in Fällen, in denen die
Vollendung des 18. Lebensjahres in etwa eindreiviertel Jahren oder noch später
anstand, seine eingangs dieses Absatzes dargestellte Rechtsprechung angewandt
(insoweit ablehnend für ein ca. 17-jähriges Mädchen - die dortige Klägerin zu 3) -
auch schon Hess.VGH, 23.08.1984 - X OE 609/82 -, und für einen ebenfalls
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auch schon Hess.VGH, 23.08.1984 - X OE 609/82 -, und für einen ebenfalls
unmittelbar vor der Vollendung seines 18. Lebensjahres stehenden Jungen Hess.
VGH, 04.12.1989 - 12 UE 63/86 -).
Den Klägern zu 2) und 3) droht dennoch deshalb mit beachtlicher
Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung, weil sie bei einer Rückkehr in absehbarer
Zeit mit ihrer Heranziehung zum türkischen Militärdienst und dort mit ihrer
zwangsweisen Beschneidung rechnen müßten. Der Kläger zu 2) vollendet im
August dieses Jahres sein 20. und der Kläger zu 3) im kommenden Monat sein 18.
Lebensjahr. Beide unterliegen deshalb zwar noch nicht der vom 20. bis zum 46.
Lebensjahr bestehenden Wehrpflicht (53.; 63., S. 15); deren Eintritt steht aber
absehbar bevor. Da für eine eventuelle Wehrdienstunfähigkeit oder für sonstige
Gründe, die ihrer Heranziehung entgegenstehen könnten, nichts ersichtlich oder
von den Beteiligten dargetan ist, muß der Kläger zu 2) nach einer Rückkehr
jederzeit und der Kläger zu 3) jedenfalls in absehbarer Zeit (vgl. Hess.VGH,
20.03.1989 - 12 UE 2192/86 - und 04.12.1989 - 12 UE 63/86 -) mit seiner
Erfassung, Musterung und anschließenden Heranziehung zum Wehrdienst
rechnen. Daß es ihnen gelingen könnte, sich vollständig "freizukaufen", ist nicht
anzunehmen. Abgesehen davon, daß dies für Nichthochschulabsolventen auf
legalem Wege kaum möglich sein dürfte (42.), fehlen ausreichende Anhaltspunkte
dafür, daß die Kläger zu 2) und 3) den dafür ggf. erforderlichen hohen Geldbetrag
(vgl. 40.; 74.) allein oder mit Hilfe von Verwandten aufbringen könnten. Allenfalls
käme gegen Zahlung einer ebenfalls hohen Geldsumme eine Reduzierung des
Militärdienstes auf zwei Monate in Betracht (74., S. 2), was aber die Gefährdung
der Kläger zu 2) und 3) nicht maßgeblich mindern würde, weil die Beschneidungen
erfahrungsgemäß in der Zeit während der Grundausbildung erfolgen. Da aus ihren
Personalpapieren die Religionszugehörigkeit ersichtlich ist (36.; 41., S. 7; 74., S. 3;
77., S. 3) und darüberhinaus zumindest beim gemeinsamen Duschen offenbar
werden wird (77., S. 3), daß die Kläger zu 2) und 3) nicht beschnitten sind, werden
sie während der Militärzeit ihre nichtmuslimische Religion mit Sicherheit nicht
verbergen können; dies gilt um so mehr, als nach den Bekundungen von einigen
der vernommenen Zeugen davon auszugehen ist, daß die nichtmuslimischen
Wehrpflichtigen gesondert festgestellt zu werden pflegen (78., S. 3, 4 f., 7, 9 u. 12).
Während der Militärzeit droht christlichen Wehrpflichtigen gegenwärtig mit
beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Beschneidung gegen ihren Willen. Zwar
reichen die dem Senat hierzu bisher vorliegenden Erkenntnisse, da sie sich auf vier
Standorte beschränken, nicht aus, um eine zur Annahme einer Gruppenverfolgung
führende Verfolgungsdichte festzustellen (vgl. oben 11. 4.). Dies steht indessen
der Bejahung einer gerade den Klägern zu 2) und 3) drohenden Einzelverfolgung
nicht entgegen. Bei seiner diesbezüglichen Prognose läßt sich der Senat nicht
etwa von rein quantitativen oder statistischen Erwägungen leiten; die Prognose ist
vielmehr das Ergebnis einer zusammenfassenden Bewertung des relevanten
Sachverhalts, wobei vor allem der Verfolgungsdichte an den vier
erkenntnisträchtigen Standorten, welche auf eine vergleichbare, wenngleich bisher
nicht bekannt gewordene Situation an anderen Standorten hindeutet, der Schwere
des drohenden Eingriffs und den in jüngster Zeit stetig zunehmenden
Islamisierungstendenzen erhebliche Bedeutung zuzumessen ist, so daß im
Ergebnis die für eine Verfolgung sprechenden Umstände größeres Gewicht
besitzen als die dagegen sprechenden (vgl. zum Prognosemaßstab insbesondere
BVerwG, 23.02.1988 - 9 C 32.87 -, EZAR 630 Nr. 25). Nach den bereits oben (II. 4.)
