Urteil des HessVGH vom 22.01.1991

VGH Kassel: eltern, berufliche tätigkeit, rumänien, politische verfolgung, muttersprache, vertreter, ungarisch, volkszählung, zugehörigkeit, kultur

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Gericht:
Hessischer
Verwaltungsgerichtshof
4. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
4 UE 16/84
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 1 Abs 1 BVFG, § 1 Abs 2
Nr 3 BVFG, § 6 BVFG, § 15
Abs 2 Nr 1 BVFG
(Anerkennung eines sog "Spätgeborenen" als
Heimatvertriebener - Vertriebenenausweis "A")
Tatbestand
Der 1946 in Temeschburg (rumänisch: Timisoara, ungarisch: Temesvar) in
Rumänien geborene Kläger begehrt die Ausstellung eines Vertriebenenausweises
"A". Der Kläger gehört der jüdischen Glaubensgemeinschaft an. Bis 1958 lebte er
mit seinen Eltern in Temeschburg. Ende 1958 erhielten seine Eltern eine
Ausreisegenehmigung und wanderten mit ihm Anfang 1959 in Israel ein. Dabei
erwarben sie die israelische Staatsbürgerschaft.
Der Vater des Klägers, R K, wurde 1922, die Mutter S K, geborene G wurde 1925,
beide in Temeschburg, geboren. Die Eltern des Klägers leben in Israel. Auch die
Großeltern des Klägers väterlicherseits stammen aus Temeschburg und lebten
dort. Der Großvater, J K, wurde 1892 in Temeschburg geboren und starb dort 1938;
die Großmutter J (J) K, geborene S (1896 bis 1975) war serbischer oder kroatischer
Herkunft und katholischen Glaubens. Der Urgroßvater des Klägers väterlicherseits
hieß H K die Urgroßmutter, deren Namen nicht bekannt ist, soll ungarischer
Herkunft gewesen sein.
Der Großvater des Klägers mütterlicherseits, J G, wurde 1895 in Temeschburg
geboren und starb 1939. Er war mit L (L) G geborene R, die 1902 in Budapest
geboren wurde, verheiratet; nach dem Tod ihres ersten Mannes heiratete sie
erneut und führte den Familiennamen S, sie lebte nach ihrer Ausreise aus
Rumänien bis zu ihrem Tod im Dezember 1990 in Israel. Der Urgroßvater des
Klägers mütterlicherseits, F R, wurde 1871 in Preßburg in der Tschechoslowakei
geboren; er war mit der Musiklehrerin K P geborene S, verheiratet. Der Vater von K
R, J S, geboren 1837 im Sudetenland, war Dichter und Maler.
Der Kläger reiste 1972 aus Israel in die Bundesrepublik Deutschland ein und
beantragte 1973 die Ausstellung eines Vertriebenenausweises "A". In seinem
Antrag führte er u. a. aus, seine Eltern seien deutsche Volkszugehörige, seine
Muttersprache sei deutsch. Er habe in Temeschburg eine Volksschule mit
deutscher Unterrichtssprache, die A genannt worden sei, besucht. Auch die
Muttersprache der Eltern sei deutsch gewesen. Im Umgang mit anderen Personen
hätten sich seine Eltern der deutschen und der rumänischen Sprache bedient.
Deutschen Organisationen oder Vereinen hätten die Eltern nicht angehört. In
seinem handschriftlichen Lebenslauf erklärte der Kläger, daß seine Familie nach
Israel ausgewandert sei, weil die Eltern mit dem kommunistischen System nicht
übereingestimmt hätten. Der Kläger legte eidesstattliche Versicherungen des G B
vom 01.09.1975 und des G-J F vom 06.11.1975 vor. Herr B erklärte, er habe den
Kläger und dessen Eltern seit seiner Kindheit gekannt. Die Familie K habe im
Nachbarhaus se O und seiner Tante gewohnt. Im Hause K hätten deutsche Sitten
und Gebräuche geherrscht. Der Sohn sei in deutschem Sinne erzogen worden.
