Urteil des HessVGH vom 09.10.2009

VGH Kassel: rückwirkung, satzung, ex nunc, juristische person, zukunft, erneuerung, abrechnung, gemeinde, vollstreckung, verwaltungsgerichtsbarkeit

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Gericht:
Hessischer
Verwaltungsgerichtshof
5. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
5 C 2700/07.N
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 47 Abs 2 S 1 VwGO, § 3
Abs 1 KAG HE, § 3 Abs 2
KAG HE
(Unzulässigkeit eines gegen eine rückwirkende Anordnung
gerichteten Normenkontrollantrages, weil es auf die
Rückwirkung nicht ankommen kann)
Leitsatz
Fall eines gegen die Anordnung rückwirkenden Inkrafttretens einer gemeindlichen
Entwässerungssatzung gerichteten Normenkontrollantrags, der unzulässig ist, weil es
für die Erhebung des auf der Grundlage dieser Satzung zu erhebenden
Entwässerungsbeitrags auf die Rückwirkung gar nicht ankommen kann.
Tenor
Der Normenkontrollantrag wird abgelehnt.
Der Antragsteller hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Der Beschluss ist hinsichtlich der festgesetzten Kosten vorläufig vollstreckbar. Der
Antragsteller kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in
Höhe der vollstreckbaren Kosten abwenden, wenn nicht die Antragsgegnerin vor
der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 5.000,-- € festgesetzt.
Gründe
I.
Der Antragsteller strebt mit seinem Normenkontrollantrag die Ungültigerklärung
der Rückwirkungsanordnung in § 35 der Entwässerungssatzung der
Antragsgegnerin vom 10. Mai 2007 (Beschlussdatum) an.
Der Antragsteller wurde als Eigentümer eines in der Gemarkung Breitenbach am
Herzberg gelegenen Grundstücks von der Antragsgegnerin mit Bescheid vom 29.
Oktober 2007 zu einem Abwasserbeitrag "für die Erneuerung bzw. Erweiterung der
öffentlichen Abwassersammelleitungen", gestützt auf § 11 des Hessischen
Gesetzes über Kommunale Abgaben (KAG) und die oben genannte
Entwässerungssatzung, herangezogen. Mit Schreiben vom 5. November 2007
erhob er hiergegen Widerspruch mit der Begründung, die in § 35 der Satzung
enthaltene Anordnung des rückwirkenden Inkrafttretens zum 1. Januar 1995 bei
gleichzeitigem Außerkrafttreten der bisherigen Entwässerungssatzung sei ungültig,
weil es an einem "Ankündigungsbeschluss" für die rückwirkende Inkraftsetzung
fehle. Des Weiteren erhob der Antragsteller am 7. November 2007 beim
Verwaltungsgericht Kassel "Feststellungsklage" mit dem Begehren, die
"Unwirksamkeit der Entwässerungssatzung der Gemeinde in der Fassung vom 10.
Mai 2007, hier: rückwirkende Inkraftsetzung zum 1. Juli 1995", festzustellen. In der
Rechtsmittelschrift führte er aus, dass die vorangegangene Entwässerungssatzung
der Beklagten vom 30. Mai 1996 in der Fassung des 4. Nachtrags vom 6. April
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der Beklagten vom 30. Mai 1996 in der Fassung des 4. Nachtrags vom 6. April
2000 ungültig gewesen sei. Um rechtswirksam neues Satzungsrecht rückwirkend
in Kraft zu setzen, müsse "entweder eine gültige Satzung" bestanden haben oder
das neue Satzungsrecht "rechtsverbindlich" angekündigt worden sein. Eine solche
Ankündigung gebe es jedoch nicht. Ungeachtet dessen erhebe die Gemeinde jetzt
Beiträge für Leitungsbaumaßnahmen, die in der Vergangenheit ausgeführt worden
seien. Hieran sei sie wegen der Unwirksamkeit der angeordneten Rückwirkung
gehindert. Beiträge könnten auf der Grundlage des nicht zurückwirkenden neuen
Satzungsrechts nur für künftige Leitungsbaumaßnahmen erhoben werden.