getroffenen Feststellungen kann jedenfalls von nur vereinzelten Übergriffen
fanatischer Muslime oder von einer besonders gelagerten Ausnahmesituation in
einem einzelnen Standort nach Auffassung des Senats nicht (mehr) die Rede sein.
Den Klägern zu 2) und 3) droht deshalb - wobei unerheblich ist, daß sie sich hierauf
nicht ausdrücklich berufen haben - für den Fall einer Einberufung sie selbst
treffende asylrelevante Verfolgung, die sich der türkische Staat - wie ebenfalls
oben (unter II. 4.) im einzelnen dargelegt - zurechnen lassen müßte, weil nicht
mehr davon ausgegangen werden kann, daß er Übergriffe auf christliche
Wehrpflichtige im Militär im großen und ganzen erfolgreich bekämpft (im Ergebnis
a.A. OVG Nordrhein-Westfalen, 15.02.1990 - 14 A 10082/87 -).
Im Hinblick darauf; daß die Kläger zu 2) und 3) unverfolgt ausgereist sind und sich
die ihnen im Rückkehrfalle drohende Verfolgung mithin als sog.
Nachfluchttatbestand darstellt, weist der erkennende Senat auf folgendes hin:
Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (26.11.1986 - 2 BvR
1058/85 -, BVerfGE 72, 51 = EZAR 200 Nr. 18, 17.11.1988 - 2 BvR 442/88 -,
InfAuslR 1989, 31, u. 08.03.1989 - 2 BvR 627/87 -, BayVBl. 1989, 561) setzt das
Asylgrundrecht des Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG von seinem Tatbestand her
grundsätzlich den Zusammenhang zwischen Verfolgung und Flucht voraus und
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grundsätzlich den Zusammenhang zwischen Verfolgung und Flucht voraus und
kann deshalb grundsätzlich nicht auf sog. subjektive Nachtfluchttatbestände
erstreckt werden, die der Asylbewerber risikolos vom gesicherten Ort aus durch
eigenes Tun geschaffen hat; etwas anderes gelte - als allgemeine Leitlinie - nur
dann, wenn die selbstgeschaffenen Nachfluchtatbestände sich als Ausdruck und
Fortführung einer schon während des Aufenthalts im Heimatstaat vorhandenen
und erkennbar betätigten Überzeugung darstellten. Diese Rechtsprechung ist im
Schrifttum zwar vorwiegend auf Kritik gestoßen (vgl. u.a. Brunn, NVwZ 1987, 301; J.
Hofmann, ZAR 1987, 115; J. Hofmann, DÖV 1987, 491; R. Hofmann, NVwZ 1987,
295; Huber, NVwZ 1987, 391; Kimminich, JZ 1987, 194; Wolff, InfAuslR 1987, 60;
Wollenschläger/ Becker, ZAR 1987, 51, 54 f.). Dennoch hat sich das
Bundesverwaltungsgericht ihr zwischenzeitlich unter Hinweis auf die seiner Ansicht
nach insoweit bestehende Bindungswirkung gemäß § 31 BVerfGG angeschlossen
und ausgeführt, seine frühere Rechtsprechung zu den subjektiven
Nachfluchtatbeständen sei überholt und die Vorschrift des § 1a AsylVfG laufe für
solche Nachfluchttatbestände leer, die nach der Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts schon vom Anwendungsbereich des Art. 16 Abs. 2
Satz 2 GG ausgeschlossen seien, und regele für die beachtlichen
Nachfluchttatbestände darüber hinaus, daß bestimmte, ihre Herbeiführung
betreffende Umstände bei der Asylentscheidung außer Betracht zu bleiben hätten
(BVerwG, 19.05.1987 - 9 C 184.86 -, BVerwGE 77, 258 = EZAR 200 Nr. 19,
20.10.1987 - 9 C 147.86 -, 20.10.1987 - 9 C 42.87 -, InfAuslR 1988, 22, 22.06.1988
- 9 B 65.88 -, InfAuslR 1988, 255, 22.06.1988 - 9 B 189.88 -, InfAuslR 1988, 254, u.