Herr F erklärte, der Vater des Klägers sei während der Schulzeit einer seiner
besten Freunde gewesen. Die Eltern des Klägers seien in deren Elternhäusern in
deutscher Kultur erzogen worden und hätten auch ihren Sohn dementsprechend
erzogen. Im Hause K sei deutsch gesprochen worden, es seien deutsche Bücher
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erzogen. Im Hause K sei deutsch gesprochen worden, es seien deutsche Bücher
und Zeitungen vorhanden gewesen. Der Kläger sei von seinen Eltern in eine
deutschsprachige Volksschule geschickt worden, "um seine deutsche Kultur zu
vervollständigen".
Nach Einholung einer Auskunft der Heimatauskunftstelle Rumänien beim
Landesausgleichsamt B -- HASt -- vom 17.08.1977 lehnte die Beklagte mit
Bescheid vom 01.12.1977 den Antrag des Klägers im wesentlichen unter
Bezugnahme auf die Stellungnahme der HASt ab. Hiergegen legte der Kläger am
08.12.1977 Widerspruch ein, den er damit begründete, die Stadt Temeschburg sei
deutsches Siedlungsgebiet gewesen, und auch Juden könnten deutsche
Volkszugehörige sein. Die Beklagte habe die Auffassung der HASt übernommen,
die für den Kläger ungünstige Schlüsse aus dem Umstand gezogen habe, daß
seine Eltern nicht Mitglieder in deutschen Vereinen gewesen seien. Diese
Auffassung sei um so erstaunlicher, als Juden zumindest nach 1933 nicht mehr als
Mitglieder in deutschen Vereinen zugelassen worden seien.
Der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidenten in D
vom 02.07.1981 zurückgewiesen. Zur Begründung ist ausgeführt: Da der Kläger
zum hier maßgeblichen Bekenntniszeitpunkt 1933 noch nicht geboren gewesen sei
und die Eltern des Klägers zu diesem Zeitpunkt noch minderjährig gewesen seien,
komme es für das Bekenntnis zum deutschen Volkstum auf die Großeltern an, bei
denen jedoch ein derartiges Bekenntnis nicht habe festgestellt werden können.
Mit der am 05.08.1981 erhobenen Klage verfolgt der Kläger sein Begehren weiter.
Er hat vorgetragen, sowohl bei seinen Großeltern als auch bei seinen Eltern sei ein
Bekenntnis zum deutschen Volkstum erkennbar. Dies werde durch die vorgelegten
eidesstattlichen Versicherungen bestätigt.
Der Kläger hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, unter Abänderung des Bescheides des Magistrats
der Stadt O vom 01.12.1977 und Aufhebung des Widerspruchsbescheides des
Regierungspräsidenten in D vom 02.07.1981 die Vertriebeneneigenschaft des
Klägers festzustellen und ihn durch Erteilung eines Ausweises "A" als
Heimatvertriebenen anzuerkennen.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Nach ihrer Auffassung haben der Kläger bzw. seine Eltern das Vertreibungsgebiet
Rumänien nicht wegen der behaupteten deutschen Volkszugehörigkeit, sondern
aus politischen Gründen verlassen. Ferner deute auch der 13-jährige Aufenthalt
des Klägers in Israel darauf hin, daß die Familie K Rumänien 1959 nicht wegen
ihres Deutschtums verlassen habe.
Mit Urteil vom 27.11.1981 hat das Verwaltungsgericht die Klage abgewiesen und
zur Begründung ausgeführt, es könne offen bleiben, ob der Kläger Deutscher im
Sinne von § 6 BVFG sei, da er und seine Eltern jedenfalls Rumänien nicht "als
Deutsche" im Sinne des § 1 BVFG verlassen hätten.
Gegen das dem Kläger-Bevollmächtigten nach seinen Angaben am 17.12.1981
zugestellte Urteil hat der Kläger am 18.01.1982 Berufung eingelegt. Zur
Begründung führt er aus:
Seine über mehrere Generationen deutschstämmige Herkunft sei glaubhaft
gemacht worden. Seine Großeltern hätten deutsche Namen geführt. Nicht die
politische Verfolgung allein, sondern auch Benachteiligungen vielfältiger Art hätten
die Familie zum Verlassen ihres Heimatgebietes genötigt. Insbesondere habe der
Vater in seinem Berufsleben Benachteiligungen hinnehmen müssen.
