Urteil des HessVGH vom 14.07.1988

VGH Kassel: tagesordnung, initiative, behandlung, beratung, lagerung, transport, produktion, fraktion, auflage, parteiwechsel

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Gericht:
Hessischer
Verwaltungsgerichtshof
6. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
6 UE 296/85
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 8b Abs 1 GemO HE, § 8b
Abs 2 GemO HE
(Zur Bestimmtheit eines Bürgerbegehrens - Behandlung
eines Bürgerbegehrens zu Abrüstungsfragen)
Tatbestand
Die Parteien streiten um die Behandlung eines Bürgerbegehrens gemäß § 8 b der
Hessischen Gemeindeordnung (HGO), das die "Initiative atomwaffenfreies
Schlangenbad", zum Teil auch als "Friedensinitiative Schlangenbad" bezeichnet (im
folgenden abgekürzt: Initiative), im September 1983 organisierte und dem
Gemeindevorstand der Beklagten mit Schreiben vom 15.11.1983 überreichte. Das
Bürgerbegehren enthielt den Antrag, die Gemeindevertretung der Gemeinde
Schlangenbad möge beschließen, im Rahmen ihrer kommunalen Zuständigkeit
Maßnahmen zu verhindern, die der Produktion, dem Transport, der Vorbereitung
der Stationierung oder der Lagerung von atomaren, biologischen oder chemischen
Waffen im bzw. durch das Gebiet der Gemeinde Schlangenbad dienen.
Der Antrag war ausführlich begründet. Als Vertrauenspersonen waren die beiden
Kläger sowie ein dritter Schlangenbader Bürger benannt. Insgesamt waren dem
Bürgerbegehren 887 Unterschriften beigefügt, von denen nach Feststellung des
Gemeindevorstandes jedenfalls 837 als gültig anzusehen waren. Zum Zeitpunkt
der vorangegangenen Gemeindewahl waren in der Gemeinde nach amtlichen
Berechnungen insgesamt 4005 Bürger wahlberechtigt.
Der Gemeindevorstand der Beklagten leitete das Bürgerbegehren an den
Vorsitzenden der Gemeindevertretung weiter, wobei er zugleich auf die rechtlichen
Bedenken im Hinblick auf die Zuständigkeit der Gemeinde hinwies. Der
Vorsitzende der Gemeindevertretung nahm das Bürgerbegehren als
Tagesordnungspunkt 11 in die Tagesordnung der Sitzung der Gemeindevertretung
vom 1.2.1984 auf. Die Niederschrift über diese Sitzung hält zu
Tagesordnungspunkt 11 folgendes fest:
"Vorsitzender L. verliest das Schreiben des Gemeindevorstandes vom
24.1.1984 zum Antrag der Friedensinitiative auf ein Bürgerbegehren (Punkt 11)
(Anlage 1). Hierauf stellt GV C. den folgenden Antrag zur Geschäftsordnung: 'Die
Gemeindevertretung Schlangenbad erklärt den Tagesordnungspunkt 11 für
rechtswidrig und daher für unzulässig; er wird von der Tagesordnung gestrichen'. Er
begründet dies ausführlich unter Hinweis auf die Unzuständigkeit der Gemeinde
(Anlage 2).
GV O. dankt zunächst in seiner Gegenrede zum Geschäftsordnungsantrag für
die Aufnahme dieses Tagesordnungspunktes in die Tagesordnung und bittet, diese
Angelegenheit auf der Tagesordnung zu belassen und darüber zu diskutieren
(Anlage 3). Vorsitzender L. läßt über den CDU-Antrag abstimmen:
17 Ja-Stimmen
13 Nein-Stimmen
Damit wird Tagesordnungspunkt 11 von der Tagesordnung gestrichen".
