Urteil des HessVGH vom 30.04.2009

VGH Kassel: vorläufige einstellung, vergleich, grundwasser, mittelwert, zivilprozessordnung, zwangsvollstreckung, verwaltungsprozess, beschränkung, konzentration, zwangsgeld

1
2
3
4
Gericht:
Hessischer
Verwaltungsgerichtshof
7. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
7 B 675/09
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 167 Abs 1 S 1 VwGO, §
769 Abs 1 ZPO, § 146 Abs
1 VwGO, § 707 Abs 2 S 2
ZPO
(Einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung aus
gerichtlichem Vergleich; Beschwerdefähigkeit der
erstinstanzlichen Entscheidung)
Leitsatz
1. Gegen die Entscheidung des Verwaltungsgerichts über einen Antrag auf einstweilige
Einstellung der Zwangsvollstreckung nach § 769 Abs. 1 ZPO i.V.m. § 167 Abs. 1 Satz 1
VwGO ist die Beschwerde nicht statthaft.
2. Der Rechtsmittelausschluss analog § 707 Abs. 2 Satz 2 ZPO gilt auch für
verwaltungsgerichtliche Entscheidungen nach § 769 Abs. 1 ZPO i.V.m. § 167 Abs. 1
Satz 1 VwGO.
Tenor
Die Beschwerde der Schuldnerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts
Gießen vom 12. Februar 2009 - 10 L 4644/08.GI - wird als unzulässig verworfen.
Die Schuldnerin hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen.
Gründe
I.
Die Schuldnerin begehrt eine einstweilige Anordnung, nach der die Vollstreckung
des Gläubigers aus einem gerichtlichen Vergleich bis zur rechtskräftigen
Entscheidung über die von der Schuldnerin erhobene Vollstreckungsgegenklage
einzustellen ist.
Die Schuldnerin und der Gläubiger schlossen in dem unter der Geschäftsnummer
10 E 1381/01 beim Verwaltungsgericht Gießen geführten
Verwaltungsstreitverfahren am 26. Mai 2003 einen gerichtlichen Vergleich.
Zentraler Gegenstand dieses Vergleichs ist die Verpflichtung der Schuldnerin, auf
ihrem Grundstück in Marburg einen Sanierungsbrunnen zu errichten und unter
begleitender gutachterlicher Kontrolle Grundwasser zu reinigen, das mit
leichtflüchtigen halogenierten Kohlenwasserstoffen (LHKW) kontaminiert ist.
In Nr. 7 des gerichtlichen Vergleichs vom 26. Mai 2003 sind folgende Regelungen
zur Dauer der von der Schuldnerin vorzunehmenden Sanierungsmaßnahmen
getroffen:
"7. Das mit LHKW kontaminierte Grundwasser ist mit dem Sanierungsbrunnen
mindestens sechs Monate, jedoch nur solange abzupumpen und zu reinigen, bis in
dem abgepumpten Grundwasser die LHKW-Konzentration entweder
a) mehr als drei Monate eine Konzentration von 10 µg pro Liter je Einzelparameter
nicht überschreite oder
b) dauerhaft, d.h. über einen Zeitraum von einem Jahr hinweg, trotz
ordnungsgemäßer Reinigung des Wassers im entnommenen Grundwasser keine
5
6
7
8
9
10
11
12
13
ordnungsgemäßer Reinigung des Wassers im entnommenen Grundwasser keine
deutlich abnehmende Schadstoffkonzentration mehr zu verzeichnen ist und die
Gesamtkonzentration insgesamt 75 µg Summe LHKW je Liter nicht überschreitet
oder
c) der für einen 12-Monats-Zeitraum festgestellte Mittelwert der
Gesamtschadstoffkonzentration bei optimaler Fördermenge den entsprechenden
Mittelwert für den vorausgegangenen 12-Monats-Zeitraum nicht um mehr als 15
% unterschreitet. Der erste 12-Monats-Zeitraum beginnt mit der Aufnahme des
Sanierungsbetriebes. Zur Feststellung des Mittelwertes der
Gesamtschadschadstoffkonzentration ist das Grundwasser in jedem Monat des
12-Monats-Zeitraums auf die jeweils in Ziffer 3 genannten LHKW-Einzelparameter
durch den Gutachter zu analysieren."
