Urteil des HessVGH vom 09.03.1993

VGH Kassel: versiegelung, öffentliche sicherheit, vorläufiger rechtsschutz, gebäude, vwvg, bauwerk, ordnungswidrigkeit, sicherstellung, realakt, gefahr

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Gericht:
Hessischer
Verwaltungsgerichtshof
3. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
3 TH 563/93
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 75 VwVG HE, § 40 Nr 4
SOG HE
(Versiegelung - zum Verhältnis von VwVG HE § 75 zu SOG
HE § 40 Nr 4)
Leitsatz
Die repressive vollstreckungsrechtliche und die präventive polizeirechtliche
Versiegelung von Räumen nach § 75 HessVwVG bzw. § 40 Abs 4 HSOG sind zwei nicht
in einem Rang- oder Subsidiaritätsverhältnis, sondern gleichberechtigt nebeneinander
bestehende Instrumente der Gefahrenabwehr mit unterschiedlichen
Tatbestandsvoraussetzungen.
Gründe
I.
Die Antragsteller wenden sich mit ihrem am 11.09.1992 gestellten Eilantrag gegen
die angekündigte, das Kellergeschoß nicht einschließende polizeirechtliche
Versiegelung für ihr Außenbereichsgebäude in der Gemarkung G., Flur 2, Flurstück
5.
Unter dem 27.07.1983 hatte der Antragsgegner dem Antragsteller eine
Baugenehmigung für die Errichtung eines Bienenhauses mit Lehr- und
Bienenstand mit etwa 175,00 cbm umbauten Raum erteilt. Das Gebäude wurde
abweichend von dieser Baugenehmigung mit etwa 210,00 cbm umbauten Raum
und zusätzlich mit Schornstein, Abwassergrube, gefliestem Badezimmer mit
Badewanne und Toilette, gefliestem Küchenbereich mit Einbauküche, Eß- und
Wohnraum mit Kachelofen, zahlreichen Holzvertäfelungen an Wänden und Decken,
einem Vorratsraum, einer überdachten Veranda mit Hollywood-Schaukel und einer
Teilunterkellerung am Hang mit Garagentor, Zufahrtsmöglichkeit und Stützwand
errichtet.
Mit inhaltsgleichen Verfügungen vom 08.05.1989 gab der Antragsgegner den
Antragstellern die Beseitigung des Gebäudes auf, ordnete ein sofort vollziehbares
Nutzungsverbot an, das der Hessische Verwaltungsgerichtshof in seinem Beschluß
vom 17.05.1990 - 4 TH 3505/89 - bestätigte, und drohte insoweit jeweils
Zwangsmittel an. In der Begründung der Verfügung teilte der Antragsgegner mit,
er ziehe zur präventiven Durchsetzung des Nutzungsverbots auch eine
Versiegelung auf polizeirechtlicher Grundlage in Erwägung.
Nach Erlaß des den Widerspruch der Antragsteller zurückweisenden
Widerspruchsbescheids des Regierungspräsidiums Gießen vom 30.07.l992
kündigte der Antragsgegner den Antragstellern mit Schreiben vom 18.08.1992 die
Versiegelungsabsicht an, wobei das Kellergeschoß ausgenommen wurde.
Den Eilantrag der Antragsteller lehnte das Verwaltungsgericht Gießen mit
Beschluß vom 09.02.1993 ab. Inzwischen ist dort auch das Klageverfahren gegen
die Verfügung vom 08.05.1989 unter dem Aktenzeichen - I/1 E.834/92 - anhängig.
Die Antragsteller haben gegen den ihnen am 16.02.1993 zugestellten
verwaltungsgerichtlichen Eilbeschluß am 01.03.1993 Beschwerde eingelegt, mit
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verwaltungsgerichtlichen Eilbeschluß am 01.03.1993 Beschwerde eingelegt, mit
der sie sich weiterhin gegen die angekündigte polizeirechtliche Versiegelung
wehren.
Dem Senat liegt die einschlägige Behördenakte des Antragsgegners mit
zahlreichen Lichtbildern des streitbefangenen Objekts vor, ebenso die Gerichtsakte
des das Nutzungsverbot betreffenden Eilverfahrens (Hess. VGH - 4 TH 3505/89 -).
