Urteil des HessVGH vom 07.11.2002

VGH Kassel: wichtiger grund, ausbildung, architektur, wechsel, universität, ausschluss, unterlassen, erkenntnis, gewissheit, verfassungsrecht

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Gericht:
Hessischer
Verwaltungsgerichtshof
5. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
5 TG 2552/02
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Norm:
§ 7 Abs 3 BAföG
(Fachrichtungswechsel - Eignungsmangel -
Unverzüglichkeit)
Gründe
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts
Frankfurt am Main vom 21. August 2002 ist zulässig, insbesondere fristgerecht
eingelegt und begründet worden. Sie ist auch begründet.
Entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts hat die Antragstellerin die
Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 123 Abs.
1 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO -, einer sogenannten
Sicherheitsanordnung, glaubhaft gemacht. Der erforderliche Anordnungsgrund
ergibt sich bereits daraus, dass ihr Studium gefährdet wäre, wenn sie keine
Ausbildungsförderung erhielte. Die Antragstellerin hat aber auch einen
Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht, nämlich einen Sachverhalt, nach dem
für ihr Studium die hier allein streitigen Voraussetzungen des § 7 Abs. 3
Bundesausbildungsförderungsgesetz - BAföG - vorliegen, so dass ihr
Ausbildungsförderung für das Studium der Sozialarbeit an der Fachhochschule
Frankfurt am Main nach ihrem Wechsel von dem Studium der Architektur an der
Universität Kaiserslautern auf der Grundlage des
Bundesausbildungsförderungsgesetzes zu leisten ist.
Nach § 7 Abs. 3 BAföG wird Ausbildungsförderung für eine andere Ausbildung
geleistet, wenn der Auszubildende die Ausbildung bis zum Beginn des vierten
Fachsemesters aus wichtigem Grund abbricht. Wichtig im Sinne dieser Vorschrift
ist jeder Grund, der einen auch auf wirtschaftlichen Erfolg seiner Berufstätigkeit
zielenden Auszubildenden bei verständiger Würdigung der Bedeutung des Berufs
zu einem Ausbildungswechsel veranlasst. Davon ausgehend nimmt das
Bundesverwaltungsgericht in ständiger Rechtsprechung einen wichtigen Grund
dann an, wenn dem Auszubildenden unter Berücksichtigung aller im Rahmen der
Ausbildungsförderung erheblichen Umstände, die sowohl durch die an Ziel und
Zweck der Ausbildungsförderung orientierten öffentlichen Interessen als auch
durch die Interessen des Auszubildenden bestimmt werden, die Fortsetzung der
bisherigen Ausbildung nicht mehr zumutbar ist. Orientiert an dem Grundsatz des §
1 BAföG, dem Auszubildenden eine seiner Neigung, Eignung und Leistung
entsprechende Ausbildung zu gewährleisten, sind hierbei im Bereich der
Interessen des Auszubildenden Umstände zu berücksichtigen, die an seine
Neigung, Eignung und Leistung anknüpfen. In Betracht kommt deshalb im Rahmen
des zu prüfenden wichtigen Grundes etwa ein ernstzunehmender Neigungswandel
oder aber auch die Erkenntnis eines Eignungsmangels (vgl. BVerwG, Urteil vom 22.
März 1995 - 11 C 18.94 -, Buchholz 436.36 § 7 BAföG Nr. 113 = NVwZ 1995, 1109
m.w.N.).
Hier hat die Antragstellerin glaubhaft gemacht, dass sie das Studium der
Architektur an der Universität Kaiserslautern aufgegeben hat, weil sie erkannte,
dass sie sich den Anforderungen - im wesentlichen den künstlerischen
Anforderungen - nicht gewachsen fühlte. Darin ist ein Eignungsmangel ihrerseits
für dieses Studium zu sehen, der Grundlage für einen "wichtigen Grund" im Sinne
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für dieses Studium zu sehen, der Grundlage für einen "wichtigen Grund" im Sinne
von § 7 Abs. 3 BAföG sein kann.