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Der Gemeindevorstand der Beklagten teilte der Initiative mit Schreiben vom
2.3.1984 das Ergebnis der Gemeindevertretungssitzung mit. Die Initiative hat
daraufhin am 2.4.1984 Klage erhoben und diese wie folgt begründet:
Die Gemeindevertretung der Beklagten sei nicht berechtigt gewesen, das
Bürgerbegehren von der Tagesordnung der Sitzung vom 1.2.1984 zu streichen. Mit
diesem Beschluß habe die Gemeindevertretung die Rechte der Initiative aus § 8 b
HGO verletzt. Ihre Klagebefugnis ergebe sich aus der ihr unter den
Voraussetzungen des § 8 b HGO erwachsenen "kommunal-verfassungsrechtlichen
Organstellung". In der Sache selbst habe sie einen Rechtsanspruch gegen die
Gemeindevertretung auf Beratung und Entscheidung des Bürgerbegehrens. Die
Beratungs- und Entscheidungszuständigkeit der Gemeindevertretung beruhe auf §
9 Abs. 1 HGO. Das Bürgerbegehren erfülle alle in § 8 b Abs. 2 HGO festgelegten
rechtlichen Anforderungen. Das Bürgerbegehren habe schließlich auch eine
bestimmte Angelegenheit der Gemeinde zum Gegenstand, wie es § 8 b Abs. 1
HGO verlange. Denn das Bürgerbegehren beziehe sich seinem ausdrücklichen
Wortlaut nach auf den örtlichen Wirkungskreis der Gemeinde Schlangenbad und
entspreche damit in rechtlicher Hinsicht denjenigen Kriterien, die das
Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 30.7.1958 (BVerfGE 8, 122
ff, 135) in Fällen der hier vorliegenden Art für die Annahme der kommunalen
Beratungszuständigkeit gefordert habe.
Die Gemeindevertretung der Beklagten sei gemäß § 8 b Abs. 3 HGO verpflichtet,
das Bürgerbegehren innerhalb von sechs Monaten nach Eingang bei dem
Gemeindevorstand zu beraten und binnen weiterer sechs Monate zu entscheiden.
Hierauf beruhe der Hilfsantrag.
Die Initiative hat beantragt,
festzustellen, daß die Gemeindevertretung verpflichtet gewesen ist, das
dem Gemeindevorstand der Gemeinde Schlangenbad mit Begleitschreiben vom
gleichen Tage, seinem Inhalt und seiner Begründung nach aus Anlage 1
ersichtliche Bürgerbegehren vom 15.11.1983 in ihrer Sitzung vom 1.2.1984,
hilfsweise:
in der Zeit zwischen dem 1.2.1984 und dem 17.11.1984 in einer ihrer
Sitzungen, zu beraten und zu entscheiden.
Die in erster Instanz beklagte Gemeindevertretung hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hat die Ansicht vertreten, das mit dem vorliegenden Bürgerbegehren verfolgte
Anliegen überschreite die Grenzen der kommunalen Selbstverwaltung und sei
deshalb unzulässig. Bereits der Wortlaut des § 8 b Abs. 1 HGO zeige deutlich, daß
Gegenstand eines Bürgerbegehrens nur eine gemeindliche Angelegenheit sein
könne. Allgemeine Grundsätze führten zu demselben Ergebnis. Die
Gemeindevertretung als Organ der Gemeinde könne nur dann eine Angelegenheit
beraten, wenn die Gemeinde hierfür die Verbandskompetenz besitze. Dies sei nur
der Fall für Angelegenheiten, die dem örtlichen Wirkungskreis unterfielen. Eine
Zuständigkeit der Gemeinde für die mit dem Bürgerbegehren aufgeworfenen
Fragen bestehe nicht. Gemäß Art. 73 Ziff. 1 GG habe der Bund die ausschließliche
Gesetzgebungskompetenz für die auswärtigen Angelegenheiten sowie für die
Verteidigung einschließlich des Schutzes der Zivilbevölkerung. Die Frage atomarer
Bewaffnung sei eindeutig eine Frage der Verteidigung. Die Gemeinde sei hierfür
unter keinerlei Gesichtspunkten zuständig. Die Frage der Ausstattung von Truppen
mit bestimmten Waffensystemen sei eine verteidigungspolitische Angelegenheit,
die der Dislozierung von Truppeneinheiten und Waffen sei Teil der militärischen
Planung; für beide sei im Verhältnis der deutschen Träger öffentlicher Verwaltung
zueinander ausschließlich der Bund zuständig. Den Gemeinden stünde weder eine
"totale Gebietshoheit" noch ein allgemeinpolitisches Mandat zu. Mangels
Zuständigkeit der Gemeinde sei das Bürgerbegehren folglich unzulässig und die
Klage unbegründet. Die Klage sei aber auch deshalb unbegründet, weil der
Initiative kein Recht darauf zustehe, daß die Gemeindevertretung das in dem
Bürgerbegehren enthaltene Thema inhaltlich berate. Der auf ein Bürgerbegehren
gestützte Antrag sei nicht anders zu behandeln als der Antrag eines
Gemeindevertreters. Es reiche deshalb aus, den Antrag auf die Tagesordnung zu
setzen, ohne daß die Gemeindevertretung zu einer inhaltlichen Beratung
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setzen, ohne daß die Gemeindevertretung zu einer inhaltlichen Beratung
verpflichtet sei. Vielmehr könne der entsprechende Tagesordnungspunkt jederzeit
durch Mehrheitsbeschluß - wie es vorliegend geschehen sei - wieder von der
Tagesordnung gestrichen werden. Damit sei den Anforderungen des § 8 b HGO
Genüge getan. Das Bürgerbegehren sei insgesamt ordnungsgemäß behandelt
und beraten worden.
