Urteil des HessVGH vom 10.11.1999

VGH Kassel: ablauf der frist, erlass, satzung, absicht, anfechtungsklage, dokumentation, quelle, zivilprozessrecht, rückwirkung, auflage

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Gericht:
Hessischer
Verwaltungsgerichtshof
5. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
5 UZ 2876/99
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 124 Abs 2 Nr 1 VwGO, §
124a Abs 1 VwGO
(Rechtsmittelzulassung wegen Richtigkeitszweifeln:
Berücksichtigungsfähigkeit einer geänderten Rechtslage)
Gründe
Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des
Verwaltungsgerichts Gießen vom 16. Juni 1999 ist zulässig und begründet.
Die Darlegungen des Bevollmächtigten der Beklagten zum Zulassungsgrund der
ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1
Verwaltungsgerichtsordnung -- VwGO --) wecken auch beim Senat derartige
Zweifel. Sie ergeben sich daraus, dass sich nach Ergehen des erstinstanzlichen
Urteils vor Ablauf der Frist zur Beantragung der Zulassung der Berufung die
satzungsrechtliche Rechtslage geändert hat, auf Grund der das
Verwaltungsgericht der Anfechtungsklage gegen den Beitragsbescheid der
Beklagten stattgegeben hat. Die Beklagte hat mit der 4. Nachtragssatzung vom
10. September 1999 zu ihrer Abwasserbeitrags- und -gebührensatzung die vom
Verwaltungsgericht beanstandeten Mängel der bisherigen Fassung der Satzung
rückwirkend zum 1. Januar 1994 behoben. Insofern erweist sich die Richtigkeit der
Aufhebung des streitigen Beitragsbescheides durch das Verwaltungsgericht wegen
Mängel der zu Grunde liegenden Satzung als ernstlich zweifelhaft.
Die Frage, ob nach dem Ergehen des erstinstanzlichen Urteils eintretende
Änderungen der Rechtslage -- und auch der Sachlage -- bei der Beurteilung der
Richtigkeit dieser Entscheidung im Rahmen des Zulassungsverfahrens zu
berücksichtigen sind, wird unterschiedlich beantwortet (dafür: OVG Rheinland-Pfalz,
Beschluss vom 15.09.1997 -- 6 A 1208/97 --, NVwZ 1998, 302; OVG Hamburg,
Beschluss vom 17.02.1998 -- Bs 6 105/97 --, NVwZ 1998, 863; Kopp/Schenke,
VwGO, 11. Auflage, § 124 Rdnr. 7 c; dagegen: VGH Baden-Württemberg, Beschluss
vom 15.07.1997 -- 1 S 1640/97 --, NVwZ 1998, 199; OVG Sachsen-Anhalt,
Beschlüsse vom 15.10.1997 -- A 2 S 619/97 --, JMBl. ST 1998, 441, -- A 2 S 615/97
--, JMBl. ST 1998, 108; mit teilweise unterschiedlichen Abgrenzungen).
Der Senat ist mit dem Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz (a.a.O.) der
Auffassung, dass die Zulassung der Beschwerde rechtfertigende ernstliche Zweifel
an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung sich auch aus nach dem
Ergehen des angefochtenen Urteils bis zum Ablauf der Zulassungsantragsfrist
eingetretenen Änderungen der Rechtslage ergeben können. Dies lässt sich aus
der allgemeinen Absicht des Gesetzgebers bei der Einführung der
Zulassungsberufung sowie dem mit dem Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 1
VwGO verfolgten speziellen Ziel herleiten. Allgemein war mit der Einführung der
Zulassungsberufung die Verkürzung und Beschleunigung verwaltungsgerichtlicher
Verfahren beabsichtigt (vgl. BT-Drs. 13/3993, unter A. Zielsetzung). Der
Zulassungsgrund der "ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils" sollte
dabei die Einzelfallgerechtigkeit stärken (BT-Drs. 13/3993 zu Nr. 15). In diesem
Spannungsfeld wird die zeitliche Grenze für die Beurteilung der ernstlichen Zweifel
in sachlicher und rechtlicher Hinsicht auch vom Senat grundsätzlich mit dem
Zeitpunkt des Erlasses des erstinstanzlichen Urteils gezogen, da dadurch die
Beteiligten gezwungen werden, den Rechtsstreit bereits umfassend in erster
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Beteiligten gezwungen werden, den Rechtsstreit bereits umfassend in erster
Instanz zu betreiben. Dies dient der mit der Einführung der Zulassungsberufung
angestrebten Verfahrensbeschleunigung. Tritt dagegen eine Änderung der
Rechtslage erst nach Erlass des erstinstanzlichen Urteils ein, kann dieses dadurch
materiell unrichtig sein, ohne dass dies das Verwaltungsgericht berücksichtigen
konnte und sich die Beteiligten darauf hätten berufen können. Die mit dem
Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils verfolgte
Absicht, materiell-rechtlich unrichtige Entscheidungen im Interesse der
Einzelfallgerechtigkeit korrigieren zu können, spricht deshalb für eine
Berücksichtigung im Rahmen dieses Zulassungsgrundes.
