Urteil des HessVGH vom 02.04.2002

VGH Kassel: aufschiebende wirkung, ablauf der frist, erlass, vollziehung, behörde, weisung, bauaufsicht, verkehr, bauherr, verfügung

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Gericht:
Hessischer
Verwaltungsgerichtshof
4. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
4 TG 575/02
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 62 BauO HE, § 63 Abs 3
Nr 2a BauO HE, § 78 Abs 1
BauO HE, § 80 Abs 2 Nr 4
VwGO
(Nutzungsverbot - formelle Illegalität - Mobilfunkanlage)
Tatbestand
I.
Die Antragstellerin wendet sich im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes
gegen ein sofort vollziehbares Nutzungsverbot, mit dem ihr der Antragsgegner
aufgegeben hat, eine Funksendeanlage nicht mehr zu nutzen. Das
Verwaltungsgericht hat durch Beschluss vom 19.12.2001 die aufschiebende
Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin gegen die
Nutzungsuntersagungsverfügung wiederhergestellt.
Entscheidungsgründe
II.
Die vom Senat zugelassene Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg, denn das
Verwaltungsgericht hat die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der
Antragstellerin gegen die Verfügung des Antragsgegners vom 30.07.2001, mit der
der Antragstellerin die Nutzung ihrer Mobilfunkanlage untersagt worden ist, zu
Unrecht wiederhergestellt.
Der Antrag kann entgegen der Auffassung der Antragstellerin nicht bereits wegen
des formellen Mangels der unzureichenden Begründung der Anordnung des
Sofortvollzuges Erfolg haben. An den Inhalt der Begründung der sofortigen
Vollziehung sind keine hohen Anforderungen zu stellen. Betroffene und Gericht
müssen jedoch anhand der Gründe zur Prüfung der Entscheidung in der Lage sein,
insbesondere wissen, welche besonderen öffentlichen Interessen die Vollziehung
rechtfertigen sollen. Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Die sofortige
Vollziehung der Nutzungsuntersagung ist unter Bezugnahme auf die
Rechtsprechung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs damit begründet
worden, dass bei einer illegalen Nutzung die Vorbildwirkung dieser Maßnahme
Anreiz zur Nachahmung befürchten lasse und die präventive Kontrolle der
Bauaufsicht erfolgreich unterlaufen werden könne. Damit hat der Antragsgegner
den Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO Rechnung getragen.
Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts erweist sich die angefochtene
Verfügung des Antragsgegners bei der im Verfahren des vorläufigen
Rechtsschutzes vorzunehmenden summarischen Überprüfung der Sach- und
Rechtslage als offensichtlich rechtmäßig. In einem derartigen Fall überwiegt das
Vollzugsinteresse das Interesse, von Vollzugsmaßnahmen vorläufig verschont zu
werden. Die von der Antragstellerin errichtete und genutzte Mobilfunkanlage ist
formell illegal. Dies wird auch von dem Verwaltungsgericht unter Hinweis auf die
Rechtsprechung des Senats anerkannt. Das Vorbringen der Antragstellerin gibt
dem Senat keine Veranlassung, seine Auffassung zur
Baugenehmigungspflichtigkeit derartiger Anlagen zu ändern (ebenso Beschluss
des 9. Senats des Hess. VGH vom 08.02.2002 - 9 TZ 515/01 -). Der VGH Bad.-
Württ. ist in seinem Beschluss vom 08.02.2002 - 8 S 2748/01 - der Auffassung,
durch die Mobilfunkanlage werde der Nutzungscharakter eines (Wohn-) Gebäudes
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durch die Mobilfunkanlage werde der Nutzungscharakter eines (Wohn-) Gebäudes
nicht verändert, vielmehr fänden nunmehr auf dem Grundstück zwei voneinander
getrennt zu beurteilende Nutzungen statt, nämlich eine wohnliche im Gebäude
und eine gewerbliche in Gestalt der Funkanlage mit auch vom Senat geteilten
Erwägungen entgegengetreten. Es werde in tatsächlicher Hinsicht übersehen, dass
die Mobilfunkstation schon deshalb mit dem (Wohn-) Gebäude untrennbar
verbunden sei, weil sie die Höhe dieses Hauses nutze, um die gewünschte
Reichweite zu erzielen. In rechtlicher Hinsicht werde verkannt, dass im Falle der
Änderung einer baulichen Anlage das Gesamtprojekt in seiner geänderten Gestalt
den Gegenstand der behördlichen und gerichtlichen Prüfung bilde. Diese
Auffassung wird auch von dem beschließenden Senat geteilt.