Durch Urteil vom 19.12.1984 hat das Verwaltungsgericht Wiesbaden die Klage
abgewiesen. Zur Begründung hat das Gericht ausgeführt:
In dem hier vorliegenden kommunalen Verfassungsstreit sei die Feststellungsklage
zulässig. Die Klage sei jedoch unbegründet, weil die Behandlung des
Bürgerbegehrens durch die Gemeindevertretung der Gemeinde Schlangenbad
rechtmäßig gewesen sei. Zwar seien die zuständigen Gemeindeorgane nach § 8 b
Abs. 3 HGO verpflichtet, über den Antrag des Bürgerbegehrens binnen sechs
Monaten nach Eingang beim Gemeindevorstand zu beraten und binnen weiterer
sechs Monate zu entscheiden. Daraus lasse sich aber keine Verpflichtung der
Gemeindevertretung herleiten, über ein Bürgerbegehren stets in der Sache zu
beraten. Die notwendige Entscheidung sei vielmehr auch dann ergangen, wenn sie
durch einen Antrag zur Geschäftsordnung herbeigeführt worden sei. Für den
Antrag eines Bürgerbegehrens könne insoweit nichts anderes gelten als für einen
Antrag eines einzelnen Gemeindevertreters oder einer Fraktion. Mit der Einführung
des Bürgerbegehrens habe der Gesetzgeber nicht etwa den Grundsatz der
mittelbaren Demokratie auflockern wollen. Das Gemeindeparlament behalte auch
bei einem Antrag wie dem vorliegenden die volle Entscheidungsbefugnis und habe
deshalb die Möglichkeit, sich mit der Sache nicht zu befassen, den Antrag
abzulehnen oder ihm zu entsprechen. Mit der Wahl jeder dieser drei Möglichkeiten
erfülle das Gemeindeparlament die ihm in § 8 b Abs. 3 HGO auferlegte
Rechtspflicht. Die Entscheidung der Gemeindevertretung, die mit ihrer Mehrheit
eine Sachdebatte abgelehnt habe, sei also rechtmäßig, ohne daß es noch auf die
umstrittene Frage ankomme, ob sich Gemeinden mit verteidigungspolitischen
Fragen, wie sie im Antrag des Bürgerbegehrens angesprochen seien, überhaupt
befassen dürften.
Gegen das ihr am 21.1.1985 zugestellte Urteil hat die Initiative am 18.2.1985
Berufung eingelegt. In der mündlichen Verhandlung vor dem Senat am 14.7. 1988
ist die Initiative als Klägerin aus dem Verfahren ausgeschieden. An ihrer Stelle sind
die jetzigen Kläger in den Prozeß eingetreten. Außerdem ist die Klage gegen die
Gemeinde Schlangenbad, vertreten durch den Gemeindevorstand, gerichtet
worden. Der Prozeßbevollmächtigte der Beklagten hat dem Parteiwechsel auf der
Kläger- und Beklagtenseite namens der bisherigen und der von ihm ebenfalls
vertretenen neuen Beklagten zugestimmt.