Im Oktober 2004 begann die Schuldnerin den kontinuierlichen Sanierungsbetrieb,
nachdem Untersuchungen der MikroChemGmbH eine LHKW-Belastung des
Grundwassers von mehr als 900 µg pro Liter ergeben hatten. Im 12-Monats-
Zeitraum von Oktober 2004 bis einschließlich September 2005 betrug der
Mittelwert der LHKW-Konzentration 926 µg pro Liter, im anschließenden 12-
Monats-Zeitraum 969 µg pro Liter. Ende Januar 2007 stellte die Schuldnerin den
Sanierungsbetrieb ein. Die Sanierungsanlage baute die Schuldnerin Mitte des
Jahres 2008 ab.
Der über die Einstellung des Sanierungsbetriebs mit Schreiben der Schuldnerin
vom 20. Februar 2007 unterrichtete Gläubiger forderte die Schuldnerin mit
Schreiben vom 25. September 2008 zur Fortsetzung der Sanierung auf. Nachdem
die Schuldnerin dies ablehnte, beantragte der Gläubiger mit Schreiben vom 8.
Dezember 2008 beim Präsidenten des Verwaltungsgerichts Gießen in dessen
Eigenschaft als Vorsitzender der 10. Kammer, der Schuldnerin ein Zwangsgeld
anzudrohen. Mit Beschluss vom 11. Februar 2009 - 10 N 4568/08.GI - wurde der
Schuldnerin ein Zwangsgeld in Höhe von 1.000,00 € angedroht. Dieser Beschluss
ist Gegenstand des beim Hessischen Verwaltungsgerichtshofs unter dem
Aktenzeichen 7 E 790/09 geführten Beschwerdeverfahrens.
Am 29. Dezember 2008 hat die Schuldnerin beim Verwaltungsgericht Gießen
Vollstreckungsgegenklage erhoben (Geschäfts-Nr.: 10 K 4645/08.GI), über die
noch nicht entschieden ist. Zugleich hat die Schuldnerin die vorläufige Einstellung
der Vollstreckung aus dem gerichtlichen Vergleich vom 26. Mai 2003 beantragt.
Das Verwaltungsgericht Gießen hat diesen Antrag mit Beschluss vom 12. Februar
2009 - 10 L 4644/08.GI - abgelehnt. Zur Begründung hat das Verwaltungsgericht
im Wesentlichen ausgeführt, dass nach dem Sach- und Streitstand im Zeitpunkt
seiner Entscheidung nicht davon auszugehen sei, dass der Schuldnerin
rechtshindernde oder -vernichtende Einwendungen gegen ihre Verpflichtung aus
dem Vergleich zustünden. Wegen der Einzelheiten der Begründung wird auf die
Gründe des angefochtenen Beschlusses des Verwaltungsgerichts Gießen Bezug
genommen.
Am 2. März 2009 hat die Schuldnerin Beschwerde gegen den ihr am 16. Februar
2009 zugestellten Beschluss vom 12. Februar 2009 erhoben, der das
Verwaltungsgericht Gießen mit Beschluss vom 3. März 2009 nicht abgeholfen hat.
Die Schuldnerin vertritt die Auffassung, ihre im Vergleich titulierte
Sanierungsverpflichtung sei erloschen, da der Tatbestand der Nr. 7 c) des
gerichtlichen Vergleichs erfüllt sei. Wegen der Einzelheiten wird auf die
Beschwerdebegründung der Schuldnerin vom 2. März 2009 Bezug genommen.
II.
Die Beschwerde, über die der Berichterstatter analog § 87a Abs. 2 und 3 VwGO im
Einverständnis der Beteiligten anstelle des Senats entscheiden kann, bleibt ohne
Erfolg.
Die Beschwerde, die die verwaltungsgerichtliche Ablehnung eines nach §§ 167 Abs.
1 Satz 1, 168 Abs. 1 Nr. 3 VwGO, §§ 795 Satz 1, 769 ZPO statthaften Antrags auf
vorläufige Einstellung der Vollstreckung aus einem Prozessvergleich betrifft, ist
aufgrund einer Analogie zu § 707 Abs. 2 Satz 2 ZPO, die auch im
Verwaltungsprozess Geltung beansprucht, unstatthaft und damit bereits
unzulässig.
