Urteil des HessVGH vom 06.02.1997

VGH Kassel: belastung, einkommensgrenze, besuch, erlass, hessen, ermächtigung, ersparnis, kinderhort, europarecht, freibetrag

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Gericht:
Hessischer
Verwaltungsgerichtshof
9. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
9 TG 3476/96
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 90 Abs 4 SGB 8, § 76
BSHG, § 79 BSHG, § 89
BSHG, § 10 KGartG HE
(Erlaß bzw Teilerlaß von Gebühren für die
Kindertagesstätte - Ermittlung der zumutbaren Belastung)
Tatbestand
I.
Die Antragsteller begehren den Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 123
Abs. 1 Satz 2 VwGO, mit Hilfe derer sie erreichen wollen, dass die Antragsgegnerin
ihnen die Teilnahmebeiträge erlässt, die für den Besuch ihrer Söhne und in einem
städtischen Kinderhort mit Mittagsverpflegung erhoben werden.
Das Verwaltungsgericht hat den Antrag abgelehnt, weil die Antragsteller mehr als
den von der Antragsgegnerin aufgrund ihrer Härtefallrichtlinien i. V. m. der
Satzung über die Benutzung von städtischen Kindertagesstätten gewährten
Zuschuss von 54,00 DM monatlich für Essaid und 27,00 DM monatlich für Moncef
nicht beanspruchen könnten und darüber hinaus das bereinigte Einkommen der
Antragsteller die Einkommensgrenze gemäß § 90 Abs. 4 SGB VIII i. V. m. § 79 Abs.
1 BSHG erheblich übersteige.
Die hiergegen eingelegte Beschwerde der Antragsteller hat teilweise Erfolg.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Beschwerde der Antragsteller ist teilweise begründet, denn das
Verwaltungsgericht hat ihren Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO zu Unrecht in vollem Umfang abgelehnt.
Die Antragsteller haben das Vorliegen eines Anordnungsgrundes glaubhaft
gemacht, denn sie machen geltend, die Teilnahmebeiträge für ihre Kinder nicht
(mehr) aufbringen zu können, so dass zu befürchten sei, dass die Kinder den Hort
würden verlassen müssen, wenn die beantragte einstweilige Anordnung nicht
erlassen werde. Auch das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs ist nach
summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage wenigstens zum Teil glaubhaft
gemacht.
Grundlage für den beantragten Gebührenerlass ist § 90 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII.
Danach soll im Falle von § 90 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII (Förderung in
Tageseinrichtungen nach §§ 22, 24 SGB VIII - mit anderen Worten Besuch einer
Kindertagesstätte -) der Teilnahmebeitrag bzw. die Gebühr auf Antrag ganz oder
teilweise erlassen oder - beim Besuch von Einrichtungen freier Träger - vom Träger
der öffentlichen Jugendhilfe übernommen werden, wenn die Belastung den Eltern
und dem Kind nicht zuzumuten ist. Die Feststellung der zumutbaren Belastung
richtet sich gemäß § 90 Abs. 4 SGB VIII nach den §§ 76 bis 79, 84 und 85 BSHG,
soweit Landesrecht keine abweichende Regelung trifft. Eine solche abweichende
landesrechtliche Regelung besteht in Hessen nicht.
§ 10 Hessisches Kindergartengesetz (HKgG) in der Fassung vom 21. Juni 1993
(GVBl. I, 256) besagt lediglich, dass die für den Besuch von Kindertagesstätten zu
entrichtenden Teilnahmebeiträge oder Gebühren nach Einkommensgruppen und
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entrichtenden Teilnahmebeiträge oder Gebühren nach Einkommensgruppen und
Kinderzahl gestaffelt werden können. Die Vorschrift gibt damit die
bundesgesetzliche Ermächtigung des § 90 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII an den
kommunalen Satzungsgeber weiter, ohne selbst Kriterien für die Bemessung der
Teilnahmebeiträge oder Gebühren festzusetzen (vgl. dazu Haaser, Hessisches
Kindergartengesetz, § 10 Anm. 4.2). Diese Vorgehensweise ist abgabenrechtlich
unbedenklich und mit höherrangigem Recht vereinbar, wie der 5. Senat des
Hessischen Verwaltungsgerichtshofs (Beschluss vom 14. Dezember 1994, NVwZ
1995, 406) und ihm folgend das Bundesverwaltungsgericht (Beschluss vom 15.
März 1995, NVwZ 1995, 790) festgestellt haben. Dies bedeutet jedoch nicht, dass
kommunales Satzungsrecht, welches aufgrund der Ermächtigung in § 90 Abs. 1
Satz 2 SGB VIII und in § 10 HKgG erlassen worden ist, als abweichende
landesrechtliche Regelung i. S. v. § 90 Abs. 4 SGB VIII anzusehen wäre, wie sich
daraus ergibt, dass § 90 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII es dem Landesrecht ermöglicht,
Gebührenstaffelungen vorzuschreiben oder selbst festzusetzen, mit anderen
Worten der Landesgesetzgeber die Befugnis weitergeben oder selbst von ihr
Gebrauch machen kann, wohingegen § 90 Abs. 4 SGB VIII davon ausgeht, dass
Landesrecht selbst eine von §§ 76 bis 79, 84 und 85 BSHG abweichende Regelung
trifft. Außerdem verpflichtet § 10 HKgG die Kommunen nicht, für die Benutzung
von Kindertagesstätten Gebührenstaffelungen vorzunehmen. Ist somit eine
Gebührenerhebung ohne Staffelung nach wie vor möglich, so ist auch keine
Verpflichtung der Kommunen zu erkennen, im Falle einer Staffelung für
wirtschaftlich leistungsschwache Benutzer einen Nulltarif vorzusehen (ebenso
Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 27. Februar 1995 - 12 M 602/94 -,
unveröffentlicht, zitiert nach der Rechtsdokumentation des Landesjugendamtes
Hessen). Daraus folgt, dass die Erlassregelung nach § 90 Abs. 3 SGB VIII
unabhängig von eventuellen Sozialrabatten in kommunalen Gebührensatzungen
eine eigenständige Funktion hat und haben muss und dass der hierauf Bezug
nehmende Abs. 4 dieser Vorschrift eine eigenständige landesrechtliche Regelung
erfordert, wenn die Bestimmungen der §§ 76 bis 79, 84 und 85 BSHG keine
Anwendung finden sollen (so z. B. § 17 KindertageseinrichtungsG NW und Anlage
dazu).