Allerdings kann ein wichtiger Grund nach der Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts und des Senats nur anerkannt werden, wenn der
Auszubildende, sobald er Gewissheit über den Grund für den Fachrichtungswechsel
erlangt hat, unverzüglich, d. h. ohne schuldhaftes Zögern, die erforderlichen
Konsequenzen zieht. Es wird dem Auszubildenden entsprechend seinem
Ausbildungsstand und Erkenntnisvermögen zugemutet, den Gründen, die einer
Fortsetzung der bisherigen Ausbildung entgegenstehen, rechtzeitig zu begegnen.
Sobald der Auszubildende sich demnach Gewissheit über seine fehlende Neigung
oder Eignung für das bisher gewählte Fach verschafft hat - oder verschaffen
konnte -, muss er deshalb ohne schuldhaftes Zögern die erforderlichen
Konsequenzen ziehen und die bisherige Ausbildung beenden. Ob der
Auszubildende seiner Verpflichtung zu unverzüglichem Handeln entsprochen hat,
beurteilt sich dabei nicht allein nach objektiven Umständen. Es ist vielmehr auch in
subjektiver Hinsicht zu prüfen, ob ein etwaiges Unterlassen notwendiger
Maßnahmen dem Auszubildenden vorwerfbar ist und ihn damit ein Verschulden
trifft oder ob ein solches Unterlassen durch ausbildungsbezogene Umstände
gerechtfertigt ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 21. Juni 1990 - 5 C 45.87 -, BVerwGE 85,
194 m.w.N.). Daraus, dass der Bundesgesetzgeber in § 7 Abs. 3 BAföG die
Entscheidung darüber, ob der Auszubildende nach einem Studienabbruch oder
einem Fachrichtungswechsel Ausbildungsförderung für eine andere Ausbildung
erhält, ohne gesetzliche Zwischenlösungen nach dem "Alles-oder-Nichts"-Prinzip
ausgestaltet hat, hat das Bundesverfassungsgericht die Folgerung gezogen, dass
in die Abwägungsprüfung im Rahmen des unbestimmten Rechtsbegriffs des
"wichtigen Grundes" weitergehende Differenzierungen aufgenommen werden
müssen, um den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsprinzips und des
Gleichheitssatzes zu genügen. Als unverhältnismäßig und daher mit Art. 3 Abs. 1
GG nicht vereinbar hat das Bundesverfassungsgericht die Verneinung eines
wichtigen Grundes und damit den Ausschluss des Auszubildenden von jeglicher
weiteren Förderung angesehen, wenn der Auszubildende bei einem
Neigungswandel seine Ausbildung nach dem ersten Semester nicht sofort
abbricht, sondern den Abbruch um einige Monate (im entschiedenen Fall um ein
volles Studiensemester) verzögert, um abzuwarten, ob er eine Zulassung zu der in
von ihm gewünschten anderen Ausbildung erhält. Der Unterschied zwischen Fällen
dieser Art und Fällen, in denen der Auszubildende nach Erkenntnis des
Neigungswandels die Ausbildung bereits nach dem ersten Semester sofort
abbreche, sei nicht von solcher Art und solchem Gewicht, dass er eine
Ungleichbehandlung mit derart schweren Auswirkungen - d. h.