Der Kläger hat mehrere eidesstattliche Versicherungen und schriftliche
Stellungnahmen vorgelegt, die seinen Anspruch begründen sollen, nämlich von
Herrn G vom 25.05.1981, dem Vater des Klägers, R K, vom 12.12.1984,
17.03.1986 und 24.08.1988, der Mutter des Klägers, S K, vom 17.03.1986 und von
Herrn G vom 27.02.1986.
Die Großmutter des Klägers, O S, teilte in handschriftlich und in deutsch
abgefaßten Briefen vom 12.06., 26.08.1988 und einem weiteren nicht datierten
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abgefaßten Briefen vom 12.06., 26.08.1988 und einem weiteren nicht datierten
Brief u. a. mit, im Hause ihrer Eltern sei deutsch gesprochen worden, es seien
deutsche Zeitungen und Bücher gelesen und deutsche Lieder gesungen worden.
An eine Zeitschrift erinnere sie sich gut, "Die Gartenlaube". Ihre Mutter sei
Klavierlehrerin, deren Mann Vertreter gewesen. Auch in ihrer Familie seien
deutsche Bücher und die Temesvarer Zeitung gelesen worden.
Der Kläger beantragt,
unter Aufhebung des Urteils des Verwaltungsgerichts Darmstadt vom
27.11.1981 die Beklagte zu verurteilen, unter Änderung des Bescheides des
Magistrats der Stadt O vom 1. Dezember 1977 und Aufhebung des
Widerspruchsbescheides des Regierungspräsidenten in D vom 2. Juli 1981 die
Vertriebeneneigenschaft des Klägers festzustellen und ihn durch Erteilung eines
Ausweises "A" als Heimatvertriebenen anzuerkennen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie ist der Auffassung, daß der Kläger das Vorliegen eines Bekenntnisses zum
deutschen Volkstum weder bei seinen Eltern noch bei seinen Großeltern glaubhaft
gemacht habe. Im übrigen hätten die Eltern des Klägers das Vertreibungsgebiet
aus vertreibungsfremden, nämlich aus politischen und beruflichen Gründen
verlassen, so daß schon aus diesem Grunde die Erteilung eines
Vertriebenenausweises ausscheide.
Der im Berufungsverfahren beigeladene Vertreter der Interessen des
Ausgleichsfonds bei den Verwaltungsgerichten Wiesbaden, Frankfurt am Main,
Darmstadt und Gießen stellt keinen Antrag.
Gemäß Beschluß vom 06.06.1988 hat der Senat durch den damaligen
Berichterstatter als beauftragten Richter Beweis darüber erhoben,
1. ob sich die Eltern des Klägers und deren Eltern in Rumänien zum deutschen
Volkstum bekannt haben, worin sich dieses Bekenntnis äußerte, insbesondere
ob es für andere Personen erkennbar war,
2. ob dieses Bekenntnis durch bestimmte Merkmale wie Abstammung,
Spracherziehung, Kultur bestätigt worden ist,
3. ob der Kläger in diesem Bekenntniszusammenhang steht,
4. aus welchen Gründen die Familie des Klägers Rumänien verlassen hat,
durch Vernehmung der Zeugen G B und G-J F. Außerdem ist der Kläger
informatorisch angehört worden. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme
wird auf die Niederschrift über die Durchführung der Beweisaufnahme vom
29.06.1988 verwiesen.
Das Gericht hat eine weitere Auskunft der HASt zu den Fragen im Beweisbeschluß
vom 06.06.1988 eingeholt. Auf die Auskunft vom 03.12.1990 und eine weitere vom
Vertreter der Interessen des Ausgleichsfonds unter dem 10.01.1991 vorgelegte
Auskunft vom 03.10.1988 wird ebenfalls verwiesen.
Das Sozialgericht Düsseldorf hat mit Urteil vom 13.07.1990 im Verfahren des
Vaters des Klägers gegen die Landesversicherungsanstalt R wegen der
Anrechnung von in Rumänien zurückgelegter Versicherungszeiten in der
deutschen Rentenversicherung den ablehnenden Bescheid der Beklagten
aufgehoben und diese verpflichtet, im Tenor des Urteils näher bestimmte
Zeiträume als Ersatzzeiten anzuerkennen. Das Urteil ist u. a. darauf gestützt, daß
der Vater des Klägers zum Zeitpunkt des Verlassens des Vertreibungsgebietes
dem deutschen Sprach- und Kulturkreis angehört habe.