Das Verwaltungsgericht vertritt die Auffassung, eine formell illegale bauliche
Anlage rechtfertige nicht immer den Erlass eines Nutzungsverbots. Wenn - wie hier
- der Bauherr in Übereinstimmung mit der Bauaufsichtsbehörde bei der Errichtung
und Nutzung der Anlage von ihrer Baugenehmigungsfreiheit ausgegangen sei und
die Behörde ihre Auffassung erst aufgrund einer verwaltungsgerichtlichen
Entscheidung geändert habe, dann bedürfe der Erlass eines Nutzungsverbots
weiterer Erwägungen, insbesondere müsse dann die materielle Baurechtmäßigkeit
eine deutlich wichtigere Rolle spielen.
Dieser Auffassung vermag der Senat nicht zu folgen. Sie steht im Widerspruch zu
seiner ständigen Rechtsprechung. Danach rechtfertigt auch unter Geltung des §
78 Abs. 1 HBO 1993 - im Folgenden HBO - allein die formelle Illegalität einer
baulichen Anlage ein Nutzungsverbot. Nach dieser Vorschrift kann die
Bauaufsichtsbehörde die Nutzung untersagen, wenn u. a. bauliche Anlagen gegen
baurechtliche oder sonstige Vorschriften über Errichtung, Änderung,
Instandhaltung oder Nutzung dieser Anlagen und Einrichtungen verstoßen und
nicht auf andere Weise rechtmäßige Zustände hergestellt werden können. Das
Tatbestandsmerkmal des § 78 Abs. 1 "und nicht auf andere Weise rechtmäßige
Zustände hergestellt werden können" trägt dem Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit Rechnung, der im Rahmen der Ermessensentscheidung des §
78 Abs. 1 HBO ebenso zu berücksichtigen ist wie sonstige Umstände, die im
Einzelfall einer Nutzungsuntersagung allein wegen formeller Illegalität
entgegenstehen können (OVG Rh.-Pf., Urteil vom 22.05.1996 - 8 A 11880/95 -,
BauR 1997, 103 f. zu § 78 Satz 1 LBauO). § 78 Abs. 1 HBO beschränkt die
Bauaufsichtsbehörde nicht darauf, dem Eigentümer aufzugeben, Bauvorlagen
einzureichen, denn nur durch die Möglichkeit, formell illegale Nutzungen zu
verbieten, und zwar ohne Rücksicht auf eine etwaige materielle Illegalität, ist die
Bauaufsicht in der Lage, das System des präventiven Bau- und Nutzungsverbots
in Verbindung mit der Genehmigungspflicht zu sichern (Beschluss des Senats vom
26.07.1994 - 4 TH 1779/93 - BRS 56 Nr. 212). Es ist nicht Aufgabe des Gerichts,
bei der auf die formelle Illegalität der baulichen Anlage gestützten
Nutzungsuntersagung die Genehmigungsfähigkeit der untersagten Nutzung oder
die Auffassung der Behörde zu einem gestellten Bauantrag zu überprüfen. § 70
Abs. 5 HBO, wonach vor Zugang der Baugenehmigung oder vor Ablauf der Frist
nach § 67 Abs. 5 Satz 4 nicht mit der Ausführung begonnen werden darf, enthält
gleichzeitig ein Verbot des Bauens (oder Nutzens) ohne Baugenehmigung und
verpflichtet den Bauherrn, selbst in Fällen der rechtswidrigen Versagung einer
Baugenehmigung, die Genehmigung im Rechtsweg zu erstreiten. Es bedarf daher
keiner Ausführungen des Senats zu der von der Antragstellerin näher dargelegten
Genehmigungsfähigkeit der Mobilfunkanlage.
Der Antragsgegner hat von dem ihm in § 78 Abs. 1 HBO eingeräumten Ermessen
auch in zweckentsprechender Weise Gebrauch gemacht. Bei dem Erlass eines
Nutzungsverbots genügt es in der Regel, wenn - wie hier - die Bauaufsichtsbehörde
deutlich macht, dass der beanstandete Zustand wegen seiner Rechts- und
Ordnungswidrigkeit beseitigt werden müsse. Ermessensverstöße sind nicht
gegeben. Von dem Grundsatz, dass die formelle Illegalität einer baulichen Anlage
ein sofort vollziehbares Nutzungsverbot rechtfertigt, werden zwar in
Rechtsprechung und Literatur Ausnahmen anerkannt, derartige Ausnahmegründe
liegen hier jedoch nicht vor. So wird die Auffassung vertreten, die Anordnung der
sofortigen Vollziehung einer Nutzungsuntersagung scheide dann aus, wenn der
Bauherr zwischenzeitlich einen Bauantrag gestellt habe, der auch nach Auffassung
der Bauaufsichtsbehörde genehmigungsfähig sei, sofern der Erteilung der
Baugenehmigung im Übrigen (z. B. fehlendes Einvernehmen nach § 36 BauGB,
Naturschutzrecht, Denkmalschutzrecht) nichts im Wege stehe (vgl. Simon-Decker,
BayBauO, Stand: Februar 2000, Art. 82 RN 341); der Senat braucht die Frage, ob
er sich dieser Auffassung auch im Hinblick auf eine mögliche Verletzung des
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er sich dieser Auffassung auch im Hinblick auf eine mögliche Verletzung des
Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit anschließt, schon deshalb nicht zu
beantworten, weil der Antragsgegner den Bauantrag der Antragstellerin mit
Bescheid vom 17. Oktober 2001 abgelehnt hat.