Die Kläger begründen die Berufung wie folgt:
Das angefochtene Urteil verletze ihre Rechte aus § 8 b HGO. Die Auffassung des
Verwaltungsgerichts, wonach die Gemeindevertretung der Beklagten die ihr
gemäß § 8 b HGO obliegenden Rechtspflichten bereits dadurch erfüllt habe, daß
sie die Beratung und Entscheidung des Bürgerbegehrens auf einen
Geschäftsordnungsantrag hin abgelehnt habe, gehe rechtlich fehl. Die Parallele,
die das Gericht zu entsprechenden Anträgen einzelner Gemeindevertreter oder
Fraktionen gezogen habe, stütze das Ergebnis der verwaltungsgerichtlichen
Überlegungen nicht. Denn auch solche Anträge müßten, wenn sie der
kommunalen Beratungszuständigkeit unterfielen, in der Sache beraten und
entschieden werden. Die vom Verwaltungsgericht vertretene Rechtsauffassung
führe im Ergebnis dazu, daß die Mehrheit einer Gemeindevertretung die
Möglichkeit habe, der Minderheit gegenüber jede parlamentarische Sachdebatte
zu verweigern.
Im übrigen, insbesondere hinsichtlich der Frage, ob das Bürgerbegehren eine
Gemeindeangelegenheit betrifft, verweisen die Kläger auf das Vorbringen in erster
Instanz.
Die Kläger beantragen,
das Urteil des Verwaltungsgerichts Wiesbaden vom 19.12. 1984
abzuändern und die Gemeindevertretung der Beklagten unter entsprechender
Aufhebung ihres Beschlusses vom 1.2.1984 zu verurteilen, über das
Bürgerbegehren vom 15.11.1983 zu beraten und zu entscheiden.
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Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigt unter Hinweis auf die Entstehungsgeschichte des § 8 b HGO und in
Auseinandersetzung mit dem Wortlaut der Vorschrift die auch von dem
Verwaltungsgericht vertretene Auffassung, derzufolge die Gemeindevertretung
aus § 8 b HGO keine Pflicht treffe, den mit dem Bürgerbegehren verbundenen
Antrag auch sachlich zu beraten. Auch aus den Grundsätzen der repräsentativen
Demokratie und des sogenannten freien Mandats des Abgeordneten (vgl. § 35
Abs. 1 HGO) ergebe sich die Befugnis einer Gemeindevertretung, sich mit dem
Gegenstand eines Bürgerbegehrens nicht zu befassen. Diese Befugnis sei in
bezug auf sonstige Anträge eines einzelnen Gemeindevertreters oder einer
Fraktion völlig unbestritten, müsse aber auch für Anträge gemäß § 8 b HGO
gelten. Selbst wenn den Klägern jedoch ein Anspruch auf inhaltliche Beratung des
Bürgerbegehrens dem Grunde nach zustünde, könne die Berufung keinen Erfolg
haben, weil es im vorliegenden Fall an der notwendigen Zuständigkeit der
Beklagten fehle. Die in dem Bürgerbegehren angesprochenen Fragen stellten, wie
bereits in erster Instanz eingehend begründet, keine "bestimmte Angelegenheit
der Gemeinde" im Sinne des § 8 b Abs. 1 HGO dar.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der
gewechselten Schriftsätze, die erstinstanzliche Entscheidung und die
einschlägigen Verwaltungsvorgänge der Beklagten (1 Hefter) verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die Berufung ist zulässig; sie ist insbesondere statthaft sowie form- und
fristgerecht eingelegt (§ 124 VwGO). Die Berufung ist jedoch unbegründet, weil die
Klage nach dem Parteiwechsel auf der Kläger- und Beklagtenseite zwar zulässig,
aber unbegründet ist.
Der Parteiwechsel ist auch in der Rechtsmittelinstanz zulässig, wenn - wie im
vorliegenden Fall - alle Beteiligten einwilligen (§ 125 Abs. 1 i.V.m. § 91 Abs. 1
Verwaltungsgerichtsordnung VwGO) -). Der Senat sieht den Parteiwechsel insoweit
mit der ganz überwiegenden Meinung in Schrifttum und Rechtsprechung als eine
Form der Klageänderung an (vgl. dazu Kopp, VwGO, 7. Auflage, RdNrn. 2, 7, 16 zu
§ 91; Eyermann/Fröhler, VwGO, 9. Auflage, RdNrn. 1 und 9 zu § 91; Redeker/von
Oertzen, VwGO, 8. Auflage, RdNr. 5 zu § 91, jeweils m.w.N.). Die Klage ist damit als
allgemeine Leistungsklage zulässig. Sie ist zutreffend gegen die Beklagte als
diejenige Körperschaft gerichtet, der das von den Klägern begehrte Handeln der
Gemeindevertretung zuzurechnen ist. Die Gemeindevertretung selbst ist als ein
nicht rechtsfähiges Gemeindeorgan (vgl. § 9 Abs. 1 HGO) im Außenverhältnis
grundsätzlich nicht beteiligungsfähig (§ 61 VwGO). Rechtsstreitigkeiten mit den
Unterzeichnern eines Bürgerbegehrens nach § 8 b HGO betreffen aber den
Außenrechtskreis der Gemeinde; ein (kommunalverfassungsrechtlicher)
Organstreit scheidet insoweit aus (wie hier VGH Mannheim, Urteil vom 8.2.1988 - 1
S 1919/87 -, DÖV 1988, S. 476; ebenso wohl Schlempp, Kommentar zur
Hessischen Gemeindeordnung, Erl. VIII zu § 8 b; a.A., aber ohne Begründung H.
