Urteil des HessVGH vom 28.04.1999

VGH Kassel: grauer star, kreis, betrug, universität, augenerkrankung, abgrenzung, einverständnis, vorverfahren, anfang, bestätigung

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Gericht:
Hessischer
Verwaltungsgerichtshof
1. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
1 UE 1652/96
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 1 Abs 2 Nr 2 BliGG HE, §
4 BSHG§47V vom
01.02.1975, § 39 Abs 1 S 1
BSHG, § 1 Abs 2 Nr 1 BliGG
HE
(Blindengeld - zum Vorliegen einer nicht nur
vorübergehenden Sehbehinderung)
Leitsatz
Eine nicht nur vorübergehende (Seh-)Behinderung nach § 39 Abs. 1 Satz 1 BSHG i.V.m.
§ 4 EinglVO und § 1 Abs. 2 Nr. 2 Hess.LBliGG liegt vor, wenn die Dauer der
Beeinträchtigung mehr als 6 Monate beträgt.
(Leitsatz in FEVS 51, 303)
Tatbestand
Der 1941 geborene Kläger begehrt Leistungen nach dem
Landesblindengeldgesetz - LBliGG -. Mit Schreiben vom 28. Mai 1992, bei dem
Beklagten am nächsten Tage eingegangen, fragte er unter Hinweis auf seine
hochgradige Sehbehinderung an, ob ihm deshalb eine Beihilfe gewährt werden
könne. Laut augenfachärztlicher Bescheinigung des ihn behandelnden
Augenarztes vom 14. August 1992 litt der Kläger an einer ungeklärten Binde- und
Hornhautentzündung. Seine Sehschärfe bei beiden Augen betrug <0.03 c.C. in 2
m Entfernung. Gleichzeitig wurde angegeben, daß die Sehschärfe des Klägers
durch eine Kataraktoperation (grauer Star) verbessert werden könnte.
Nach Einholen einer weiteren augenfachärztlichen Stellungnahme vom 23.
September 1992 lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 4. November 1992 den
Antrag des Klägers auf Blindengeld ab, weil die Sehschärfe des Klägers
voraussichtlich durch eine Augenoperation gebessert werden könne. Diese
Maßnahme sei im Rahmen der Mitwirkungspflicht noch zumutbar. Da die
Sehbehinderung nur als vorübergehend angesehen werden könne, lägen die
Voraussetzungen für die Gewährung von Blindengeld nicht vor.
Gegen diesen Bescheid legte der Kläger am 17. November 1992 Widerspruch ein.
Unter dem 11. Februar 1993 präzisierte der den Kläger behandelnde Augenarzt
seine Bescheinigung vom 14. August 1992 dahin, daß beim Kläger eine
Sehschärfe von 0.01 vorgelegen habe.
Anfang Februar 1993 wurde der Kläger in der Augenklinik in Gießen an beiden
Augen operiert und am 8. Februar bzw. 13. Februar 1993 aus der Klinik entlassen.
Sein Sehvermögen verbesserte sich dadurch auf dem rechten Auge auf 0,3.
Nachdem er hierzu die Operationsberichte eingereicht hatte, holte der Beklagte
eine weitere augenfachärztliche Stellungnahme vom 26. Mai 1993 ein. Darin wurde
festgestellt, daß die Voraussetzungen für eine Einstufung des Klägers als Blinder
bzw. wesentlich Sehbehinderter wegen der durch die Operation erreichten
Sehschärfe auch weiterhin nicht möglich sei.
Nach erfolglosem Vorverfahren, der Widerspruchsbescheid des Beklagten vom 18.
November 1993 wurde dem Kläger am 20. November1993 zugestellt, hat der
Kläger am 20. Dezember 1993 Klage erhoben und ausgeführt, er sei im Zeitraum
zwischen Mai 1992 bis März 1993blind im Sinne des Gesetzes gewesen. Aus dem
Landesblindengeldgesetz gehe nicht hervor, daß das Blindengeld nur Personen
gewährt werde, die auf Dauer blind seien. '
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Der Kläger hat beantragt,
unter Aufhebung des Bescheides des Beklagten vom 4. November 1992 in der
Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. November 1993 den Beklagten zu
verpflichten, dem Kläger Landesblindengeld für die Zeit von Mai 1992 bis März
1993 zu gewähren.
Der Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er hat sich darauf berufen, daß es sich bei der Augenkrankheit des Klägers nur um
eine vorübergehende Störung des Sehvermögens gehandelt habe. Diese schließe
nach § 1 Abs. 2 LBliGG den Anspruch auf Blindengeld aus. Nach der Operation
erreiche jedenfalls das rechte Auge wieder eine Sehschärfe, bei der eine
Einstufung als Blinden-Gleichgestellter oder als wesentlich Sehbehinderter nicht
möglich sei.