In der mündlichen Verhandlung des Senats am 16.01.1991 sind die Zeugen G B
und G-J F noch einmal ergänzend und der Kläger informatorisch gehört worden.
Hinsichtlich des Ergebnisses der Beweisaufnahme und der Anhörung wird auf das
Protokoll der Sitzung Bezug genommen.
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Dem Senat haben folgende Unterlagen vorgelegen, die Gegenstand der
mündlichen Verhandlung gewesen sind: Die Verwaltungsvorgänge der Beklagten,
die Widerspruchsakte des Regierungspräsidenten in D, die den Kläger betreffende
Ausländerakte der Beklagten, die Gerichtsakte des Sozialgerichts Düsseldorf, R K
./. Landesversicherungsanstalt R, Az.: S 10 (39,8) J 137/85.
Auf diese Unterlagen wird ebenso wie auf den Inhalt der Gerichtsakte im
vorliegenden Verfahren zur Ergänzung des Sachverhalts Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die gemäß §§ 124, 125 VwGO zulässige Berufung ist begründet. Das
Verwaltungsgericht hat die Klage zu Unrecht abgewiesen. Der ablehnende
Bescheid der Beklagten vom 01.12.1977 und der Widerspruchsbescheid des
Regierungspräsidenten in D vom 02.07.1981 sind rechtswidrig und verletzen den
Kläger in seinen Rechten.
Der Kläger hat einen Anspruch auf Ausstellung des Vertriebenenausweises "A",
denn er ist Heimatvertriebener im Sinne des Gesetzes über die Angelegenheiten
der Vertriebenen und Flüchtlinge (Bundesvertriebenengesetz -- BVFG --) vom
19.05.1953 (BGBl. I S. 201) in der Fassung der Bekanntmachung vom 03.09.1971
(BGBl. I S. 1565, 1807).
Gemäß § 15 Abs. 1 BVFG erhalten Vertriebene und Sowjetzonenflüchtlinge zum
Nachweis ihrer Vertriebenen- oder Flüchtlingseigenschaft Ausweise. Gemäß Abs. 2
dieser Vorschrift erhalten Heimatvertriebene den Ausweis "A". Nach § 2 Abs. 1
BVFG sind Heimatvertriebene solche Vertriebene, die u. a. am 31.12.1937 ihren
Wohnsitz in dem Gebiet desjenigen Staates hatten, aus dem sie vertrieben worden
sind (Vertreibungsgebiet). Heimatvertriebener im Sinne dieser Vorschrift kann
mithin nur sein, wer Vertriebener gemäß § 1 BVFG ist (vgl. Senatsurteil vom
23.01.1987 -- 4 UE 2856/84 --). Vertriebener gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 BVFG ist,
wer als deutscher Staatsangehöriger oder deutscher Volkszugehöriger seinen
Wohnsitz in den in dieser Vorschrift genannten Gebieten hatte und diesen im
Zusammenhang mit den Ereignissen des Zweiten Weltkrieges infolge Vertreibung,
insbesondere durch Ausweisung oder Flucht verloren hat. Vertriebener ist nach § 1
Abs. 2 Nr. 3 BVFG auch, wer als deutscher Staatsangehöriger oder deutscher
Volkszugehöriger nach Abschluß der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen die
dort genannten Gebiete, zu denen Rumänien zählt, verlassen hat oder verläßt, es
sei denn, daß er, ohne aus diesen Gründen vertrieben und bis zum 31.03.1952
dorthin zurückgekehrt zu sein, nach dem 08.05.1945 einen Wohnsitz in diesen
Gebieten begründet hat (Aussiedler).