Meyer, in: Meyer/Stolleis, Hess. Staats- und Verwaltungsrecht, 2. Auflage, S. 153).
Die Klage ist jedoch unbegründet, weil die Gemeindevertretung der Beklagten
nicht verpflichtet ist, über das mit Schreiben vom 15.11.1983 an den
Gemeindevorstand vorgelegte Bürgerbegehren in der Sache zu beraten und zu
entscheiden.
Die durch einen Geschäftsordnungsantrag herbeigeführte Zurückweisung des
Bürgerbegehrens rechtfertigt sich allerdings nicht durch die von dem
Verwaltungsgericht Wiesbaden in den Mittelpunkt seiner Urteilsbegründung
gerückte Überlegung, wonach die Gemeindevertretung auch bei Vorliegen aller in §
8 b HGO aufgestellten Voraussetzungen "keine Verpflichtung" treffe, "über ein
Bürgerbegehren stets in der Sache zu beraten". Vielmehr müsse es der
Gemeindevertretung unbenommen bleiben, sich mit der Sache nicht zu befassen.
Eine Entscheidung im Sinne des § 8 b Abs. 1 HGO sei auch dann ergangen, wenn
sie durch einen Antrag zur Geschäftsordnung herbeigeführt worden sei.
Diese Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts ist unrichtig. Sie verkennt den
direkt-demokratischen Gehalt der 1976 in das Gemeinderecht aufgenommenen
Rechtsinstitute der Bürgerversammlung und des Bürgerbegehrens (§§ 8 a, 8 b
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Rechtsinstitute der Bürgerversammlung und des Bürgerbegehrens (§§ 8 a, 8 b
HGO). Diese sollen - wie vergleichbare Rechtsinstitute in anderen Bundesländern -
einer möglichen Entfremdung zwischen den Organen der kommunalen
Selbstverwaltung und den Bürgern entgegenwirken, indem sie jedenfalls in engen
Grenzen eine unmittelbare Beteiligung des Bürgers an den
Gemeindeangelegenheiten auch über den Wahltag hinaus ermöglichen (vgl. dazu
auch Schlempp, a.a.O., Erl. I zu § 8 b; Schneider/Jordan, Hessische
Gemeindeordnung, Stand: November 1987, Erl. 1 zu §§ 8 a, 8 b). Der Grundsatz
der repräsentativen Demokratie wird dadurch nicht in Frage gestellt, wie das
Verwaltungsgericht bei einer solchen Auslegung des § 8 b HGO anzunehmen
scheint, sondern lediglich durch ein Element direkter Demokratie ergänzt. Die
Entscheidungsgewalt verbleibt letztlich ungeschmälert bei den gewählten
Gemeindevertretern, auch wenn diese über den Gegenstand eines
Bürgerbegehrens in eine Sachdebatte eintreten müssen. Die Antragsteller eines
Bürgerbegehrens können die Gemeindevertretung nur zur ernsthaften Beratung
und sachlichen Entscheidung über das von ihnen verfolgte Begehren veranlassen.