Diese Unterlagen sind Gegenstand der Beratung gewesen. Auf ihren Inhalt wird
ebenso wie auf den übrigen Akteninhalt ergänzend Bezug genommen.
II.
Die zulässige Beschwerde der Antragsteller ist nicht begründet.
Die Antragsteller, die sich in ihrer Antragsschrift vom September 1992 noch auf §
80 Abs. 5 VwGO gestützt hatten, begehren im Beschwerdeverfahren zutreffend
und statthaft den Erlaß einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO.
Die Ankündigung oder die Androhung einer Versiegelung auf
bauordnungsrechtlicher und polizeirechtlicher Grundlage (früher: § 112 HBO 1978
in Verbindung mit den §§ 18, 19 HSOG 1972; jetzt: § 83 Abs. 1 HBO 1990 in
Verbindung mit § 1 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2, § 3 Abs. Satz 1 und 2 sowie § 40 Nr.
4 HSOG 1990) stellt keinen Verwaltungsakt dar, wie der Senat in seinen
Beschlüssen vom 17.05.1984 - 3 TH 971/84 - DVBl. 1984, 794 und 05.07.1988 - 3
TH 2249/88 - näher dargelegt hat. Läuft ein Betroffener Gefahr, gegen vollendete
Tatsachen angehen zu müssen und mit vorbeugendem Rechtsschutz im
Hauptsacheverfahren zu spät zu kommen, erfordert der durch Art. 19 Abs. 4 GG
gewährleistete wirksame Rechtsschutz auch vorbeugenden vorläufigen
Rechtsschutz im Wege der einstweiligen Anordnung (Hess. VGH, Beschluß vom
16.12.1986 - 3 TG 1686/86 -; Finkelnburg/Jank, Vorläufiger Rechtsschutz in
Verwaltungsstreitverfahren, 3. Auflage 1986, Rdnr. 20).
Im vorliegenden Fall hat der Antragsteller weder einen Anordnungsanspruch noch
einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht (§ 123 Abs. 3 VwGO in Verbindung mit
§ 920 Abs. 2 ZPO). An einem Anordnungsgrund fehlt es, weil die Antragsteller
zumutbarerweise auf nachträglichen gerichtlichen Rechtsschutz gegen die
angekündigte Versiegelung verwiesen werden können (vgl. dazu BVerwG, Urteil
vom 08.09.1972 - VI C 17.71 - E 40, 324, 326; Urteil vom 26.06.1981 - 4 C 4.78 - E
62, 342, 352. Für die Antragsteller besteht nicht die Gefahr, daß durch die
angekündigte Versiegelung nicht mehr ohne weiteres rückgängig zu machende
Tatsachen geschaffen werden, zumal die Antragsteller nach der rechtskräftigen
Eilentscheidung des Hess. VGH vom 17.05.1990 ohnehin derzeit zur Nutzung der
streitbefangenen Räume nicht befugt sind.
Im übrigen ist auch für einen Anordnungsanspruch nichts glaubhaft gemacht
worden oder sonst ersichtlich. In diesem Zusammenhang ist vorab darauf
hinzuweisen, daß das streitbefangene Gebäude von Anfang an bis jetzt formell und
materiell rechtswidrig ist. Es ist in seinem Bauzustand und seiner Funktion in so
gewichtiger Weise abweichend von der Baugenehmigung vom 27.07.1983 errichtet
worden, daß es von dieser Baugenehmigung nicht mehr gedeckt ist und ihr
gegenüber ein anderes Bauwerk (aliud) darstellt. Von seinem Zuschnitt mit
gefliestem Naß- und Küchenbereich und holzvertäfelten Wänden und Kachelofen
im Wohnbereich sowie in das Gebäude integrierter Garage steht das im
wesentlichen, Freizeitzwecken dienende Bauwerk einem kleinen Wohnhaus näher
als einem Bienenhaus mit Lehr- und Bienenstand. Bienenstände selbst befinden
sich im Gebäude offenbar überhaupt nicht, sondern anderweitig auf dem
Grundstück.