Der Kläger ist erst 1946 geboren und konnte sich deshalb vor Beginn der
allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen in Rumänien am 23. August 1944 nach der
Kapitulation der deutschen Truppen (Auskunft der HASt vom 17.08.1977; vgl. auch
Hess. VGH, U. v. 28.02.1986 -- VII OE 30/79 --) nicht selbst zum deutschen
Volkstum bekannt haben. Nach der Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 10.11.1976 -- VIII C 92.75 -- Buchholz,
Nachschlagewerk der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, 3. Folge,
412.3 Nr. 17 zu § 1 BVFG = BVerwGE 51, 298 <307 ff.>; Urteil vom 10.11.1976 --
VIII C 91.75 -- Buchholz, 412.3 Nr. 18 zu § 1 BVFG), der sich der Senat
angeschlossen hat (Hess. VGH, Urteil vom 29.03.1985 -- 4 UE 1303/84 --), kommt
es bei einem sogenannten Spätgeborenen der ersten Generation, d. h., einem
Kind solcher Eltern, die bereits vor Beginn der allgemeinen Vertreibung gelebt
haben -- in entsprechender Anwendung des § 1 Abs. 2 Nr. 3 BVFG auf das
Bekenntnis der Eltern oder -- bei unterschiedlicher Volkszugehörigkeit von Vater
und Mutter -- auf das Bekenntnis des das Volkstum des Kindes prägenden
Elternteiles zum maßgebenden Zeitpunkt an. Maßgeblicher Zeitpunkt für die
Ablegung dieses Bekenntnisses ist grundsätzlich der Beginn der allgemeinen
gegen die deutsche Bevölkerung gerichteten Verfolgungs- und
Vertreibungsmaßnahmen. Da der Kläger mosaischer Konfession ist, ist jedoch auf
die Zeit unmittelbar vor der Machtübernahme durch den Nationalsozialismus im
Deutschen Reich abzustellen, da von den Angehörigen der jüdischen
Glaubensgemeinschaft nicht erwartet werden konnte, daß sie sich danach noch
zum deutschen Volkstum bekennen würden (BVerwG, Urteil vom 23.02.1988 -- 9 C
8.86 -- Buchholz 412.3 Nr. 54 zu § 6 BVFG m.w.N.).
Am 31.01.1933 waren der Vater des Klägers erst 11 Jahre, die Mutter erst 8 Jahre
alt. Sie besaßen noch nicht die Fähigkeit, eine volkstumsmäßige Bindung zu
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alt. Sie besaßen noch nicht die Fähigkeit, eine volkstumsmäßige Bindung zu
erkennen und für sich selbst verbindlich eine bestimmte volkstumsmäßige
Entscheidung zu treffen. Es kommt also vorrangig auf die Feststellung an, ob die
Großeltern, zumindest die des prägenden Elternteils, sich zum Deutschtum
bekannt haben, ihre deutsche Volkszugehörigkeit mindestens zu vermuten ist, weil
die objektiven gesetzlichen Bestätigungsmerkmale hinreichend für ein Bekenntnis
zum deutschen Volkstum sprechen (BVerwG, Urteil vom 23.02.1988, a.a.O.) und
dieses Bekenntnis den Eltern des Klägers und von diesen an den Kläger
weitergegeben wurde, so daß der geforderte Bekenntniszusammenhang
festgestellt werden kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 10.11.1976, a.a.O.). Wenn auch
von den Eltern des Klägers nach 1933 kein Bekenntnis zum deutschen Volkstum
erwartet werden konnte, so ist allerdings ein derartiges Bekenntnis, sollte es
dennoch vorliegen, zugunsten des Klägers zu berücksichtigen.
Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ist der Kläger deutscher
Volkszugehöriger. Er und die Zeugen F und B sind nach dem persönlichen
Eindruck, den der Senat in der mündlichen Verhandlung von ihnen gewonnen hat,
glaubwürdig. Nach den vorliegenden Erklärungen des Vaters des Klägers, R K, und
des Zeugen F liegen ausreichende Anhaltspunkte dafür vor, daß sich der
Großvater des Klägers, J K, zum deutschen Volkstum bekannt hat: Seine
Muttersprache war deutsch; er hat die in deutscher Sprache erscheinende
Temesvarer Zeitung gelesen und deutsche Bücher gekauft. Er war Mitglied im
Journalistenclub in Temeschburg, dem viele deutschsprachige Journalisten
angehört haben sollen und hat in der Temesvarer Zeitung unter einem
Pseudonym Artikel in deutscher Sprache veröffentlicht. Seine berufliche Tätigkeit
als Vertreter einer in Hamburg ansässigen Schiffahrtsgesellschaft hat er in
deutscher Sprache ausgeübt. Dabei ist es ohne Belang, daß in den vorliegenden
Erklärungen die Bezeichnung der Gesellschaft, für die er tätig war, variiert
("Hamburg-Süd-Schiffahrtslinie", "Hapag-Lloyd"). Wesentlich ist, daß nach allen
Erklärungen J K für eine deutsche Schiffahrtsgesellschaft tätig war, in deutscher
Sprache korrespondierte und gelegentlich auch -- berufsbedingt -- Reisen nach H
unternahm. Daß es sich bei dieser Vertretertätigkeit nicht um eine unbedeutende
Nebentätigkeit handelte, der folglich nur geringes Gewicht bei der Beantwortung
der Frage nach der Volkszugehörigkeit zugekommen wäre, folgt daraus, daß J K für
diese Tätigkeit zwei Sekretärinnen beschäftigte (vgl. die Stellungnahme des Vaters
des Klägers vom 24.08.1988, Bl. 204 d. GA.). Die Vertretertätigkeit des J K läßt
gerade in einem volkstumsmäßig gemischten Ort -- wie Temeschburg --
Rückschlüsse auf seine Zugehörigkeit zum deutschen Volkstum zu. Das
Sozialgericht Düsseldorf hat in seinem Urteil vom 20.07.1990 (-- S 10 (39,8) J
137/85), in dem es die Zugehörigkeit des Vaters des Klägers zum deutschen
Sprach- und Kulturkreis festgestellt hat, darauf hingewiesen, daß es angesichts der
großen Anzahl der Deutschsprachigen in der Bevölkerung in Temeschburg für die
deutsche Schiffahrtsgesellschaft ein leichtes gewesen sei, einen Vertreter zu
finden, der die deutsche Sprache beherrscht habe. Auch der Senat geht daher
davon aus, daß J K die deutsche Sprache sehr gut beherrschte. Dies spricht
ebenfalls eher dafür als dagegen, daß Deutsch für J K die Muttersprache und damit
die Sprache war, in der er selbst erzogen worden war und deren er sich
hauptsächlich bediente. Darüber hinaus hat A G in seiner eidesstattlichen
Versicherung vom 27.11.1986 bestätigt, daß J K in Temeschburg als tüchtiger
deutscher Kaufmann bekannt gewesen sei.
Allein die deutsche Sprach- und Kulturzugehörigkeit, die nach alledem bei J K
vorliegt, kann allerdings eine deutsche Volkszugehörigkeit nicht begründen (vgl.
BVerwG, Beschluß vom 23.07.1975 -- VIII B 10.75 -- Buchholz 412.3 Nr. 29 zu § 6
BVFG; Urteil vom 19.01.1977 -- VIII C 22.76 -- Buchholz a.a.O. Nr. 34). Um die
Sprach- und Kulturzugehörigkeit als Bekenntnis zum deutschen Volkstum werten
zu können, muß das Verhalten der betreffenden Person den Erklärungswert haben,
nur dem deutschen Volkstum und keinem anderen angehören zu wollen. Diese
Voraussetzungen sind erfüllt. Insbesondere die berufliche Tätigkeit des J K als
Vertreter einer deutschen Schiffahrtsgesellschaft und die Veröffentlichungen in
deutscher Sprache in einer deutschen Tageszeitung zeigen, daß sich J K wie eine
zur deutschen Bevölkerungsgruppe gehörende Person verhalten und dies nach
außen dokumentiert hat. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, daß
nach den glaubhaften Bekundungen des Zeugen F in der mündlichen Verhandlung
vom 16.01.1991 am Haus des Großvaters ein Schild angebracht war, das auf die
Vertretung der Hamburger Schiffahrtslinie hinwies.