Das bereinigte Einkommen der Antragsteller übersteigt entgegen der Ansicht des
Verwaltungsgerichts die allgemeine Einkommensgrenze des § 79 Abs. 1 BSHG
nicht. Zunächst ist das bereinigte Einkommen deshalb etwas niedriger
anzusetzen, weil der Freibetrag für Erwerbstätige gemäß § 76 Abs. 2a Nr. 1 BSHG
(gemäß den Empfehlungen des Deutschen Vereins für öffentliche und private
Fürsorge 50 % des Eckregelsatzes) nicht 261,00 DM, sondern 265,50 DM beträgt
und das Verwaltungsgericht Abzüge nach § 76 Abs. 2 Nrn. 3 und 4 BSHG nicht
vorgenommen hat. Entscheidend ist jedoch, dass die allgemeine
Einkommensgrenze nach § 79 Abs. 1 BSHG wesentlich höher als von der
Vorinstanz errechnet ist. Die Einkommensgrenze setzt sich zusammen aus dem
Grundbetrag (ab 1. Juli 1996 1014,00 DM), den Kosten der Unterkunft und dem
Familienzuschlag (80 % des Eckregelsatzes - gerundet 425,00 DM -) für jede vom
Hilfesuchenden unterhaltene Person. Die Unterkunftskosten der Antragsteller
setzen sich zusammen aus der monatlichen Zinsbelastung für ihr Eigenheim in
Höhe von 1.359,00 DM, wie sie die Antragsgegnerin auch ihren Berechnungen
zugrundelegt, und monatlichen Nebenkosten in Höhe von zu veranschlagenden
300,00 DM. Da neben den Antragstellern vier Söhne, die von ihnen unterhalten
werden, zu berücksichtigen sind, ist der Familienzuschlag insgesamt fünfmal
anzusetzen. Die maßgebliche Einkommensgrenze liegt demnach bei 4.798,00 DM
und damit über dem bereinigten Einkommen der Antragsteller von knapp 4.400,00
DM.
Gemäß § 85 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 BSHG kann bei Unterschreiten der
Einkommensgrenze die Aufbringung der Mittel verlangt werden - dies entspricht
der zumutbaren Belastung i. S. v. § 90 Abs. 4 SGB VIII -, soweit bei der Hilfe in
einer Einrichtung zur teilstationären Betreuung Aufwendungen für den häuslichen
Lebensunterhalt erspart werden. Kindertagesstätten zählen zu derartigen
Einrichtungen (OVG Berlin, FEVS 32, 56; BSHG-LPK, 4. Auflage, § 85 Anm. 13). Eine
häusliche Ersparnis tritt bei den Antragstellern dadurch ein, dass ihre Söhne im
Kinderhort Mittagsverpflegung erhalten, für die laut Gebührenbescheid vom 15.
Januar 1996 monatlich 81,00 DM pro Kind zu zahlen ist. In Ermangelung näherer
Anhaltspunkte geht der Senat davon aus, dass in dieser Höhe auch die häusliche
Ersparnis entsteht. Der Betrag von monatlich 162,00 DM ist demnach als
zumutbare Belastung gemäß § 90 Abs. 4 SGB VIII anzusehen, so dass die
Antragsteller den Erlass der diesen Betrag übersteigenden Teilnahmebeiträge
verlangen können, da die Sollvorschrift des § 90 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII mangels
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verlangen können, da die Sollvorschrift des § 90 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII mangels
atypischer Fallgestaltung hier als verbindliche Regelung zu verstehen ist. Ihre
Beschwerde hat insoweit Erfolg.
Die Beschwerde ist jedoch unbegründet und zurückzuweisen, soweit die
Antragsteller eine weitergehende Entlastung begehren. § 85 Abs. 1 Satz 1 BSHG
stellt das Verlangen nach Aufbringung der Mittel in das Ermessen der Behörde. Es
ist jedoch nichts dafür ersichtlich, dass der Ermessensspielraum der
Antragsgegnerin dahingehend eingeengt ist, dass nur eine Entscheidung, die
Gebühren in einem weitergehenden als zuvor dargestellten Umfang zu erlassen,
rechtmäßig wäre.
Auch aus den Härtefallrichtlinien der Antragsgegnerin können die Antragsteller
keine für sich günstigere Rechtsfolge herleiten, denn danach kommt ein Vollerlass
nur für Bezieher laufender Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem
Bundessozialhilfegesetz in Betracht. Die Antragsteller haben jedoch weder im
Zeitpunkt der Antragstellung noch in der Folgezeit ergänzende Hilfe zum
Lebensunterhalt bezogen. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird diesbezüglich
auf die insoweit zutreffenden Gründe der angefochtenen Entscheidung gemäß §
122 Abs. 2 Satz 3 VwGO Bezug genommen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Gerichtskosten
werden in Verfahren aus dem Gebiet des Kinder- und Jugendhilferechts gemäß §
188 Satz 2 VwGO nicht erhoben.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.