Urteil des HessVGH vom 05.12.1988

VGH Kassel: politische verfolgung, ausreise, staatliche verfolgung, entführung, bevölkerung, wahrscheinlichkeit, akte, bundesamt, religionsunterricht, anerkennung

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Gericht:
Hessischer
Verwaltungsgerichtshof
12. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
12 UE 2487/85
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
Art 16 Abs 2 S 2 GG, § 1
Abs 1 AsylVfG, § 4 Abs 1
AsylVfG
(Asylberechtigung einer syrisch-orthodoxen Christin aus
der Türkei)
Tatbestand
Die -- laut Paß und Nüfus am 1. Januar 1957 und laut eidesstattlicher Versicherung
vom 12. Oktober 1988 am ... 1963 -- in Istanbul geborene Klägerin ist syrisch-
orthodoxen Glaubens. Sie reiste am ... Dezember 1979 aus der Türkei aus und --
mit dem Flugzeug aus Istanbul kommend -- über F in die Bundesrepublik
Deutschland ein. Sie war im Besitz eines am ... Dezember 1979 in Istanbul
ausgestellten und für zwei Jahre gültigen türkischen Nationalpasses; nach der darin
enthaltenen Nüfuseintragung ist die Klägerin in dem Dorf M Provinz Ma, registriert.
Laut ihrem am ... November 1979 ausgestellten Nüfus stammt die Klägerin aus
dem Stadtteil M der Stadt M. Eine Verlängerung der Gültigkeitsdauer des
Nationalpasses lehnte das türkische Generalkonsulat in Frankfurt am Main unter
Hinweis auf das von der Klägerin betriebene Asylverfahren ab.
Der Vater der Klägerin ist im Jahre 1979 in Istanbul verstorben. Der Mutter der
Klägerin wurde durch Beschluß des türkischen Ministerrats vom 7. Dezember 1969
die türkische Staatsangehörigkeit entzogen, weil sie ohne Erlaubnis durch eigenen
Willen die syrische Staatsangehörigkeit erworben habe. Sie hatte sich ihren
Angaben zufolge 1967/68 besuchsweise bei Verwandten in A Bezirk H (Syrien),
aufgehalten und ein ihr von einem Soldaten vorgelegtes Schriftstück in Unkenntnis
des Inhalts unterzeichnet. Nach Mitteilung syrischer Behörden ist indessen eine
syrische Staatsangehörige mit dem Namen der Mutter der Klägerin in A nicht
ausfindig zu machen. Unabhängig hiervon verfügte die Mutter der Klägerin bei
ihrer Ausreise aus der Türkei und bei ihrer Einreise in die Bundesrepublik
Deutschland über einen am ... April 1980 ausgestellten türkischen Nationalpaß.
Den von ihr gestellten Asylantrag hat das Bundesamt für die Anerkennung
ausländischer Flüchtlinge abschlägig beschieden; ihre hiergegen erhobene Klage
wies das Verwaltungsgericht Kassel durch rechtskräftiges Urteil vom 26. Mai 1988 -
- II/3 E 8025/85 -- ab. Von den insgesamt sieben Geschwistern der Klägerin sind
sechs noch am Leben; ihr älterer Bruder Y wurde -- nach Angaben der Klägerin --
am ... Januar 1960 ermordet. Die am ... 1954 geborene Schwester J -- jetzt
verheiratete C -- und ein am ... 1960 geborener Bruder -- ebenfalls namens Y --
reisten bereits am ... August 1979 in die Bundesrepublik Deutschland ein. J C ist
bestandskräftig als Asylberechtigte anerkannt (VG Kassel IV/1 E 8140/83 --); das
Asylbegehren von Y ist rechtskräftig abgelehnt (VG Kassel VI/3 E 8008/83). Der am
1. Januar 1962 geborene Bruder I reiste am ... Mai 1980 zusammen mit seiner und
der Klägerin Mutter ein; er fand ebenfalls rechtskräftig keine Anerkennung als
Asylberechtigter (VG Kassel IV/3 E 8133/83). Der am 1. Februar 1964 geborene
Bruder B der Klägerin reiste nach eigenen Angaben etwa drei Wochen später als
der Bruder I der Klägerin und die Mutter ein, den Angaben von I zufolge mit diesem
zusammen, nach Angaben des Bruders 7 ... jedoch zwei Monate und nach
Angaben der Mutter gar drei Monate später; laut Anmeldebestätigung des
Magistrats der Stadt B vom 25. August 1980 zog er am 23. Mai 1980 in die
Wohnung seines Bruders Y ein; B ist rechtskräftig als Asylberechtigter anerkannt
(VG Kassel I/1 E 8336/83). Der am 1. September 1968 geborene Bruder 7 ...
schließlich gelangte wiederum einige Zeit danach ins Bundesgebiet; sein
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schließlich gelangte wiederum einige Zeit danach ins Bundesgebiet; sein
Asylantrag ist rechtskräftig abgelehnt (VG Kassel I/1 E 8337/83).