Dem Kläger ist zwar nicht bekannt, welche Angaben sein Großvater bei der
Volkszählung 1930 gemacht hat. Im Ergebnis stützt aber auch die Volkszählung
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Volkszählung 1930 gemacht hat. Im Ergebnis stützt aber auch die Volkszählung
den Vortrag des Klägers. In Temeschburg, der Hauptstadt des Banats, lebten
damals 91.580 Personen, die sich nach den Angaben bei der Volkszählung am
29.12.1930 im wesentlichen auf die folgenden Volksgruppen verteilten: Rumänen
24.217, Madjaren 27.652, Deutsche 27.807, Serben, Kroaten, Slowenen 2.156 und
Juden 7.171. Ungarisch wurde als Muttersprache von 32.513, deutsch von 30.670
und jiddisch von 442 Personen angegeben. 48.136 Personen hatten ihre
konfessionelle Zugehörigkeit mit römisch-katholisch und 9.368 Personen mit
mosaisch angegeben. Daraus ergibt sich, daß die überwiegende Zahl der
Personen, die sich zum jüdischen Volkstum bekannt haben, ungarisch gesprochen
hat, ca. 3.000 Personen mehr deutsch als Muttersprache angegeben haben als
sich zum deutschen Volkstum bekannt haben und schließlich etwa 2.000 Personen
mehr zum mosaischen Glauben bekannt haben als zum jüdischen Volkstum. Es
hat danach in Temeschburg eine nicht unerhebliche Zahl von Angehörigen des
jüdischen Glaubens gegeben, die sich zum deutschen Volkstum bekannt haben.
Die HASt zitiert in ihrer Auskunft vom 03.10.1988 eine Auskunftsperson, die darauf
hinweist, die Juden seien eine geschlossene Glaubensgemeinschaft gewesen und
hätten sich zum Judentum bekannt. Es habe zu den seltenen Ausnahmen gehört,
wenn ein Jude "mal eine Mischehe einging und sich zu einer anderen Nation
bekannte". In konfessioneller Hinsicht war der Großvater des Klägers, der mit einer
Katholikin verheiratet war, eine derartige Ausnahme. Der Aussage des Zeugen F
und seiner ergänzenden Vernehmung durch den Senat am 16.01.1991 und der
informatorischen Anhörung des Klägers hat der Senat entnommen, daß die
Familie nicht religiös eingestellt war. Die von der HASt in ihrer Auskunft vom
03.10.1988 angeführten Gesichtspunkte sprechen deshalb ebenfalls dafür, daß der
Großvater des Klägers im maßgeblichen Zeitraum dem deutschen Sprach- und
Kulturkreis zugerechnet werden muß und sich als Deutscher gefühlt hat. Dafür
spricht -- entgegen der Auffassung der Beklagten -- auch die Aussage des Zeugen
F, J K und seine Ehefrau hätten sich als Österreicher gefühlt. Bei der Volkszählung
am 29.12.1930 in Rumänien war dem deutschen Sprach- und Kulturkreis
ausschließlich das deutsche Volkstum zugeordnet. Auch in der Darstellung der
Bevölkerungsverhältnisse von Temeschburg (Ergebnis der Volkszählung vom
29.12.1930, Anlage zur Auskunft der HASt vom 03.12.1990), die insgesamt 18
Bevölkerungsgruppen erfaßt, wird ein österreichisches Volkstum nicht gesondert
ausgewiesen. Das Kultur-Deutschtum wurde im Banat, das bis zum Frieden von
Trionon zum ungarischen Staatsverband gehörte, zumindest auch vom
österreichischen Staat vermittelt (für die Bukowina vgl. Hess. VGH, Urteil vom
02.02.1990 -- 7 UE 1869/85 --).
Gegen die deutsche Volkszugehörigkeit des J K spricht nicht, daß nach den
Bekundungen des Zeugen F dieser neben deutsch auch ungarisch sprach oder
sich bei Gesprächen beider Sprachen bediente. Ein derartiges Sprachengemisch
mußte schon deshalb entstehen, weil J K in seiner Kindheit und Jugend eine Schule
mit ungarischer Sprache besucht hat, wie aus den Angaben der HASt Rumänien
vom 03.12.1990 geschlossen werden kann, da es zur damaligen Zeit keine
deutschen Schulen gegeben haben soll. Daß J K ungarisch und deutsch sprach, lag
ferner deshalb nahe, weil seine Gesprächspartner ebenfalls mehrsprachig
aufgewachsen waren und ein solches Sprachengemisch verwendeten. Dies
schließt jedoch, wie dargelegt, nicht aus, daß sowohl im familiären wie auch im
beruflichen Bereich überwiegend deutsch gesprochen wurde.