Ein weitergehender Einfluß auf die Entscheidung der Gemeindevertretung ist ihnen
vom Gesetzgeber nicht zugebilligt (ebenso zum rheinland-pfälzischen
Kommunalrecht OVG Koblenz, Beschluß vom 6.4.1987 - 7 B 16/87 -, NVwZ 1988,
S. 468).
Auch der Hinweis auf die Behandlung vergleichbarer Anträge eines einzelnen
Gemeindevertreters oder einer (Minderheits-) Fraktion stellt das gefundene
Ergebnis nicht in Frage. Selbst wenn man mit einer verbreiteten Ansicht in
Schrifttum und Rechtsprechung (vgl. OVG Lüneburg, Urteil vom 14.2.1984 - 5 A
217/83 -, HSGZ 1986, S. 353; OVG Münster, Urteil vom 16.12. 1983 - 15 A
2027/83 -, DVBl. 1984, S. 155 (157); Schneider/Jordan, a.a.O., Erl. 7 zu § 56;
Schlempp, a.a.O., Erl. III zu § 56 unter Hinweis auf VGH Kassel, Beschluß vom
30.10.1986 - 2 TG 2890/86 -) davon ausgeht, daß weder einzelne
Gemeindevertreter noch eine Fraktion einen Anspruch auf eine inhaltliche
(materielle) Behandlung der von ihnen - etwa nach § 56 Abs. 1 Satz 2 HGO - auf
die Tagesordnung der Gemeindevertretung gebrachten Angelegenheiten haben,
so verbietet sich doch eine Übernahme dieser Grundsätze auf die
ordnungsgemäße Antragstellung im Rahmen eines Bürgerbegehrens nach § 8 b
HGO. Die Durchführung eines Bürgerbegehrens ist mit erheblichem
organisatorischen Aufwand verbunden. Das Unterschriftenquorum von mindestens
20 % (in Großstädten mindestens 10 %) der wahlberechtigten Einwohner tut ein
übriges, um mißbräuchliche oder nur von unbedeutenden Minderheiten in der
Bürgerschaft formulierte Fragestellungen von vornherein auszuschließen. Wäre die
Gemeindevertretung befugt, jedes Bürgerbegehren ohne inhaltliche Behandlung
einfach "zu den Akten zu legen", so verlöre dieses direkt-demokratische Element
des gemeindlichen Verfassungslebens seinen Sinn und verkäme zu einer Farce
(kritisch zu Recht auch Meyer, in Meyer/Stolleis a.a.O., S. 153 Fußnote 75).
Ein Anspruch der Unterzeichner eines Bürgerbegehrens auf eine inhaltliche
(materielle) Behandlung und Entscheidung ergibt sich jedoch nur, wenn neben den
hier unstreitig vorliegenden formellen Voraussetzungen des § 8 b Abs. 2 HGO auch
die materielle Voraussetzung des § 8 b Abs. 1 HGO erfüllt ist, derzufolge das
Bürgerbegehren eine "bestimmte Angelegenheit der Gemeinde" betreffen muß
(vgl. § 8 b Abs. 3 Satz 1 1. Halbs. HGO). Daran fehlt es hier.
Es kann dahingestellt bleiben, ob Beschlüsse, die darauf abzielen, das
Gemeindegebiet zu einer sogenannten atomwaffenfreien Zone zu erklären oder
jedenfalls die Produktion, die Lagerung und Stationierung sowie den Transport von
Atomwaffen von dem Gemeindegebiet fernzuhalten, noch als Angelegenheit der
Gemeinde anzusehen sind und damit von der gemeindlichen Verbandskompetenz
umfaßt werden (vgl. zu diesem Problem aus dem umfangreichen Schrifttum und
der Rechtsprechung VGH Mannheim, Urteil vom 29.5.1984 - 1 S 474/84 -, DVBl.
1984, S. 729 ff und Urteil vom 8.2.1988 - 1 S 1919/87 -, DÖV 1988, S. 476; OVG
Münster, Urteil vom 16.12.1983 - 15 A 2027/83 -, DVBl. 1984, S. 155 = DÖV 1984,
S. 300 = NVwZ 1984, S. 325; OVG Lüneburg, Urteil vom 14.2.1984 - 5 OVG A
212/83 -, DVBl. 1984, S. 734; OVG Koblenz, Urteil vom 19.5.1987 - 7 A 71/85 -,
NVwZ 1988, S. 466; VG Kassel, Beschluß vom 22.3.1982 - III/1 G 963/82 -, NVwZ
1982, S. 700; VG Frankfurt, Beschluß vom 2.6. 1982 - VII/1 G 2764/82 -, NVwZ
1983, S. 373; J. Hofmann, DVBl. 1984, S. 116 ff; Graf Vitzthum, Juristische
Arbeitsblätter 1983, S. 557 ff; M. Borchmann, Hessische Städte- und
Gemeindezeitung 1984, S. 150 ff; Schmitt-Kammler, DÖV 1983, S. 869 ff; B.