Das Verwaltungsgericht hat die Klage mit Urteil vom 12. Dezember 1995
abgewiesen, weil der Kläger nicht zu dem Kreis der von § 1 LBliGG begünstigten
Personen gehöre. Bei ihm habe es sich um eine vorübergehende
Augenerkrankung gehandelt, die einen Anspruch auf Blindengeld nicht entstehen
lasse.
Gegen dieses am 25. März 1996 zugestellte Urteil hat der Kläger am 24. April
1996 Berufung eingelegt. Unter Bezugnahme auf sein erstinstanzliches Vorbringen
vertritt er die Auffassung; daß er sehr wohl zu dem Kreis der von § 1 LBliGG
begünstigten Personen gehöre. Der vom Verwaltungsgericht angenommene
Ausschluß der Anspruchsberechtigung, weil er nur vorübergehend blind bzw. einem
Blinden 'gleichgestellt gewesen sei, könne nicht nachvollzogen werden.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
das angefochtene Urteil aufzuheben und nach seinem erstinstanzlichen Antrag zu
erkennen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er verweist auf sein erstinstanzliches Vorbringen und die Entscheidungsgründe des
angegriffenen Urteils.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche
Verhandlung einverstanden erklärt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der
Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie auf den Inhalt des
einschlägigen Verwaltungsvorganges der Beklagten (ein Hefter) Bezug
genommen, die Gegenstand der Senatsberatung waren.
Entscheidungsgründe
Die Berufung des Klägers, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten im
schriftlichen Verfahren entscheiden kann, ist überwiegend begründet. Das
Verwaltungsgericht hat die Klage zum größten Teil zu Unrecht abgewiesen, denn
die angefochtenen Bescheide des Beklagten sind teilweise rechtswidrig und
verletzen den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat einen Anspruch darauf, daß
der Beklagte ihm für die Zeit vom 1. Mai 1992 bis zum 28. Februar 1993
Blindengeld nach § 1 Abs. 2 Nr. 1 des Gesetzes über das Landesblindengeld für
Zivilblinde (Landesblindengeldgesetz - LBliGG -) vom 25. Oktober 1977 (GVBl. I S.
414) gewährt. Für den Monat März 1993 steht ihm das begehrte Blindengeld nicht
mehr zu, weil nach erfolgreicher Operation im Februar 1993 die Voraussetzungen
für seine Bewilligung weggefallen sind (vgl. § 5 Abs. 2 LBliGG). Das angefochtene
Urteil ist daher in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfange abzuändern und die
weitergehende Berufung des Klägers zurückzuweisen.
Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts und des Beklagten gehört der
Kläger zu dem Kreis der von § 1 LBliGG begünstigten Personen. Zutreffend ist das
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Kläger zu dem Kreis der von § 1 LBliGG begünstigten Personen. Zutreffend ist das
Verwaltungsgericht bei der Abgrenzung dieses Personenkreises davon
ausgegangen, daß der Gesetzgeber eine Abstufung nach dem Grad der
Sehstörungen vorgenommen hat. Neben den "wesentlich Sehbehinderten" wegen
mangelnder Sehschärfe bzw. krankhafter Veränderungen des Sehvermögens (§ 1
Abs. 3 Nrn. 1 und 2 LBliGG kennt das Gesetz die den Blinden gleichgestellten
Personen mit noch schwächerer Sehschärfe bzw. schwächerem Sehvermögen nr 1
UE 1652/96 - 6 - (§ 1 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 LBliGG sowie die Zivilblinden (Blinde) des
§ 1 Abs. 1 LBliGG, die über keinerlei Sehfähigkeit mehr verfügen. Der Kläger hatte
nach der Bestätigung seines Augenarztes vom 11. Februar 1993 ein
"Sehvermögen beiderseits unter 0,03 in 2 m Entfernung ..., d. h.: in der Tat handelt
es sich um ein Sehvermögen von 0,01." Damit erfüllte er vom Mai 1992 bis zu
seiner Augenoperation im Februar 1993 den Tatbestand des § 1 Abs. 2 Nr. 1LBliGG
Seine Sehschärfe betrug auf beiden Augen nicht mehr als1/50 (= 0,02), so daß er
den Blinden gleichgestellt war. Obwohl der ärztliche Fachberater des Beklagten in
seiner Stellungnahme vom 26. Mai 1993 darauf hinweist, daß die Einstufung der
Sehschärfe des Klägers auf 0,01, durch seinen behandelnden Augenarzt
unverständlich sei, da auch diesem der Entlassungsbrief der Augenklinik, in der der
Kläger operiert worden sei, vom B. Februar 1993vorgelegen habe, kann die
Stellungnahme des Augenarztes des Klägers vom 11. Februar 1993 nicht in
Zweifel gezogen werden. Sie ist im Laufe des Widerspruchsverfahrens auf
entsprechende Anforderung des Beklagten vom 3. Februar 1993 abgegeben
worden, weil der fachärztliche Berater des Beklagten in seiner Stellungnahme
vom23. September 1992 von einem Wert von 0,02 ausgegangen ist, und sie
erläutert nicht den Zustand nach der Operation, sondern die fachärztliche
Bescheinigung des Augenarztes des Klägers vom14. August 1992. Die
Operationsberichte der Augenklinik der Universität Gießen vom B. und 13. Februar
1993 waren dem behandelnden Augenarzt des Klägers bei der Abgabe seiner
erläuternden Stellungnahme vom 11. Februar 1993 offensichtlich noch nicht
bekannt, zumal sie der Kläger erst am 5. Mai 1993 bei dem Beklagten eingereicht
hat.