06.12.1988 - 9 C 91.87 -, InfAuslR 1989, 135). Außerdem hat das
Bundesverwaltungsgericht die vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten
Grundsätze im Hinblick auf weitere Fallgruppen selbstgeschaffener
Nachfluchttatbestände präzisiert - etwa bezüglich der Asylantragstellung
(30.08.1988 - 9 C 80.87 -, InfAuslR 1988, 337, 30.08.1988 - 9 C 20.88 -, InfAuslR
1989, 32, 25.10.1988 - 9 C 50.87 -, InfAuslR 1989, 173, 17.01.1989 - 9 C 56.88 -,
BVerwGE 81, 170 = EZAR 200 Nr. 23, u. 11.04.1989 - 9 C 53.88 -) sowie bezüglich
sog. aktiver oder passiver Republikflucht (vgl. einerseits 06.12.1988 - 9 C 22.88 -,
InfAuslR 1989, 169, andererseits 21.06.1988 - 9 C 5.88 -, EZAR 201 Nr. 14 = NVwZ
1989, 68) - und dabei entschieden, daß auch eine wegen dieser Verhaltensweisen
im Rückkehrfalle drohende politische Verfolgung wie ein selbstgeschaffener
Nachfluchtgrund zu behandeln und deshalb asylrechtlich unbeachtlich sei, wenn
der Ausländer sich nicht bereits im Zeitpunkt seines diesbezüglichen Verhaltens in
einer politisch bedingten Zwangslage befunden hat, als deren Erscheinungsform
sich eine "latente Gefährdungslage" darstelle, in der keine hinreichende Sicherheit
vor Verfolgung bestehe. Der Senat hat zur Frage der Asylerheblichkeit
selbstgeschaffener Nachfluchttatbestände ebenso wie zu der einer möglichen
Bindung an die betreffende Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
(kritisch hierzu VGH Baden-Württemberg, 19.11.1987 - A 12 S 761/86 -, NVwZ-RR
1989, 46) bisher noch nicht grundsätzlich Stellung genommen. Der vorliegende
Fall bietet ebenfalls keine Veranlassung für eine diesbezügliche
Grundsatzentscheidung. Denn hier fehlt es schon an der vom
Bundesverfassungsgericht zugrunde gelegten Ausgangssituation, daß der
Asylbewerber den Nachfluchttatbestand risikolos vom gesicherten Ort aus durch
eigenes Tun geschaffen hat; die den Asylanspruch der Kläger zu 2) und 3)
begründenden Umstände sind nämlich nicht von ihnen selbst - etwa durch ihre
Ausreise - herbeigeführt worden, sondern ohne ihr eigenes Zutun zum einen durch
eine Veränderung der Situation im türkischen Militär und zum anderen dadurch
entstanden, daß sie älter geworden sind und infolgedessen in absehbarer Zeit
wehrpflichtig sein werden. Deshalb handelt es sich bei der ihnen im Rückkehrfalle
beim türkischen Militär drohenden politischen Verfolgung um einen objektiven und
damit beachtlichen Nachfluchttatbestand.
III.
Die Entscheidungen über die Kosten des Berufungsverfahrens und die vorläufige
Vollstreckbarkeit beruhen auf §§ 154 Abs. 2, 155 Abs. 1 Satz 1, 167 VwGO i.V.m.
§§ 708 Nr. 11 und 711 Satz 1 ZPO.
Gründe für die Zulassung der Revision (§ 132 Abs. 2 VwGO) liegen nicht vor.
Insbesondere rechtfertigt es nicht die Zulassung der Revision, daß der Senat von
den Entscheidungen anderer Oberverwaltungsgerichte bzw.
Verwaltungsgerichtshöfe abweicht, soweit er eine kollektive Verfolgung der
christlichen Minderheit im Tur'Abdin für die Zeit vor September 1980 verneint und
soweit er eine politische Einzelverfolgung im Falle der absehbar bevorstehenden
Heranziehung eines türkischen Staatsangehörigen christlicher
Heranziehung eines türkischen Staatsangehörigen christlicher
Religionszugehörigkeit zum Wehrdienst in der türkischen Armee annimmt.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.