Huber, NVwZ 1982, S. 662 ff; Uechtritz, NVwZ 1983, S. 334 f; Pentzki, ZRP 1983,
S. 161; Schoch, Jura 1984, S. 550).
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Diese allgemeine Zuständigkeitsproblematik kann im vorliegenden Fall
offenbleiben, weil das in der Gemeinde Schlangenbad durchgeführte und auch von
den Klägern unterzeichnete Bürgerbegehren nicht, wie es § 8 b Abs. 1 HGO
ausdrücklich verlangt, eine "bestimmte" Angelegenheit der Gemeinde betrifft. Es
bezieht sich vielmehr allgemein auf eine unbestimmte Vielzahl zukünftiger
Gelegenheiten, bei denen die Beklagte - im Rahmen ihrer Zuständigkeit -
Maßnahmen verhindern soll, die der Produktion, dem Transport, der Vorbereitung
der Stationierung oder der Lagerung von atomaren, biologischen oder chemischen
Waffen im bzw. durch das Gemeindegebiet dienen. Eine Eingrenzung oder
Konkretisierung auf eine bestimmte Gemeindeangelegenheit findet nicht statt. Sie
ist auch nicht möglich, weil in tatsächlicher Hinsicht bis zum gegenwärtigen
Zeitpunkt keinerlei Anhaltspunkte ersichtlich sind, die ein Tätigwerden der
Beklagten im Rahmen ihrer Zuständigkeit rechtfertigen könnten. Weder sind auf
dem Gemeindegebiet bauliche Maßnahmen geplant oder bereits durchgeführt, die
mit der Produktion, der Stationierung oder der Lagerung atomarer, biologischer
oder chemischer Waffen in Verbindung stehen, noch ist ein die Gesundheit der
Gemeindeeinwohner bedrohender Transport solcher Waffen gerade durch die
Gemeinde Schlangenbad vorgesehen.
Die fehlende Bestimmtheit des Bürgerbegehrens wird auch deutlich, wenn man die
unmittelbar auf den eigentlichen Beschlußantrag folgende Begründung der
Antragsteller in die Betrachtung einbezieht. Hier werden die "ungeheuren Gefahren
durch weltweite Spannungen" beschworen und die allgemeine Pflicht der
Gemeindeorgane postuliert, "sich über die möglichen Auswirkungen von
Verteidigungsmaßnahmen auf ihre Mitbürger Gedanken zu machen" und
"angesichts der Zerstörungen in unseren Städten und Gemeinden im zweiten
Weltkrieg auf die Gefahren des Hoch- und Wettrüstens hinzuweisen". Weiter wird
auf die große Zahl von Massenvernichtungswaffen in Mitteleuropa als der am
dichtesten besiedelten Weltregion, auf die gemeinsame Aufgabe der
Friedenssicherung und schließlich auf die generell nicht auszuschließende
Unfallgefahr im Zusammenhang mit der Lagerung und dem Transport von
Massenvernichtungsmitteln auf bzw. durch das Gemeindegebiet aufmerksam
gemacht. Ein konkreter Sachverhalt, der ein Handeln oder jedenfalls eine
Stellungnahme der Beklagten erforderlich machen könnte, wird dagegen nicht
genannt. Von einer bestimmten Angelegenheit der Gemeinde Schlangenbad ist in
der Begründung an keiner Stelle die Rede.