Die Entscheidung des Antragsgegners ist auch nicht deswegen
ermessensfehlerhaft, weil sie keine Ausführungen zu dem nach Auffassung des
Verwaltungsgerichts "ermessenslenkenden Erlass" des Hessischen Ministeriums
für Wirtschaft, Verkehr und Landesentwicklung vom 12.03.2001 - VII 3 - 64b 12/13 -
1/2001 - enthalte. Die Aufgaben der unteren Bauaufsichtsbehörde sind dem
Antragsgegner gemäß § 60 Abs. 2 Satz 1 HBO nach Weisung übertragen. Oberste
Bauaufsichtsbehörde ist nach § 60 Abs. 3 Satz 2 HBO das für die Bauaufsicht
zuständige Ministerium, das ist zur Zeit gemäß Beschluss der Hessischen
Landesregierung vom 12.01.1999 (GVBl. I S. 295) das Ministerium für Wirtschaft,
Verkehr und Landesentwicklung. Aus der gesetzlichen Regelung des § 60 Abs. 2
Satz 1 HBO, dass die unteren Bauaufsichtsbehörden die Aufgabe als originäre
Staatsaufgabe zu erfüllen haben, ergibt sich, dass sie in allen Fragen der Rechts-
und Zweckmäßigkeit der Aufsicht und den Weisungen der oberen und der obersten
Bauaufsichtsbehörde unterliegen. Die vorgesetzte Behörde kann daher das
auszuübende Verwaltungsermessen nachgeordneter Behörden leiten und binden.
Im vorliegenden Fall hat die oberste Bauaufsichtsbehörde in dem vom
Verwaltungsgericht in Bezug genommenen Erlass keine das Ermessen des
Antragsgegners bindende Weisung erlassen. Ebenso wie sie die Empfehlung gibt,
bei neu zu errichtenden Antennenanlagen Genehmigungsverfahren
durchzuführen, soweit es sich nicht um nach § 63 HBO genehmigungsfreie
Antennenanlagen handele, ist auch ihr Hinweis als Empfehlung zu verstehen,
aufgrund der zuvor genannten Entscheidungen des Hessischen
Verwaltungsgerichtshofs bestehe kein Bedürfnis, gegen bestehende
Antennenanlagen einzuschreiten. Diese Formulierung rechtfertigt nicht die
Auslegung, dass damit aufgrund Weisung der obersten Bauaufsichtsbehörde
gegenüber der unteren Bauaufsichtsbehörde generell nicht gegen bestehende
Antennenanlagen eingeschritten werden dürfe.
Der Umstand, dass der Antragsgegner seine ursprünglich vertretene Auffassung,
es bestünden gegen die streitbefangene Mobilfunkanlage keine
bauplanungsrechtlichen Bedenken, nicht mehr aufrecht erhält, rechtfertigt
ebenfalls keinen Ermessensfehler. Hierbei handelt es sich nämlich um eine Frage
der materiellen Rechtmäßigkeit der Nutzungsuntersagung, auf die es - wie oben
dargelegt - bei der auf die formelle Illegalität gestützten Anordnung nicht
ankommt.
Zwar kann das Ermessen der Bauaufsichtsbehörde zum Erlass eines
Nutzungsverbots auch dann eingeschränkt sein, wenn etwa die zulässige Nutzung
von der Bauaufsichtsbehörde über einen längeren Zeitraum mit deren Wissen und
Wollen geduldet wird (vgl. OVG NW, Beschluss vom 15.01.1996 - 7 B 315/96 -; vgl.
auch Simon-Decker, a. a. O.), diese Voraussetzungen sind hier jedoch nicht
gegeben, da der Antragsgegner nach dem Bekanntwerden der Rechtsprechung
des Senats zur Genehmigungspflicht derartiger Mobilfunkanlagen diese nicht mehr
geduldet hat.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Festsetzung des
Streitwerts auf den §§ 20 Abs. 3, 14 Abs. 1, 13 Abs. 1 GKG.
Hinweis: Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§§ 152 Abs. 1 VwGO, 25 Abs. 3
Satz 2 GKG).
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.