Bereits am 27. Dezember 1979 hatte die Klägerin bei der Ausländerbehörde Asyl
beantragt. Zur Begründung ihres Asylbegehrens legte die Klägerin ein in deutscher
Sprache abgefaßtes -- nicht unterzeichnetes -- Schreiben vom selben Tage vor, in
dem es heißt: Sie sei während eines Besuchsaufenthalts ihrer Eltern in Istanbul
geboren, habe aber in dem Dorf M in der Provinz M gelebt und dort einer
christlichen Minderheitsgemeinde angehört, die aus religiösen und ökonomischen
Gründen von kurdischen Gruppen derart unterdrückt worden sei, daß es nahezu
täglich zu Überfall, Entführung und Mord gekommen sei. Am 10. Oktober 1979 sei
ihr Vater bei einer Auseinandersetzung zwischen Christen und Kurden im Dorf
ermordet worden. Dann sei sie mit ihrer Mutter und drei Geschwistern nach
Istanbul geflohen, wo sie aber auch nicht gefahrlos habe leben können. In der am
15. Januar 1980 gefertigten Niederschrift zu ihrem Asylbegehren, die ihr in
türkischer Sprache vorgelesen und von ihr unterschrieben wurde, ist als Religion
"syrisch-orthodox", als Volkszugehörigkeit "türkisch" und unter der Rubrik
"Sprachkenntnisse" "türkisch, arabisch" eingetragen. Ergänzend gab die Klägerin
ausdrücklich an, sie gehöre der syrisch-orthodoxen Kirche an, habe keinen Beruf
erlernt und sei im Heimatland zuletzt als Hausfrau tätig gewesen. Auf Befragen
der Ausländerbehörde erklärte die Klägerin, daß die Zeitangaben in dem von
einem Bekannten gefertigten Schreiben vom 27. Dezember 1979 widersprüchlich
sein könnten. Sie könne Ort und Zeitpunkt der Ermordung ihres Vaters nicht
angeben, werde sich hierzu aber bei der Vorprüfungsanhörung äußern. Mit einem -
- wiederum in deutscher Sprache abgefaßten und nicht unterzeichneten --
Schreiben vom 28. Januar 1980 berichtigte die Klägerin ihr Vorbringen
dahingehend, daß am 15. Januar 1960 ihr Bruder ermordet worden und am 10.
Oktober 1979 ihr Vater gestorben sei.
In ihrer polizeilichen Anmeldung vom 21. Januar 1980 gab die Klägerin als bisherige
Wohnung "Istanbul ..." an.
Anläßlich ihrer -- mit Hilfe eines türkischen Sprachmittlers durchgeführten --
Anhörung im Rahmen der Vorprüfung durch das Bundesamt für die Anerkennung
ausländischer Flüchtlinge am 15. Juni 1981 in N korrigierte die Klägerin ihre
bisherigen Angaben -- die sie im übrigen bestätigte -- dahin, daß sie aramäische
Volkszugehörige sei. Außerdem führte sie aus: Das zur Begründung des
Asylbegehrens vorgelegte Schreiben vom 27. Dezember 1979 sei die von einem
Landsmann übersetzte und geschriebene Fassung eines von ihr selbst in
türkischer Sprache verfaßten Schriftstücks. Nach den Erzählungen ihrer Mutter
hätten sie früher in M gewohnt, wo ihr Vater einen Krämerladen besessen habe. Er
sei von den dort mehrheitlich lebenden kurdischen Muslimen bedroht worden,
habe die Drohungen aber nicht ernst genommen. Eines Tages, als sie noch klein
gewesen sei, hätten Muslime ihr Haus -- sie hätten damals in einem Kirchenhaus
gewohnt -- angegriffen und ihren Vater schwer mißhandelt; seitdem sei er geistig
und körperlich gebrochen gewesen und habe nicht mehr arbeiten können. 1960
seien sie dann nach Istanbul gezogen, wo sie wiederum in einem Kirchenhaus
Wohnung gefunden hätten. In der Schule sei sie von den Lehrern wegen ihrer
Religionszugehörigkeit und wegen ihrer (arabischen) Sprache mißhandelt worden;
ihre Cousine habe der Lehrer derart auf ein Ohr geschlagen, daß deren
Trommelfell geplatzt sei; aus Angst seien sie dann nicht mehr zur Schule