Die sogenannten "Ergänzungen zur Begründung des Antrages der
Friedensinitiative Schlangenbad" bestätigen den Senat in seiner Auffassung, daß
die in § 8 b Abs. 1 HGO verlangte Konkretisierung des Bürgerbegehrens auf eine
bestimmte Gemeindeangelegenheit hier nicht gegeben ist. Neben allgemeinen
Ausführungen zu verteidigungs- und friedenspolitischen Fragen, die in der
Feststellung gipfeln, daß das vorliegende Bürgerbegehren als "Friedenserklärung"
und als "Baustein für eine atomwaffenfreie Zone nach § 33 des Schlußdokuments
der UN-Abrüstungskonferenz 1978" zu verstehen sei, findet sich unter den
Hinweisen "zur rechtlichen Situation" auch die Bezugnahme auf gemeindliche
Anhörungsrechte, wie sie in § 1 Abs. 2 Landbeschaffungsgesetz, § 1 Abs. 3
Schutzbereichsgesetz und § 137 Abs. 2 Bundesbaugesetz vorgesehen sind. Hier
werden allgemeine, aus der gemeindlichen Planungshoheit fließende
Zuständigkeiten aufgeführt, ohne daß auch nur ansatzweise deutlich würde,
welche näher bestimmte Angelegenheit eine Anhörung der Beklagten etwa nach
dem Landbeschaffungsgesetz oder nach dem Schutzbereichsgesetz erforderlich
machte. Die fehlende Bestimmtheit der mit dem Bürgerbegehren verfolgten
Angelegenheit wird von den Antragstellern bewußt in Kauf genommen, wenn es in
der ergänzenden Begründung weiter heißt, daß die Beklagte - auch ohne aktuellen
Anlaß - mit einem "Vorratsbeschluß" rechtzeitig ihre Meinung zum Thema kundtun
solle. Solche Art Vorratsbeschlüsse entsprechen aber nicht dem Sinn und Zweck
eines Bürgerbegehrens nach § 8 b HGO. Ihnen steht das Bestimmtheitserfordernis
entgegen. Erst wenn die militärische Planung so konkret geworden ist, daß ein
Gemeindegrundstück beispielsweise als Truppenübungsplatz mit Waffen- und
Munitionsniederlage in Aussicht genommen worden ist, kann die Stellungnahme
der Gemeinde nach § 1 Abs. 2 Landbeschaffungsgesetz zum Gegenstand eines
Bürgerbegehrens gemacht werden. Erst zu diesem Zeitpunkt handelt es sich um
eine "bestimmte" Angelegenheit der Gemeinde; erst jetzt ist auch eine
rechtmäßige, die aktuelle Sach- und Rechtslage berücksichtigende
Beschlußfassung möglich. "Vorratsbeschlüsse" aufgrund antizipierter
Bürgerbegehren sind dagegen mit § 8 b Abs. 1 HGO unvereinbar. Die
Gemeindevertretung der Beklagten hat das Bürgerbegehren deshalb zu Recht als
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Gemeindevertretung der Beklagten hat das Bürgerbegehren deshalb zu Recht als
unzulässig zurückgewiesen, ohne in eine Sachdebatte einzutreten.
Nach alledem ist die Berufung der Kläger als unbegründet zurückzuweisen. Die
Kläger haben die Kosten des Berufungsverfahrens gemäß § 154 Abs. 2 VwGO zu
tragen, weil ihr Rechtsmittel keinen Erfolg hat. Die Aufteilung ergibt sich aus § 159
VwGO in Verbindung mit § 100 Abs. 1 ZPO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils hinsichtlich der
Kosten folgt aus § 167 Abs. 1 VwGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 10 und 711 ZPO.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 132 VwGO) liegen nicht vor.
Rechtsmittelbelehrung
Die Nichtzulassung der Revision kann durch Beschwerde innerhalb eines Monats
nach Zustellung dieser Entscheidung angefochten werden. Die Beschwerde ist
durch einen Rechtsanwalt oder einen Rechtslehrer an einer deutschen Hochschule
einzulegen. In der Beschwerdeschrift muß die grundsätzliche Bedeutung der
Rechtssache dargelegt oder die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts
oder des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes, von der
die Entscheidung abweicht, oder ein Verfahrensmangel bezeichnet werden, auf
dem das Urteil beruhen kann (vgl. § 132 der Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO).
- und § 18 des Gesetzes zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der
obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 19. Juni 1968 - BGBl I S. 661).
Die Revision ist auch ohne Zulassung statthaft, wenn einer der in § 133 VwGO
genannten Verfahrensmängel gerügt wird. In diesem Fall ist die Revision innerhalb
eines Monats nach Zustellung dieser Entscheidung durch einen Rechtsanwalt oder
einen Rechtslehrer an einer deutschen Hochschule schriftlich einzulegen und
spätestens innerhalb eines weiteren Monats zu begründen. Die Revision muß die
angefochtene Entscheidung bezeichnen. Die Revisionsbegründung oder die
Revision muß einen bestimmten Antrag enthalten, ferner die verletzte Rechtsnorm
und die Tatsachen bezeichnen, die den gerügten Verfahrensmangel ergeben.
Beschwerde und Revision sind einzulegen bei dem
Hessischen Verwaltungsgerichtshof
Brüder-Grimm-Platz 1
3500 Kassel
Vermerk: Streitwert auch für das Berufungsverfahren 4.000,00 DM
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.