Nachdem das Verwaltungsgericht den Antragsteller in der Eingangsbestätigung
darauf hingewiesen hatte, "dass gemäß § 47 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO
- für den gestellten Antrag der Hessische Verwaltungsgerichtshof sachlich
zuständig sein dürfte", meldete sich der zwischenzeitlich bestellte Bevollmächtigte
des Antragstellers mit dem Antrag, "das Verfahren an den Hessischen
Verwaltungsgerichtshof zu verweisen". Das Verwaltungsgericht erklärte sich
daraufhin mit Beschluss vom 14. Dezember 2007 für sachlich unzuständig und
verwies den Rechtsstreit gemäß § 83 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 17a Abs. 2
GVG in entsprechender Anwendung "an den gemäß § 47 Abs. 1 Ziff. 2 VwGO in
Verbindung mit § 15 Abs. 1 AGVwGO instanziell zuständigen Hessischen
Verwaltungsgerichtshof".
In dem an den Hessischen Verwaltungsgerichtshof verwiesenen Verfahren machte
der Antragsteller erneut geltend, dass die der neuen Entwässerungssatzung
beigelegte Rückwirkung wegen Verstoßes gegen die Grundsätze zulässiger
Rückwirkung keine Rechtswirksamkeit entfalten könne. Eine Rückwirkung sei nur
dann zulässig, wenn sie durch sachliche Erwägungen gerechtfertigt und für die
Abgabepflichtigen voraussehbar und zumutbar sei. Das sei bei der hier
angeordneten Rückwirkung für 12 Jahre nicht der Fall. Kein Grundstückseigentümer
müsse damit rechnen, dass der kommunale Satzungsgeber eine Satzung seines
Vorvorgängers rückwirkend bis in die Wahlzeit dieses Vorvorgängers ändere. Die
Rückwirkung könne auch nicht auf einen Zeitraum erstreckt werden, der "längst
der Verjährung unterfallen" sei. Werde die Rückwirkung auf den hier zulässigen
Rahmen beschränkt, so sei es nicht möglich, für die in Rede stehende
Leitungsbaumaßnahme Beiträge zu erheben. Insoweit sei er - der Antragsteller -
von der in § 35 der neuen Entwässerungssatzung angeordneten Rückwirkung
nachteilig in seinen Rechten betroffen.
Der Antragsteller beantragt sinngemäß,
festzustellen, dass die Regelung in § 35 der Entwässerungssatzung der
Antragsgegnerin vom 10. Mai 2007 zum rückwirkenden Inkrafttreten der Satzung
ab 1. Juli 1995 ungültig ist.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Normenkontrollantrag abzulehnen.
Sie führt in ihrer Antragserwiderung aus, dass sich das rückwirkende Inkrafttreten
der Entwässerungssatzung im vorliegenden Fall nicht nach § 3 Abs. 1, sondern
nach § 3 Abs. 2 KAG richte. Die Rückwirkung nach der letztgenannten Bestimmung
sei nicht auf einen Zeitraum von sechs Monaten beschränkt. Vielmehr könne
durch eine solche Rückwirkung das zuvor bestehende Satzungsrecht ohne
Rücksicht auf dessen Rechtswirksamkeit zeitlich in vollem Umfang ersetzt werden.
Im Übrigen sei das Gesamtbauprogramm, auf welches sich die Heranziehung des
Antragstellers zu einem Abwasserbeitrag beziehe, auch jetzt noch nicht
abgeschlossen. Letzte Bauarbeiten seien noch im Jahre 2009 auszuführen.
Solange das Gesamtbauprogramm der streitigen Erneuerung der
Entwässerungseinrichtung nicht beendet sei, könne eine Verjährung des
Beitragsanspruchs nicht eintreten. Auf die der Entwässerungssatzung von 2007
beigelegte Rückwirkung komme es mithin für die streitige Beitragserhebung nicht
an.
Auf Anfrage des Berichterstatters hat der Bevollmächtigte des Antragstellers mit
Schreiben vom 2. März 2009 klargestellt, dass der Normenkontrollantrag auf die
ursprüngliche Fassung beschränkt bleiben und somit nur auf die
Rückwirkungsanordnung in § 35 EWS 2007 bezogen werden solle.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt
der Gerichtsakte Bezug genommen.
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II.
Der Senat entscheidet über den Normenkontrollantrag durch Beschluss, weil er
nach erfolgter Unterrichtung der Beteiligten über die sich stellenden rechtlichen
Probleme, verbunden mit der ihnen jeweils eingeräumten Möglichkeit zur
Stellungnahme, eine mündliche Verhandlung für nicht erforderlich hält (§ 47 Abs. 5
Satz 1 VwGO).