gegangen; daher könne sie weder lesen noch schreiben. Sie sei als Näherin
angelernt worden, habe aber wegen ihres Glaubens Schwierigkeiten gehabt, eine
Arbeitsstelle zu finden. Sei dies einmal gelungen, so hätten sie fanatische Muslime
immer wieder bedroht. U.a. sei ihr während des Zypern-Kriegs von Kolleginnen mit
dem Tod für den Fall gedroht worden, daß Muslime fallen würden; sie habe
daraufhin diese Arbeitsstelle aus Angst aufgegeben. Am nächsten Arbeitsplatz
habe sie bereits zwei Tage später gekündigt, nachdem sie von einem Kollegen
aufgefordert worden sei, zum Islam überzutreten, und dieser sie wegen ihrer
Weigerung mit dem Messer am Handgelenk verletzt habe. Sie sei bei der Polizei
gewesen, dort aber nur vertröstet worden. Polizei und Behörden wollten den
Christen wegen deren Religionszugehörigkeit, die aus dem Nüfus ersichtlich sei,
nicht helfen. Etwa einen Monat vor ihrer Ausreise sei sie gefragt worden, ob sie
einen Muslimen heiraten wolle. Da sie abgelehnt habe, sei die Tür ihres Hauses
eingeschlagen, der Mutter eine Pistole an den Kopf gesetzt und sie dadurch zum
Mitgehen gezwungen worden. Sie habe aber entfliehen können. Die Polizei habe
zugesagt, künftigen Angriffen durch die Aufstellung von Wächtern vorzubeugen.
Dennoch sei zwei Tage vor ihrer Ausreise nochmals ein Angriff erfolgt; die Angreifer
habe sie weder persönlich noch namentlich gekannt. Ihr Bruder, der sie habe
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habe sie weder persönlich noch namentlich gekannt. Ihr Bruder, der sie habe
beschützen wollen, sei mit einem Messer am Bein verletzt worden. Sie habe
daraufhin den Angreifern zugesagt, am nächsten Tag zu ihnen zu kommen. Diese
hätten eine Frau dagelassen, die eine Flucht habe verhindern sollen. Sie, die
Klägerin, habe gleichwohl am folgenden Tage unter einem Vorwand entkommen
können und sei dann in die Bundesrepublik Deutschland geflohen. Christliche
Symbole habe sie in der Türkei aus Angst nicht getragen.
Mit Bescheid vom 8. Februar 1983 -- ausgehändigt am 24. Februar 1983 -- lehnte
das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge den Asylantrag der
Klägerin ab. Zur Begründung wurde ausgeführt: Es sei nicht ersichtlich, daß
Christen in der Türkei allgemein in asylerheblicher Weise verfolgt würden und daß
im vorliegenden Fall für die Ausreise eine asylerhebliche Verfolgung ursächlich
gewesen sei oder daß bei einer Rückkehr in die Türkei mit derartigen
Verfolgungsmaßnahmen gerechnet werden müsse. Weder gebe es in der Türkei
eine gezielte staatliche Verfolgung von Angehörigen der christlichen Minderheit,
noch könne von einer generellen Duldung, Untätigkeit oder gar Unterstützung des
türkischen Staates bei Übergriffen Dritter die Rede sein, wenngleich die türkische
Regierung nicht in jedem Einzelfall die Sicherheit des Einzelnen garantieren könne.
Im übrigen sei festzustellen, daß sich die Sicherheitssituation der Christen wie
auch der übrigen Bevölkerung allgemein nach der Machtübernahme des Militärs
am 12. September 1980 erheblich verbessert habe. Es sei auch nicht
überzeugend dargelegt, daß bei den geschilderten Übergriffen die
Religionszugehörigkeit von ausschlaggebender Bedeutung gewesen sei und daß
gezielt -- insbesondere trotz Ausschöpfung aller Möglichkeiten des Rechtsweges --
staatlicher Schutz verweigert worden sei.
Mit Schriftsatz vom 22. März 1983, der am folgenden Tage einging, erhob die
Klägerin hiergegen Klage.