Der Anspruch des Klägers auf Zahlung des Blindengeldes für die Zeit vom 1. Mai
1992. bis zum 28. Februar 1993 scheitert nicht daran, daß die Sehstörung des
Klägers im Sinne des § 1 Abs. 2 Nr. 1 LBliGG "nur vorübergehend" bestanden hat.
Seit der Operation im Februar 1993 verfügt der Kläger ausweislich des
Arztberichtes der Augenklinik am Klinikum der Justus-Liebig-Universität Gießen
vom B. Februar 1993 am rechten Auge über eine Sehschärfe von 0,3, so daß er
nicht mehr zu dem Kreis der Blindengeldberechtigten gehört. Der Senat läßt es
ausdrücklich offen, ob wegen eines vom Verwaltungsgericht angenommenen
Wertungswiderspruchs im Rahmen des § 1 Abs. 2 LBliGG die Einschränkung in § 1
Abs. 2 Nr. 2 LBliGG, daß es sich bei dem Augenleiden um "nicht nur
vorübergehende" Störungen handeln muß, auch auf die Alternative des § 1 Abs. 2
Nr. 1 LBliGG zu erstrecken ist (vgl. zu diesem Problemkreis etwa BVerfG, Beschluß
vom 7. Mai 1974, BVerfGE 37, 154 ff.), weil sich diese Frage nicht
entscheidungserheblich stellt. Selbst wenn sie zu bejahen wäre, würde der Senat
nämlich für die Antwort auf die Frage, ob die Sehstörung des Klägers "nicht nur
vorübergehender Natur war, § 4 der Eingliederungshilfe-Verordnung vom 1.
Februar 1975 (BGBl. I S. 434), geändert durch Gesetz vom 23. Juli 1996 (BGBl. I S.
1088) heranziehen, wonach "als nicht nur vorübergehend" im Sinne des § 39 Abs.
1 Satz 1 Bundessozialhilfegesetz ein Zeitraum von mehr als 6 Monaten
anzusehen ist. Von diesem Zeitraum ist auch der Beklagte selbst im
Verwaltungsverfahren ausgegangen. Ausweislich des amtlichen Vordrucks des
Beklagten für augenärztliche Bescheinigungen -LWV 01-3-608 (07.85) -, den der
behandelnde Augenarzt des Klägers für seine Stellungnahme vom 14. August
1992 verwandt hat, wird eine "nicht nur vorübergehende Sehbehinderung" unter
Ziffer 8.6 dahingehend definiert, daß "die Dauer der Beeinträchtigung ...
voraussichtlich mehr als 6 Monate betragen" wird. Der Zeitraum, während dessen
die Sehbehinderung des Klägers andauerte, übersteigt diesen Zeitrahmen bei
weitem. Daraus folgt, daß dem Kläger das begehrte Blindengeld für den Zeitraum
vom 1. Mai 1992 bis zum 28. Februar 1993 zusteht, nicht aber mehr für den Monat
März 1993, so daß auf seine Berufung hin das angefochtene Urteil abzuändern
und der Klage entsprechend stattzugeben ist; hinsichtlich des Monats März 1993
ist die Klage abzuweisen und .die hierauf bezügliche Berufung zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf 5 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Danach sind bei
teilweisem Obsiegen und Unterliegen der Beteiligten die Kosten verhältnismäßig
zu teilen. Der Kläger obsiegt hinsichtlich des. für einen Zeitraum von 11 Monaten
begehrten Blindengeldes für einen Zeitraum von 10 Monaten, so daß der Beklagte
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begehrten Blindengeldes für einen Zeitraum von 10 Monaten, so daß der Beklagte
10/11 der Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen zu tragen hat. Er
unterliegt für einen Zeitraum von 1 Monat, so daß er insoweit die Kosten des
Verfahrens in beiden Rechtszügen zu 1/11 zu tragen hat. Hierbei handelt es sich
lediglich um die jeweiligen außergerichtlichen Kosten des Verfahrens, weil
Gerichtskosten in Sozialrechtsfällen nicht erhoben werden (§ 188 Satz 2 VwGO).
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils hinsichtlich der
außergerichtlichen Kosten beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10 und 711
ZPO.
Die gesetzlichen Voraussetzungen für die Zulassung der Revision nach § 132 Abs.
2 Nrn. 1 und 2 VwGO liegen nicht vor.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.