Dem Antrag, die Regelung in § 35 der Entwässerungssatzung der Antragsgegnerin
vom 10. Mai 2007 über das rückwirkende Inkrafttreten der Satzung am 1. Juli 1995
bei gleichzeitigem Außerkrafttreten der bisherigen Entwässerungssatzung für
ungültig zu erklären, kann schon deshalb nicht entsprochen werden, weil er
unzulässig ist. Es fehlt an der erforderlichen Antragsbefugnis des Antragstellers.
Nach § 47 Abs. 2 VwGO kann einen Normenkontrollantrag jede natürliche oder
juristische Person stellen, die geltend macht, durch die angegriffene
Rechtsvorschrift oder deren Anwendung "in ihren Rechten verletzt zu sein oder in
absehbarer Zeit verletzt zu werden". In Anlehnung an die Formulierung der
Klagebefugnis in § 47 Abs. 2 VwGO ist damit die Möglichkeit einer Verletzung in
eigenen subjektiven Rechten gemeint (Kopp, VwGO, 16. Aufl. 2009, § 47 Rn. 46).
Die geltend gemachte Rechtsverletzung braucht nicht unmittelbar auf der
Rechtsvorschrift zu beruhen, sondern kann sich aus Anwendungsakten ergeben,
mit denen diese umgesetzt wird (dazu: Kopp, a.a.O., Rn. 56).
Im vorliegenden Fall sieht der Antragsteller die ihn belastende Rechtsverletzung
durch die Rückwirkungsanordnung des § 35 EWS 2007 darin, dass die Rückwirkung
die Grundlage dafür darstelle, ihn als Eigentümer eines an das
Sammelleitungsnetz der Entwässerungseinrichtung der Antragsgegnerin
angeschlossenen Grundstücks zu einem Entwässerungsbeitrag für in der
Vergangenheit ausgeführte Leitungsbaumaßnahmen heranziehen zu können. Er
meint, dass die Ungültigerklärung der - seiner Auffassung nach rechtswidrigen -
Rückwirkungsanordnung die Möglichkeit entfallen lasse, ihn mit einem
Erneuerungs- und Erweiterungsbeitrag für die fragliche Leitungsbaumaßnahme zu
belasten. Dieser Auffassung kann der Senat nicht folgen. Die geltend gemachte
rechtliche Betroffenheit durch die der Entwässerungssatzung 2007 beigelegte
Rückwirkung besteht nicht, denn die Möglichkeit einer Beitragserhebung für das
Grundstück des Antragstellers aus Anlass des in Rede stehenden
Leitungsbauvorhabens hängt nicht davon ab, dass die Satzung diese Rückwirkung
auch tatsächlich entfaltet. Die Antragsgegnerin weist in dem bereits ergangenen
Beitragsbescheid an den Antragsteller ausdrücklich darauf hin, dass das
beschriebene "Gesamtbauprogramm" - Erneuerung bzw. Erweiterung des
Sammelleitungsnetzes im Zuge der Anbindung der Ortsteile G und H an die
zentrale Behandlungsanlage in Breitenbach - "noch nicht abgeschlossen" sei. Von
der Regelung in § 11 Abs. 9 Satz 1 KAG ausgehend, dass die Beitragspflicht außer
im Falle des Abs. 8 "mit der Fertigstellung der Einrichtung" entsteht, bedeutet das,
dass der Beitragsanspruch gegen den Antragsteller erst künftig -eben im
Zeitpunkt der Gesamtfertigstellung des in der Ausführung begriffenen
Leitungsbauprogramms - entstehen kann. Mit "Fertigstellung der Einrichtung" ist in
§ 11 Abs. 9 Satz 1 KAG die Fertigstellung des durch das Bauprogramm
bestimmten Einrichtungsvorgangs gemeint. Je umfassender und komplexer das
dem jeweiligen Einrichtungsvorgang zugrunde liegende Bauprogramm ist, desto
länger kann es dauern, bis der Beitragsanspruch der Gemeinde entsteht (dazu im
Einzelnen: Driehaus, Hrsg., Kommunalabgabenrecht, § 8 Rn. 882 ff.). Umfängliche
Bauprogramme mit entsprechend langer Dauer der Realisierung gibt es
insbesondere bei Erneuerungs- und Erweiterungsmaßnahmen, die sich auf die
gesamte bestehende Leitungseinrichtung oder doch wesentliche Teile dieser
Einrichtung beziehen. Der damit zusammenhängende späte Entstehungszeitpunkt
des Beitragsanspruchs macht es entbehrlich, einer wegen etwaiger Mängel des
bisherigen Satzungsrechts zwischenzeitlich in Kraft gesetzten neuen Satzung
Rückwirkung beizulegen. Da der Beitragsanspruch ohnehin erst in Zukunft mit der
Gesamtfertigstellung entsteht, reicht für die Beitragserhebung das Inkrafttreten
der neuen Satzung "ex nunc", d.h. mit Wirkung lediglich für die Zukunft, aus. In
einem solchen Fall ist das Fehlen einer Rückwirkungsanordnung oder - wie im
vorliegenden Fall geltend gemacht - ihrer Ungültigkeit wegen Nichterfüllung
gesetzlicher Rückwirkungsvoraussetzungen unerheblich. Dementsprechend kann
von einer tatsächlich getroffenen Rückwirkungsanordnung in der Satzung für die
erst später beitragspflichtig werdenden Anlieger - wie hier den Antragsteller - auch
kein rechtlicher Nachteil ausgehen.