Für den Zivilprozess wird der Rechtsmittelausschluss analog § 707 Abs. 2 Satz 2
13
14
15
16
Für den Zivilprozess wird der Rechtsmittelausschluss analog § 707 Abs. 2 Satz 2
ZPO gegen Entscheidungen des Prozessgerichts, die vorläufigen Rechtsschutz
nach § 769 Abs. 1 ZPO gewähren oder ablehnen, daraus hergeleitet, dass bei
Entscheidungen nach § 769 Abs. 1 ZPO eine vergleichbare Interessenlage besteht
wie bei Entscheidungen nach § 707 ZPO und § 719 ZPO, für die der
Rechtsmittelausschluss ausdrücklich angeordnet ist. In sämtlichen Fällen geht es
um eine einstweilige Einstellung bzw. Beschränkung der Zwangsvollstreckung aus
vollstreckbaren zivilgerichtlichen Titeln. Für Entscheidungen nach § 769 Abs. 1 ZPO
gilt demgemäß in gleicher Weise wie für Entscheidungen nach §§ 707, 719 ZPO die
- auch vom Gesetzgeber geteilte - Wertung, wonach die Entscheidung in der
zugehörigen Hauptsache nicht durch die Einlegung von Rechtsmitteln im
Nebenverfahren verzögert werden soll. Es entspricht überdies der Einschätzung
des Gesetzgebers (vgl. BT-Drucks. 10/3054 S. 14), dass das mit der Hauptsache
befasste erstinstanzliche Gericht am besten beurteilen kann, ob und
gegebenenfalls welche einstweilige Regelung nach § 769 Abs. 1 ZPO erforderlich
ist. Hinzu tritt, dass vorläufige Entscheidungen sowohl nach §§ 707, 719 ZPO als
auch nach § 769 Abs. 1 ZPO jeweils Ermessensentscheidungen sind, bei denen
das Prozessgericht die Schutzbedürfnisse von Gläubiger und Schuldner
gegeneinander abzuwägen hat und getroffene Entscheidungen frei abändern kann,
um der jeweiligen Prozesslage gerecht zu werden (vgl. zu Vorstehendem: BGH,
Beschlüsse vom 21. April 2004 - XII ZB 279/03 - BGHZ 159, 14 und vom 20.
Dezember 2005 - VII ZB 52/05 - InVO 2006, 146; MünchKommZPO/Schmidt, 3.
Aufl. 2007, § 769 Rdnr. 33; Stein/Jonas/Münzberg, ZPO, 22. Aufl. 2002, § 769 Rdnr.
17; jeweils m. w. N.).
Der Rechtsmittelausschluss analog § 707 Abs. 2 Satz 2 ZPO gilt auch für
verwaltungsgerichtliche Entscheidungen nach § 167 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. §
769 Abs. 1 ZPO zur vorläufigen Einstellung bzw. Beschränkung der Vollstreckung
aus verwaltungsgerichtlichen Titeln. § 167 Abs. 1 Satz 1 VwGO ordnet für die
Vollstreckung verwaltungsgerichtlicher Titel die entsprechende Geltung des Achten
Buchs der Zivilprozessordnung an, soweit sich aus der
Verwaltungsgerichtsordnung nichts anderes ergibt. Diese - aufgrund des
fragmentarischen Charakters der §§ 167ff. VwGO für die Vollstreckung aus
verwaltungsgerichtlichen Titeln bedeutsame - dynamische Verweisung auf die
Zivilprozessordnung belegt, dass der Gesetzgeber deren ausführliche Regelungen
zur Vollstreckung zivilgerichtlicher Titel im Grundsatz als auch auf die Vollstreckung
verwaltungsgerichtlicher Titel für anwendbar erachtet. Durch die Anordnung einer
entsprechenden Geltung der zivilprozessualen Regelungen hat der Gesetzgeber
zugleich sichergestellt, dass Besonderheiten des Verwaltungsprozesses bei der
Anwendung der Vorschriften des Achten Buchs der Zivilprozessordnung zu
berücksichtigen sind. Dies hat beispielsweise zur Folge, dass anstelle der
sofortigen Beschwerde nach § 793 ZPO die Beschwerde nach §§ 146ff. VwGO tritt.
