Urteil des HessVGH vom 08.03.1993

VGH Kassel: wiederherstellung der aufschiebenden wirkung, gefahr im verzug, treu und glauben, anhörung, entziehung, aufschiebende wirkung, öffentliches interesse, verfahrensmangel, auflage

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Gericht:
Hessischer
Verwaltungsgerichtshof
2. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
2 TH 135/93
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 46 VwVfG HE, § 46 VwVfG
(Unterlassen einer gebotenen Anhörung in ständiger
Verwaltungspraxis - keine Heilungsmöglichkeit nach VwVfG
HE § 46)
Leitsatz
Unterläßt eine Verwaltungsbehörde in ständiger Verwaltungspraxis eine nach § 28 Abs.
1 HVwVfG gebotene (und auch nicht nach § 28 Abs. 2 und 3 HVwVfG entbehrliche)
Anhörung, ist dieser Verfahrensmangel auch dann nicht nach § 46 HVwVfG
unbeachtlich, wenn keine andere Entscheidung in der Sache hätte getroffen werden
können. In Fällen dieser Art steht der Anwendung des § 46 HVwVfG der Einwand der
unzulässigen Rechtsausübung entgegen.
Gründe
Die Beschwerde hat Erfolg; das Verwaltungsgericht hat den Antrag des
Antragstellers auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung seines
Widerspruchs gegen die Entziehung seiner Fahrerlaubnis zu Unrecht abgelehnt.
Die Anordnung der sofortigen Vollziehung des Bescheides des Oberbürgermeisters
der Stadt Frankfurt am Main vom 02. Juli 1992 liegt nicht im öffentlichen Interesse
im Sinne des § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO. Dieser Bescheid ist offensichtlich
rechtswidrig, weil es die Verkehrsbehörde der Antragsgegnerin unter Verstoß
gegen § 28 Abs. 1 HVwVfG unterlassen hat, den Antragsteller vor der Entziehung
seiner Fahrerlaubnis anzuhören. Die Antragsgegnerin beruft sich zu Unrecht auf
den Ausnahmetatbestand des § 28 Abs. 2 Nr. 1 HVwVfG. Nach dieser Bestimmung
kann von der Anhörung abgesehen werden, wenn eine sofortige Entscheidung
wegen Gefahr im Verzug oder im öffentlichen Interesse notwendig erscheint. Der
Senat hat wiederholt entschieden (vgl. insbesondere den Beschluß vom 28.
Februar 1992 - 2 TH 1962/91 -), daß diese Voraussetzungen nicht schon dann
vorliegen, wenn sich ein Kraftfahrer nach Auffassung der Verkehrsbehörde als
ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erwiesen hat. Dann besteht zwar ein
öffentliches Interesse, diesen Kraftfahrer möglichst schnell von einer weiteren
Teilnahme am öffentlichen Straßenverkehr auszuschließen. Dieses Interesse trägt
in der Regel auch die Anordnung der sofortigen Vollziehung der Entziehung der
Fahrerlaubnis, es rechtfertigt es aber nicht, von der nach rechtsstaatlichen
Grundsätzen gebotenen Anhörung abzusehen (vgl. Kopp, VwVfG, 5. Auflage, RdNr.
34 zu § 28). Denn dem Kraftfahrer muß Gelegenheit gegeben werden, sich zu den
Tatsachen zu äußern, die nach Auffassung der Verkehrsbehörde seine mangelnde
Fahreignung belegen. Dem Beschleunigungsinteresse kann bei der Bemessung
der Äußerungsfrist Rechnung getragen werden. Eine Anwendung des § 28 Abs. 2
Nr. 1 HVwVfG kann allerdings in Betracht kommen, wenn nach den Umständen
des Einzelfalles während des Anhörungsverfahrens von dem betroffenen
Kraftfahrer eine konkrete Gefährdung der Verkehrssicherheit ausgeht. Dafür liegen
im vorliegenden Verfahren keine tatsächlichen Anhaltspunkte vor.
Im übrigen wäre die angefochtene Entziehungsverfügung selbst dann zu
beanstanden, wenn die Voraussetzungen des § 28 Abs. 2 Nr. 1 HVwVfG hier
vorliegen würden. Die Ermächtigung des § 28 Abs. 2 HVwVfG, von der Anhörung
abzusehen, erfordert eine (selbständige) Ermessensentscheidung, die nach
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abzusehen, erfordert eine (selbständige) Ermessensentscheidung, die nach
Maßgabe des § 39 Abs. 1 HVwVfG zu begründen ist (vgl. Kopp, a. a. O., RdNr. 30
zu § 28 mit weiteren Nachweisen). Allein der in der Verfügung der Antragsgegnerin
vom 02. Juli 1992 enthaltene Hinweis auf § 28 Abs. 2 Nr. 1 HVwVfG wird dem
Begründungsgebot nicht gerecht.
Der Mangel der unterlassenen Anhörung ist nicht geheilt worden (§ 45 Abs. 1 Nr. 3
HVwVfG). Der Antragsteller hat sich zwar im Widerspruchsverfahren zu der
Entziehung seiner Fahrerlaubnis geäußert, die erforderliche Anhörung des
Beteiligten ist aber erst dann nachgeholt im Sinne des § 45 Abs. 1 Nr. 3 HVwVfG,
wenn sie in einem Verwaltungsverfahren vorgenommen wird, das geeignet ist, zu
einer Änderung des Verwaltungsaktes zu führen (vgl. Knack, VwVfG, 3. Auflage,
RdNr. 3.3.2 zu § 45). Die Behörde muß sich erkennbar mit dem Vorbringen des
Betroffenen auseinandergesetzt und eine Entscheidung über den Fortbestand des
Verwaltungsaktes getroffen haben (vgl. Stelkens/Bonk/Leonhardt, VwVfG, 3.