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Dass die Antragsgegnerin den Antragsteller bereits mit Bescheid vom 29. Oktober
2007 endgültig herangezogen hat, obwohl nach eigener Angabe das
Gesamtbauprogramm noch nicht abgeschlossen ist, ändert an dieser rechtlichen
Beurteilung nichts. Die Antragsgegnerin hätte sich mangels Entstehens der
Beitragspflicht wegen noch nicht erreichter Gesamtfertigstellung auf die Erhebung
von Vorausleistungen beschränken müssen. Inwieweit das zur Rechtswidrigkeit des
Bescheides vom 29. Oktober 2007 führt, kann dahinstehen, denn über die
Rechtmäßigkeit dieses Bescheides ist im vorliegenden Normenkontrollverfahren,
welches auf der Grundlage eines vom Verwaltungsgericht angeregten
Verweisungsantrags an den Verwaltungsgerichtshof zu betreiben der Antragsteller
vorgezogen hat, nicht zu befinden.
Die der Entwässerungssatzung der Antragsgegnerin von 2007 beigelegte
Rückwirkung würde möglicherweise dann eine Rolle spielen und sich im Sinne der
an die Antragsbefugnis im Normenkontrollverfahren zu stellenden Anforderungen
als rechtlich nachteilig für den Antragsteller erweisen können, wenn mit dem
Bescheid vom 29. Oktober 2007 auf der Grundlage des § 11 Abs. 8 KAG eine in der
Vergangenheit liegende Teil- oder Abschnittsfertigstellung vor der noch in der
Zukunft liegenden Gesamtfertigstellung abgerechnet worden wäre. Denn dann
könnte es auf das Vorliegen gültigen Satzungsrechts bereits im Zeitpunkt des für
eine solche Abrechnung erforderlichen Teilabrechnungsbeschlusses des
zuständigen Gemeindeorgans und gegebenenfalls auf ein Zurückwirken der
Satzung ankommen. Die Konstellation der Abrechnung eines in der Vergangenheit
fertig gestellten einzelnen Leitungsabschnitts liegt hier jedoch ersichtlich nicht vor.
Es fehlt von vornherein an dem für eine solche Abrechnung erforderlichen
Abschnittsbildungsbeschluss des zuständigen Gemeindeorgans, und demgemäß
ist die Heranziehung in dem Bescheid vom 29. Oktober 2007 auch als endgültige
Heranziehung für das bezeichnete Leitungsbauvorhaben konzipiert.
Da der Normenkontrollantrag des Antragstellers aus den genannten Gründen
unzulässig ist, muss er mit für ihn nachteiliger Kostenfolge (§ 154 Abs. 1 VwGO)
abgelehnt werden.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit hinsichtlich der Kosten
beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 11, 711 der
Zivilprozessordnung - ZPO -.
Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich (§ 132 Abs. 2 VwGO).
Die Festsetzung des Streitwerts für das Normenkontrollverfahren beruht auf § 52
Abs. 1 des Gerichtskostengesetzes - GKG -. In Normenkontrollverfahren geht der
Senat entsprechend dem Streitwertkatalog für die Verwaltungsgerichtsbarkeit im
Hinblick auf die besondere Bedeutung mindestens vom Auffangstreitwert aus (Nr.
3.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit).
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.