Vor dem Hintergrund dieses Regelungsgefüges folgt aus § 167 Abs. 1 Satz 1
VwGO nicht nur die entsprechende Geltung des § 769 Abs. 1 ZPO im
Verwaltungsprozess, sondern auch die Unanfechtbarkeit verwaltungsgerichtlicher
Entscheidungen über Anträge auf einstweilige Anordnungen nach dieser Vorschrift.
Die Argumente, die im Zivilprozess für einen auf eine Analogie zu § 707 Abs. 2
Satz 2 gestützten Rechtsmittelausschluss im Hinblick auf erstinstanzliche
Entscheidungen über Anträge nach § 769 ZPO streiten, gelten in gleicher Weise im
Verwaltungsprozess. Besonderheiten des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens, die
im Fall verwaltungsgerichtlicher Entscheidungen nach § 769 Abs. 1 ZPO der
analogen Anwendung des § 707 Abs. 2 Satz 2 ZPO entgegen stehen und so eine
Abweichung von der zivilprozessualen Rechtslage rechtfertigen, auf die § 167 Abs.
1 Satz 1 VwGO prinzipiell verweist, bestehen nicht. Der Zweck der effektiven
Vollstreckung gerichtlicher Titel, der ohne Unterschied für zivil- und
verwaltungsgerichtliche Titel gilt, legt es im Gegenteil nahe, im Geltungsbereich
beider Verfahrensordnungen Entscheidungen über die einstweilige Beschränkung
der zwangsweisen Durchsetzung vollstreckbarer gerichtlicher Titel bei der ersten
Instanz zu monopolisieren.
Soweit in der Verwaltungsrechtsprechung, deren veröffentlichte Entscheidungen zu
dieser Rechtsfrage allerdings - soweit ersichtlich - aus der Zeit vor Erlass des
grundlegenden Beschlusses des Bundesgerichtshofs vom 21. April 2004, a. a. O.,
stammen (vgl. insbesondere OVG Hamburg, Beschluss vom 12. März 1970 - OVG
Bs 101/69 -, VerwRspr. 22, 127; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 23.
Februar 1987 - 11 B 43/87 -, NJW 1987, 3029), demgegenüber die Beschwerde
nach § 146 Abs. 1 VwGO für statthaft gehalten und die erstinstanzliche
Entscheidung über einen Antrag nach § 769 Abs. 1 ZPO überprüft wird, folgt das
17
18
19
20
Entscheidung über einen Antrag nach § 769 Abs. 1 ZPO überprüft wird, folgt das
Beschwerdegericht aus den dargelegten Gründen dieser Rechtsauffassung nicht.
Zu diesen Gründen tritt hinzu, dass (auch) § 146 Abs. 1 VwGO die Beschwerde nur
eröffnet, soweit nicht in der Verwaltungsgerichtsordnung etwas anderes bestimmt
ist. Etwas anderes im Sinne des § 146 Abs. 1 VwGO wird hier dadurch bestimmt,
dass § 167 Abs. 1 Satz 1 VwGO auf das Achte Buch der Zivilprozessordnung und
damit auch auf den Rechtsmittelausschluss analog § 707 Abs. 2 Satz 2 ZPO
verweist.
Soweit es um die Frage der vorläufigen Einstellung der Vollstreckung aus dem
gerichtlichen Vergleich vom 26. Mai 2003 im Hinblick auf die von der Schuldnerin
erhobene Vollstreckungsgegenklage geht, obliegt es sonach ausschließlich der
Beurteilung des Verwaltungsgerichts, ob - wie der Gläubiger meint - der
Erlöschenstatbestand der Nr. 7 c) des Vergleichs nur die Situation meint, in der
der Mittelwert der Gesamtschadstoffkonzentration den des vorangegangenen
Vergleichszeitraums unterschreitet, sich die Unterschreitung aber in einem
Rahmen von 15 % bewegt, oder - wie es die Schuldnerin sieht - auch den Fall, dass
der Mittelwert des vorangegangenen Vergleichszeitraums nicht unterschritten,
sondern überschritten wird.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Eine Streitwertfestsetzung nach § 63 Abs. 2 Satz 1 GKG ist nicht veranlasst, da für
diese Beschwerde in Nr. 5502 des Kostenverzeichnisses zum
Gerichtskostengesetz eine Festgebühr von 50,00 € vorgesehen ist.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.