Im Ergebnis bedeutet dies, daß die Baugenehmigung vom 27.07.1983 gemäß § 99
Abs. 1 HBO 1978 erloschen ist, weil nicht innerhalb von 2 Jahren mit der
Ausführung des genehmigten Bauvorhabens begonnen worden ist. Für das
abweichend errichtete Gebäude fehlt es hingegen an der gemäß § 96 Abs. 2 Satz
1 HBO 1978 und 1990 erforderlichen schriftlichen Baugenehmigung, die die
insoweit beweispflichtigen Antragsteller nicht in Händen und nicht vorgelegt haben.
Soweit der zur Baugenehmigung vom 27.07.1993 gehörende bauaufsichtlich
geprüfte Lageplan die Eintragung "Bodenplatte tlw. unterkellert" enthält, liegt darin
keine ausreichende Baugenehmigung für das zusätzlich errichtete Garagen- und
Kellergeschoß. Dies beruht darauf, daß die sonstigen Bauunterlagen wie
Bauzeichnungen, Baubeschreibung, statische Berechnung und Berechnung des
umbauten Raumes ein Garagen- und Kellergeschoß nicht ausweisen und dieses
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umbauten Raumes ein Garagen- und Kellergeschoß nicht ausweisen und dieses
auch nicht mit genehmigt worden ist.
Soweit sich die Antragsteller im übrigen auf Bauzustandsbesichtigungen,
Bauabnahmen, mündliche behördliche Zustimmungen und darauf berufen,
behördenintern habe es dem derzeitigen Bauwerk entsprechende geänderte
Nachtragspläne mit dem bauaufsichtlichen grünen Prüfstempel gegeben, ändert
dies nichts daran, daß ihnen eine schriftliche Änderungsgenehmigung nicht
zugegangen ist und von ihnen nicht vorgelegt werden kann. Gemäß § 96 Abs. 2
Satz 2 HBO 1978 und 1990 war und ist vorgeschrieben, daß eine Ausfertigung der
mit einem Genehmigungsvermerk versehenen Bauvorlagen dem Antragsteller mit
der Baugenehmigung zuzustellen ist, was hier für das wesentlich geänderte
Bauvorhaben nicht der Fall war.
Die materiell-rechtliche Illegalität ergibt sich daraus, daß das im wesentlichen
Freizeitzwecken dienende, im Außenbereich nicht privilegiert zulässige
Bauvorhaben gemäß § 35 Abs. 2 und 3 BBauG bzw. BauGB öffentliche Belange
beeinträchtigt, insbesondere die natürliche Eigenart der Außenbereichslandschaft.
In ihr stellt das Bauwerk einen störenden baulichen Fremdkörper dar.
Bauordnungsrechtlich liegt ein Verstoß gegen § 59 Abs. 2 Satz, 3 HBO 1978 und
1990 vor, weil die Abwasserbeseitigung nicht ordnungsgemäß geregelt ist. Nach
der genannten Vorschrift sind Sammelgruben nur zulässig für bauliche Anlagen,
die nicht an die zentrale Wasserversorgung angeschlossen sind, was hier jedoch
anders ist.
Nimmt man die vorausgeschickte, in vollem Umfang gegebene formelle und
materielle Rechtswidrigkeit des streitbefangenen Vorhabens und das
verwaltungsgerichtlich in zwei Instanzen bestätigte sofort vollziehbare
Nutzungsverbot in den Blick, begegnet auch die angekündigte polizeirechtliche
Versiegelung nach § 40 Nr. 4 HSOG 1990 keinen rechtlichen Bedenken. Die
Tatbestandsvoraussetzungen sind erfüllt. Es liegen tatsächlich Anhaltspunkte
dafür vor, daß die Antragsteller trotz formeller Illegalität und verwaltungsgerichtlich
bestätigtem Nutzungsverbot für das gesamte Gebäude einschließlich des
Garagen-,und Kellergeschosses weiterhin umfassende Nutzungsabsichten haben.
Daß sie sich nicht auf bloße Wartungs- und Pflegemaßnahmen beschränken
wollen, zeigt die Antragsschrift vom 09.09.1992, wo die Antragsteller darauf
hinweisen, daß die Imkertätigkeit fortgesetzt werden soll und bei Durchführung der
angekündigten Versiegelung die Bienenvölker nicht mehr gehalten werden
könnten. Eine Fortsetzung der Gebäudenutzung stellt aber inzwischen eine
vorsätzliche Ordnungswidrigkeit nach § 113 Abs. 1 Nr. 13 HBO 1990 dar, so daß
die angekündigte Versiegelung als Sicherstellung einer Sache, hier der betroffenen
Räume, gerechtfertigt ist.
Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (§ 4 Abs. 2 HSOG 1990) ist nicht verletzt.
Die Zeitspanne nach der verwaltungsgerichtlichen Bestätigung des sofort
vollziehbaren Nutzungsverbots ab Mai 1990 war lang genug, um sich
gegebenenfalls nach einer geeigneten anderen Unterbringungsmöglichkeit für die
Bienenvölker umzusehen. Wasserleitungen können im übrigen nicht platzen, wenn
das Wasser in dem ohnehin nicht nutzbaren Gebäude abgelassen wird.
Darüberhinaus ist nach Ansicht des Senats nichts dafür ersichtlich, daß sich der
Antragsgegner, der das Kellergeschoß ohnehin nicht versiegeln will, nach jeweiliger
Absprache im Einzelfall einem begründeten Räumungs- und Wartungsbegehren
unter Einschluß eines kurzzeitigen Zutritts zu den übrigen Räumlichkeiten sowie
einer eventuellen Ent- und Wiederversiegelung verschließen wird. Diese von den
Antragstellern im Rahmen ihrer Abwendungsbefugnis nach § 5 Abs. 2 Satz 2 HSOG
1990 gegebenenfalls anzuregende schonende Handhabung des Nutzungsverbots
und der Versiegelung würde die grundsätzliche Wirksamkeit dieser Maßnahmen
nicht beeinträchtigen und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ausreichend
beachten.
Abschließend ist zum Verhältnis der verwaltungsvollstreckungsrechtlichen
Versiegelung nach § 75 HessVwVG und einer polizeirechtlichen Sicherstellung von
Sachen und Räumen als Realakt nach § 40 Nr. 4 HSOG darauf hinzuweisen, daß
der Antragsgegner zur Durchsetzung seiner Gefahrenabwehrmaßnahmen nicht
auf den verwaltungsvollstreckungsrechtlichen Weg verwiesen ist. Dies gilt auch
dann, wenn er wie hier, ein sofort vollziehbares und damit gemäß § 2 Nr. 2
HessVwVG vollstreckbares Nutzungsverbot erlassen hat. Die
vollstreckungsrechtliche und die polizeirechtliche Versiegelung sind zwei
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vollstreckungsrechtliche und die polizeirechtliche Versiegelung sind zwei
nebeneinander bestehende und anwendbare Instrumente der Gefahrenabwehr mit
allerdings unterschiedlichen Tatbestandsvoraussetzungen, die jeweils erfüllt sein
müssen. Dabei ist der polizeirechtliche Realakt der Versiegelung ein vorbeugendes
(präventives) Mittel, während die vollstreckungsrechtliche Versiegelung nach § 75
HessVwVG als repressives Mittel der Gefahrenabwehr ausgestaltet ist. In diesem
Fall muß eine Zuwiderhandlung des Pflichtigen gegen eine Duldungs- oder
Unterlassungspflicht vorliegen, mithin ein Verstoß gegen die Rechtsordnung und
damit die öffentliche Sicherheit. Polizeirechtlich genügt es nach § 40 Nr. 4 HSOG
1990, wenn tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, daß die
betreffende Sache zur Begehung einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit erst
gebraucht oder sie dazu verwertet werden soll. Im ersten Fall ist ein die
Rechtsordnung schädigendes Verhalten bereits eingetreten, während es im
zweiten Fall erst bevorsteht, was eine prognostische Bewertung erfordert. Es
kommt mithin nur auf die Erfüllung der jeweiligen Tatbestandsmerkmale an, ein
Rang- oder Subsidiaritätsverhältnis besteht zwischen Maßnahmen nach § 75
Hess.VwVG und § 40 Nr. 4 HSOG 1990 nicht.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Die in Übereinstimmung mit dem Verwaltungsgericht vorgenommene
Streitwertfestsetzung für das Beschwerdeverfahren beruht auf den §§ 13 Abs. 1,
14 Abs. 1 entsprechend, 20 Abs. 3 und 25 Abs. 1 GKG.
Hinweis: Dieser Beschluß ist unanfechtbar (§§ 152 Abs. 1 VwGO, 25 Abs. 2 Satz 2
GKG).
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.