Auflage, RdNrn. 42 f. zu § 45). Das ist hier nicht geschehen.
Schließlich ist der Mangel der unterlassenen Anhörung des Antragstellers auch
nicht nach § 46 HVwVfG unbeachtlich. Zwar schließt § 46 HVwVfG grundsätzlich die
auf einen Verfahrensfehler gestützte Aufhebung der Entziehung der Fahrerlaubnis
aus, wenn sich der betroffene Kraftfahrer als ungeeignet zum Führen von
Kraftfahrzeugen erwiesen hat, weil dann keine andere Entscheidung in der Sache
hätte getroffen werden können. Diese Vorschrift ist hier aber nicht anwendbar, weil
die Verkehrsbehörde der Antragsgegnerin - wie dem Senat aus zahlreichen
Verfahren bekannt ist - bei der Entziehung der Fahrerlaubnis in ständiger
Verwaltungspraxis von der Anhörung des betroffenen Kraftfahrers absieht, obwohl
ihr die Nichtanwendbarkeit des § 28 Abs. 2 Nr. 1 HVwVfG bekannt ist. In diesem
Falle ist eine am Gesetzeszweck orientierte einschränkende Interpretation des §
46 HVwVfG geboten. Diese Vorschrift schließt den Anspruch auf Aufhebung eines
belastenden Verwaltungsaktes aus, wenn sich dessen Rechtswidrigkeit nur aus
einem Form- oder Verfahrensmangel ergibt, in der Sache aber keine andere
Entscheidung hätte getroffen werden können. Da in einem solchen Falle der
Betroffene nach der Aufhebung des ihn belastenden Verwaltungsaktes eine
inhaltsgleiche Regelung in der Sache ohne weiteres hinzunehmen hätte, erscheint
die Berufung auf den Form- oder Verfahrensmangel als mißbräuchliche
Rechtsausübung. Unter diesem Aspekt erweist sich § 46 HVwVfG als Ausdruck des
Grundsatzes von Treu und Glauben (vgl. Schenke, NVwZ 88, 1 <13>; Kopp, a.
a. 0., RdNr. 2 zu § 46). Mit diesem Rechtsgrundsatz ist es aber auch nicht
vereinbar, wenn die Verwaltungsbehörde in ständiger Verwaltungspraxis
Verfahrensvorschriften in der Erwartung verletzt, daß der Verstoß wegen der
heilenden Wirkung des § 46 HVwVfG ohne rechtliche Sanktion bleibt. Dann steht
der Anwendung des § 46 HVwVfG der Einwand der unzulässigen Rechtsausübung
entgegen. In diesem Zusammenhang darf nicht unberücksichtigt bleiben, daß § 46
HVwVfG eine wesentliche Entwertung der Verfahrensgarantien bewirkt. Darin liegt
zwar kein Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.
September 1984, BVerwGE 70, 143 <147>), dieser Gesichtspunkt bestätigt
aber die Notwendigkeit einer einschränkenden Interpretation des § 46 HVwVfG.
Da nach allem die Entziehung der Fahrerlaubnis offensichtlich rechtswidrig ist und
die sofortige Vollziehung eines solchen Bescheides nicht im besonderen
öffentlichen Interesse liegen kann, ist die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs
des Antragstellers gegen die Entziehung seiner Fahrerlaubnis wiederherzustellen.
Der Senat hat erwogen, die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung bis zur
Zustellung des Widerspruchsbescheides zu befristen, von dieser Möglichkeit (§ 80
Abs. 5 Satz 5 VwGO) aber deshalb keinen Gebrauch gemacht, weil es zwar mit
einiger Wahrscheinlichkeit, aber nicht sicher zu erwarten ist, daß der Mangel der
unterlassenen Anhörung bis zu diesem Zeitpunkt nach § 45 Abs. 1 Nr. 3 HVwVfG
geheilt sein wird. Gegebenenfalls steht es der Antragsgegnerin frei, eine Änderung
dieses Beschlusses zu beantragen (§ 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO).
Der Vortrag der Antragsgegnerin gibt Veranlassung, in der Sache folgendes
klarzustellen: Der Antragsteller hat nach der nicht bestandenen theoretischen
Prüfung nicht zwei Prüfungstermine, sondern nur einen Prüfungstermin versäumt.
Denn für seine Nichtteilnahme an der Prüfung am 25. Mai 1992 hatte er eine
Entschuldigung abgegeben, die von der TÜH akzeptiert worden ist. Außerdem ist
die Verkehrsbehörde nicht rechtlich gehindert, dem Antragsteller eine weitere
Möglichkeit der Teilnehme an der theoretischen Prüfung einzuräumen. Das
Verwaltungsverfahren auf Entziehung der Fahrerlaubnis endet erst mit der
Zustellung des Widerspruchsbescheides; bis dahin ist die Verkehrsbehörde
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Zustellung des Widerspruchsbescheides; bis dahin ist die Verkehrsbehörde
grundsätzlich zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts ermächtigt.
Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen, weil sie unterlegen
ist (§ 154 Abs. 1 VwGO).
Die Streitwertfestsetzung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 14
Abs. 1 i. V. m. §§ 13 Abs. 1 und 20 Abs. 3 GKG.
Dieser Beschluß ist unanfechtbar (§§ 152 Abs. 2 VwGO, 25 Abs. 2Satz 2 GKG).
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.