Der prägende Bekenntniszusammenhang zwischen dem Großvater und dem
Kläger wird in erster Linie durch den Vater des Klägers, R K, hergestellt. Das
Sozialgericht Düsseldorf hat in seinem Urteil vom 20.07.1990 (a.a.O.) die
Zugehörigkeit von R K zum deutschen Sprach- und Kulturkreis festgestellt.
Insoweit verweist der Senat auf die Entscheidungsgründe des den Beteiligten
bekannten Urteils. Der Senat sieht in dem Umstand, daß R K den Kläger eine
deutsche Schule in Temeschburg besuchen ließ, obwohl, wie der Zeuge B in der
mündlichen Verhandlung am 16.01.1991 dargelegt hat, in unmittelbarer Nähe
zum Wohnhaus der Familie K eine ungarische und in einer Entfernung von nur ca.
200 m eine rumänische Schule vorhanden gewesen war, darüber hinaus ein nach
außen erkennbares Bekenntnis zum deutschen Volkstum, das zu berücksichtigen
ist. Der Vater, der selbst keine deutsche Schule besucht hatte, hat durch die
Erziehungs- und Ausbildungsmaßnahmen, die er dem Kläger angedeihen ließ
(Besuch eines deutschen Kindergartens und Nachhilfeunterricht durch eine
Deutschlehrerin im Ruhestand) das ihm Mögliche zur Festigung des
Bekenntniszusammenhangs getan.
Darüber hinaus spricht viel dafür, daß dieser Familienzusammenhang auch durch
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Darüber hinaus spricht viel dafür, daß dieser Familienzusammenhang auch durch
die Familie der Großeltern mütterlicherseits bewahrt und verstärkt wurde. Das
schließt der Senat aus den Angaben, die der Kläger in seiner Anhörung am
29.06.1988 über die Familie seiner Mutter und insbesondere seine Großmutter,
Frau L S, gemacht hat, aber auch aus den von Frau S zu den Gerichtsakten
gegebenen Briefen, aus denen sich ergibt, daß sie in Orthographie und
Ausdrucksweise die deutsche Sprache gut beherrschte.
Der danach volksdeutsche Kläger und seine Eltern, auf die es wegen seines Alters
ankommt (vgl. BVerwG, Urteil vom 15.07.1986 -- 9.C.9.86 -- a.a.O.), haben
Rumänien auch nicht aus ausschließlich oder überwiegend vertreibungsfremden
Gründen verlassen, was seine Vertriebeneneigenschaft ausschließen würde (vgl.
dazu Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 11.02.1983 -- BVerwG 8 C 178.81 --
BVerwGE 67, 13). Zwar hat der Kläger in seinem handgeschriebenen Lebenslauf
vom 01.09.1975 ausgeführt, seine Familie sei ausgewandert, weil seine Eltern mit
dem politischem System, nämlich dem kommunistischen, nicht übereingestimmt
hätten. In der eidesstattlichen Erklärung des Vaters des Klägers vom 17.03.1986
wird aber auch angeführt, Grund für dessen Antrag auf Auswanderung sei
gewesen, daß er als Angehöriger der deutschen Minderheit seine berufliche
Existenz in Rumänien nicht habe aufrechterhalten können. Gerade das berufliche
Schicksal des R K, der bei seinem früheren Arbeitgeber nach deutschen
Arbeitsanweisungen hatte arbeiten können und nach dem Verlust dieses
Arbeitsplatzes 1948 den Antrag auf Auswanderung gestellt hat, ist typischer
Ausdruck der in § 1 Abs. 2 Nr. 3 BVFG miterfaßten Spätfolgen des
Vertreibungsdrucks, der sich vor allem in der Vereinsamung der
Zurückgebliebenen niederschlägt und der im übrigen nach der Auskunft der HASt
vom 03.12.1990 als Folge der Politik der nationalen Homogenisierung als Synonym
der Rumänisierung Angehörige aller nationalen Minderheiten der nationalen
Vereinsamung ausgesetzt hat, allerdings nur bei deutschen Volkszugehörigen mit
der Wirkung des § 1 Abs. 2 Nr. 3 BVFG.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.