Zur Begründung bezog sie sich auf ihr bisheriges Vorbringen, bat zunächst um
einen aramäischen und später um einen türkischen Sprachmittler christlichen
Glaubens und machte weiter geltend: Ihr Heimatort M liege zwei Kilometer
nordöstlich von M; die Bevölkerung sei bis zum Ersten Weltkrieg rein christlich
gewesen; 1975 hätten 1656 muslimische Einwohner dort gelebt, die -- ebenso wie
einzelne der früher dort wohnenden Christen -- arabisch gesprochen hätten. An
ihrer, der Klägerin, Familie seien in der Osttürkei Greueltaten verübt worden, von
deren Folgen sie sich nicht erholt habe; der Familie könne auch nicht widerlegt
werden, daß sie willkürlich ausgebürgert worden sei. Sie selbst sei darüber hinaus
in Istanbul schweren Belästigungen in der Schule ausgesetzt gewesen. Außerdem
müßten die Entführungsversuche zur Asylanerkennung führen, denn es gebe kein
schlimmeres Schicksal als eine Zwangsverheiratung mit einem Muslimen.
Bei ihrer informatorischen Anhörung in der mündlichen Verhandlung vor dem
Verwaltungsgericht am 26. September 1985 erklärte die Klägerin, wobei sie sich --
auf Vorhalt -- in mehrfacher Hinsicht korrigierte, mit Hilfe eines türkischen und
aramäischen Sprachmittlers: Sie habe in Istanbul als Schneiderin gearbeitet.
Während des Zypern-Krieges sei ihr von muslimischen Kollegen für den Fall, daß
der Krieg verlorenginge, mit dem Tode gedroht worden. Sie habe diese
Arbeitsstelle aufgegeben und nach etwa 14 Tagen eine neue gefunden. Dort sei
sie, nachdem ihre Kolleginnen ihre Religion erfahren hatten, bei einer
Auseinandersetzung mit einem Messer am Handgelenk verletzt worden. Sie habe
auch diese Stelle verloren; an den folgenden Arbeitsplätzen sei sie ebenfalls
ständig belästigt worden. Deshalb habe sie in Istanbul nicht mehr leben können.
Etwa einen Monat vor der Ausreise hätten zwei Männer und zwei Frauen, die durch
Arbeitskolleginnen auf sie aufmerksam gemacht worden waren, sie nach Hause
verfolgt. Sie seien in die Wohnung eingedrungen, hätten ihrer Mutter mit einer
Pistole gedroht und auf den Kopf geschlagen sowie sie, die Klägerin, gezwungen
mitzugehen. Nachdem ihr die Flucht gelungen sei, habe sie bei der Polizei Anzeige
erstattet. Dort sei ihr Hilfe zugesagt worden, dann aber sei doch nichts geschehen.
In der Folgezeit seien die beiden Männer und eine Frau erneut gekommen, hätten
sie an den Handgelenken ergriffen und zum Mitkommen zwingen wollen. Ihr
Bruder, der sie zu verteidigen versucht habe, sei mit einem Messer verletzt
worden. Sie habe dann so getan, als ob sie bereit sei, freiwillig mitzugehen.
Sodann habe sie unter dem Vorwand, Essen zum Feiern besorgen zu wollen, das
Haus verlassen. Sie sei zunächst zu einigen christlichen Mitbürgern gegangen und
danach in die Bundesrepublik Deutschland gekommen. Bereits zuvor habe sie
Vorbereitungen zur Besorgung ihres Passes getroffen gehabt.
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Die Klägerin beantragte,
den Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge
vom 8. Februar 1983 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, sie als
Asylberechtigte anzuerkennen.
Die Beklagte beantragte,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung machte sie geltend: Im Anerkennungsverfahren sei zutreffend
festgestellt worden, daß ein Anspruch auf Asylgewährung nicht bestehe. Die
Klägerin, die nicht die in der Südost-Türkei gebräuchlichen Sprachen Aramäisch
und Kurdisch beherrsche, sondern nur Türkisch und Arabisch, gehöre nicht zu der
Gruppe der syrisch-orthodoxen Christen, die aus dem Tur'Abdin in die
Bundesrepublik Deutschland gekommen seien. Sie habe vielmehr fast
ausschließlich in Istanbul gelebt, für das eine Gruppenverfolgung nicht
anzunehmen sei. Im übrigen bestünden im Hinblick auf Sprache, Aussehen und
Kleidung der Klägerin Bedenken, ob sie überhaupt Aramäerin und syrisch-
orthodoxe Christin sei. Wahrscheinlich gehöre sie der arabischen Volksgruppe an.
Ein asylerhebliches Einzelschicksal habe sie ebenfalls nicht glaubhaft machen
können; ihr Vorbringen sei dafür insgesamt zu widersprüchlich und gesteigert.
Der Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten äußerte sich nicht.