Die Grenze für eine Berücksichtigung nachträglich eingetretener
Rechtsänderungen in zeitlicher Hinsicht ergibt sich dabei aus dem Gesetz. Denn
da die Gründe für die Zulassung innerhalb der Frist des § 124a Abs. 1 Satz 1 VwGO
darzulegen sind, können nach deren Ablauf -- aber vor der Entscheidung des
Oberverwaltungsgerichts über den Zulassungsantrag -- eingetretene
Rechtsänderungen nicht mehr berücksichtigt werden, da sie nicht innerhalb der
Antragsfrist dargelegt wären.
Die gesetzgeberischen Ziele der Verfahrensbeschleunigung stehen der
Berücksichtigung nachträglicher Rechtsänderungen -- gerade in
Abgabenangelegenheiten -- nur scheinbar entgegen. In der Regel würde nämlich
nach der rechtskräftigen Aufhebung eines Abgabenbescheides durch das
Verwaltungsgericht das (Gerichts-)Verfahren mit Erlass eines neuen
Abgabenbescheides und dessen Anfechtung von vorn beginnen. Ähnliches gilt es
bei Verpflichtungsklagen, bei denen je nach dem Ergebnis des
verwaltungsgerichtlichen Urteils nach Änderung der Rechtslage das
Verwaltungsverfahren erneut beginnen würde. In derartigen Fällen dient die
Berücksichtigung einer Rechtsänderung also gerade der Prozessökonomie, aber
auch dem Interesse der Beteiligten an der endgültigen Klärung der streitigen
Rechtsfragen. Insofern hat das Oberverwaltungsgericht Koblenz (a.a.O.) auch zu
Recht darauf hingewiesen, dass der Gesetzgeber selbst in Vorschriften der
Prozessordnung (etwa: § 87 Abs. 1 Nr. 7, § 94 Satz 2, § 114 Satz 2 VwGO) zu
erkennen gegeben hat, dass bestimmte heilbare Mängel während des
Gerichtsverfahrens ausgeräumt werden sollen, um ein weiteres Verfahren zu
vermeiden. Auch besteht im Klageverfahren nicht die Möglichkeit der Änderung
gerichtlicher Entscheidungen wegen veränderter Umstände im Eilverfahren gemäß
§ 80 Abs. 7 VwGO, die in darauf bezogenen Zulassungsverfahren häufig zur
Begründung der Nichtberücksichtigung nachträglich eingetretener Änderungen
herangezogen wird.
Ob auch nach Erlass des verwaltungsgerichtlichen Urteils eingetretene
Änderungen der Sachlage innerhalb des Zulassungsgrunds der ernstlichen Zweifel
an der Richtigkeit des Urteils zu berücksichtigen wären, lässt der Senat offen, da
dies hier nicht entscheidungserheblich ist (vgl. zur dagegen gerichteten
Argumentation: VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 18.12.1997 -- A 14 S
3451/97 --, NVwZ 1998, 414).
Die hier eingetretene Änderung der Rechtslage -- das rückwirkende Inkrafttreten
der Änderung der Abwasserbeitrags- und -gebührensatzung der Beklagten -- kann
auch entscheidungserheblich sein, d.h. das Urteil des Verwaltungsgerichts erweist
sich nicht erkennbar aus anderen Gründen als richtig. Insofern wird sich jedoch im
Berufungsverfahren die Frage stellen, ob es die durch Art. 49 des Dritten Gesetzes
zur Rechts- und Verwaltungsvereinfachung vom 17. Dezember 1998 (GVBl. I S.
562) geänderte Fassung des § 3 Abs. 2 Satz 3 Kommunalabgabengesetz -- KAG --
zulässt, die Rückwirkung von Ersetzungssatzungen nach § 3 Abs. 2 KAG auch dann
über den Verjährungszeitraum hinaus zu erstrecken -- was § 3 Abs. 2 Satz 3 KAG
in der bis zum 31. Dezember 1998 geltenden Fassung verbot --, wenn der
Rückwirkungszeitraum in den Zeitraum vor Inkrafttreten des Änderungsgesetzes
am 1. Januar 1999 (Art. 74 Drittes Gesetz zur Rechts- und
Verwaltungsvereinfachung) hineinreicht. Da die Klärung dieser Rechtsfrage jedoch
den Rahmen eines Zulassungsverfahrens sprengen würde, ist von der
Entscheidungserheblichkeit der von der Beklagten vorgenommenen -- und
dargelegten -- Satzungsänderung für den vorliegenden Rechtsstreit auszugehen.
Die Entscheidung über die Kosten des Berufungszulassungsverfahrens folgt der
Kostenentscheidung im Berufungsverfahren.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).
11 Es wird darauf hingewiesen, dass die Berufung gemäß § 124a Abs. 3 VwGO
innerhalb eines Monats nach Zustellung dieses Beschlusses zu begründen ist. Die
Begründung ist beim Hessischen Verwaltungsgerichtshof einzureichen. Die
Begründungsfrist kann auf einen vor ihrem Ablauf gestellten Antrag vom
Vorsitzenden verlängert werden. Die Begründung muss einen bestimmten Antrag
enthalten sowie die im Einzelnen anzuführenden Gründe der Anfechtung
(Berufungsgründe). Mangelt es an einem dieser Erfordernisse, so ist die Berufung
unzulässig.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.