Förderungsanspruch für die Zukunft in dem einen Fall, vollständiger Verlust der
Förderung im anderen Fall - zu rechtfertigen vermöge. Ausdrücklich offengelassen
hat dagegen das Bundesverfassungsgericht, ob ohne Verstoß gegen
Verfassungsrecht ein wichtiger Grund in Fällen verneint werden könne, in denen
der Auszubildende erst in höheren Semestern einen entsprechenden
Neigungswandel erkenne und erst nach einer längeren Überlegungsfrist einen
Fachrichtungswechsel vornehme (BVerfG, Beschluss vom 3. Juni 1985 - 1 BvR
1428/82 -, BVerfGE 70, 230). Bei der Abwägung zwischen der Schwere der
Sanktion und dem Gewicht des sanktionsauslösenden Pflichtenverstoßes ist
ausschlaggebend zu berücksichtigen, dass in der Eingangsphase eines Studiums
bei Anwendung des § 7 Abs. 3 BAföG geringere Anforderungen an das Gewicht der
im Bereich der Interessen des Auszubildenden liegenden Umstände zu stellen sind
als etwa in späteren Phasen der Ausbildung (BVerwG, Urteil vom 21. Juni 1990,
a.a.O., m.w.N.).
Die Antragstellerin hat im Rahmen des Verwaltungsverfahrens sowie des
einstweiligen Rechtsschutzverfahrens glaubhaft dargelegt, dass sie im Laufe des
ersten Fachsemesters im Studienfach Architektur an der Universität
Kaiserslautern bereits Probleme mit den dort angebotenen und von ihr besuchten
Lehrveranstaltungen mit überwiegend künstlerischem Inhalt gehabt hat. Trotz
dieser Probleme hat sie sich allerdings zum zweiten Fachsemester im Studium
Architektur zurückgemeldet und sich erst im Laufe dieses zweiten Fachsemesters
exmatrikuliert. Entgegen der Ansicht des Antragsgegners sowie des
Verwaltungsgerichts ist ein wichtiger Grund für ihren aufgrund der erkannten
fehlenden Eignung für das Studium der Architektur sodann vorgenommenen
Wechsel zum Fach Sozialarbeit anzunehmen. Die Antragstellerin hat dazu im
Widerspruchsverfahren vorgetragen, dass sie ihre Probleme im ersten
Fachsemester zunächst für Anfängerschwierigkeiten gehalten habe und dies dem
Wechsel von der Schule zum Studium an die Universität zugerechnet habe. Sie sei
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Wechsel von der Schule zum Studium an die Universität zugerechnet habe. Sie sei
deshalb zu diesem Zeitpunkt auch noch entschlossen gewesen, das Studium
fortzuführen. Im zweiten Semester hätten sich allerdings die Probleme mit dem
Architekturstudium zugespitzt und sie habe feststellen müssen, dass dies nun
keine Anfängerschwierigkeiten mehr sein konnten. Nach einer Berufsberatung
beim Arbeitsamt Kaiserslautern habe sie sich daraufhin exmatrikuliert. Dieser
Vortrag erscheint dem Senat glaubhaft. Betrachtet man den Wechsel eines
Abiturienten direkt nach dem Abitur von der Schule in ein Hochschulstudium, so
sind Anfangsschwierigkeiten bei der Gestaltung des Studiums nichts
Ungewöhnliches. Es ist deshalb für den Studierenden gerade in der Anfangs- und
Orientierungsphase des Studiums nicht einfach, zwischen derartigen
Anfangsschwierigkeiten und ersten Anzeichen für einen Eignungsmangel zu
unterscheiden. Gerade deshalb ist es angemessen und erforderlich, im Rahmen
der Orientierungsphase des Studiums die Anforderungen an die Unverzüglichkeit
des Fachrichtungswechsels sowie an das Erkennenmüssen des Eignungsmangels
geringer anzusetzen, als in höheren Studiensemestern. Damit wird auch den
Erwägungen des Bundesverfassungsgerichts in seiner oben genannten
Entscheidung Rechnung getragen und vermieden, dass es zu Versagungen von
Ausbildungsförderung kommt, die mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht
zu vereinbaren sind. Der vollständige Ausschluss der Antragstellerin von weiterer
Ausbildungsförderung für ihr Studium der Sozialarbeit allein deshalb, weil sie noch
im zweiten Fachsemester ihr Studium der Architektur für einige Monate fortgesetzt
hat, wäre unter diesem Gesichtspunkt unverhältnismäßig.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO sowie auf § 188 Satz 2
VwGO.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.