Das Verwaltungsgericht gab mit am 3. Oktober 1985 verkündetem Urteil der Klage
unter Zulassung der Berufung statt und führte zur Begründung aus: Die Klägerin
sei als Asylberechtigte anzuerkennen, weil sie politisch Verfolgte i.S. des Art. 16
Abs. 2 Satz 2 GG sei. Politisch Verfolgter sei, wer bei einer Rückkehr in seine
Heimat aus politischen Gründen Verfolgungsmaßnahmen mit Gefahr für Leib und
Leben oder Beeinträchtigungen seiner persönlichen Freiheit oder politische
Repressalien hinzunehmen habe. Diese Voraussetzungen seien durch die der
syrisch-orthodoxen Religionsgemeinschaft angehörende Klägerin erfüllt. Sie sei
persönlich im Zeitpunkt ihrer Ausreise aus Istanbul aus religiösen Gründen von
politischer Verfolgung bedroht gewesen; denn sie habe die hinreichend konkrete
Gefahr einer Entführung glaubhaft gemacht und sich auch an die dortige Polizei
gewandt, ohne Hilfe zu erhalten. Die von der Klägerin geschilderten Vorfälle seien
durchaus wahrscheinlich; Entführungen kämen nämlich nicht nur in der Osttürkei,
sondern auch in Istanbul häufig vor. Da die Wiederholung von
Verfolgungsmaßnahmen in Form der Entführung trotz der zwischenzeitlich
eingetretenen Verbesserung der Sicherheitslage nicht mit hinreichender
Wahrscheinlichkeit auszuschließen sei, könne der Klägerin eine Rückkehr in die
Türkei nicht zugemutet werden, weil sie offensichtlich nicht bei Verwandten
unterkommen könne und deshalb als alleinstehende Christin in Istanbul keine
Möglichkeit einer ungefährdeten Dauerexistenz hätte. Frauenentführungen mit
anschließender Zwangsbekehrung zum Islam und Zwangsheirat stellten einen die
Menschenwürde verletzenden Eingriff in die Religionsfreiheit dar, der seitens der
handelnden Personen politisch motiviert und mangels hinreichenden polizeilichen
Schutzes dem türkischen Staat zurechenbar sei.
Gegen dieses ihm am 5. November 1985 zugestellte Urteil hat der
Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten mit Schriftsatz vom 29. November
1985 -- eingegangen am 3. Dezember 1985 -- Berufung eingelegt, ohne diese zu
begründen.
Er beantragt,
das Urteil des Verwaltungsgerichts Kassel vom 3. Oktober 1985 aufzuheben
und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
Die Berufung zurückzuweisen.
Sie trägt vor: Sie habe glaubhaft -- und beweisbar durch Vernehmung ihres in der
Bundesrepublik Deutschland lebenden Bruders I als Zeugen -- mehrere religiös
bedingte Entführungsversuche als Vorverfolgung dargelegt. Zunächst
aufgetretene Widersprüche beruhten auf Übermittlungsproblemen infolge der
Heranziehung nicht hinreichend qualifizierter Dolmetscher. Sie sei auch deshalb
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Heranziehung nicht hinreichend qualifizierter Dolmetscher. Sie sei auch deshalb
als vorverfolgt anzusehen, weil ihre Familie wegen außergewöhnlich
schwerwiegender Ereignisse zum Umzug nach Istanbul veranlaßt worden sei. Die
letztgenannte Stadt komme für sie als inländische Fluchtalternative schon deshalb
nicht in Betracht, weil sie gerade dort dem türkischen Staat zurechenbare, religiös
motivierte Verfolgung erlitten habe. Hierbei habe es sich nicht um einen Einzelfall
gehandelt; vielmehr seien mehrere Fälle von Entführungen in Istanbul
dokumentiert, denen stets das Verbot des muslimischen Ehemannes nachfolge,
den christlichen Glauben auszuüben. Im übrigen sei die Lage der christlichen
Minderheiten in der Türkei wieder einer ständigen Verschlechterung unterworfen,
und zwar wegen der zunehmenden Reislamisierung des öffentlichen Lebens. Sie,
die Klägerin, sähe sich daher bei einer Rückkehr mit einiger Wahrscheinlichkeit
erneut Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt.
Die Beklagte stellt zu der Berufung keinen Antrag.
Der Senat hat aufgrund des Beschlusses vom 28. September 1988 Beweis
erhoben über die Asylgründe der Klägerin durch deren Vernehmung als Beteiligte
durch den Berichterstatter des Senats als beauftragten Richter. Wegen des
Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Niederschrift vom 19. Oktober 1988
verwiesen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung
einverstanden erklärt.
Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird
auf die von diesen eingereichten Schriftsätze, den einschlägigen Vorgang des
Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge -- Gesch.-Z.: Tür-S-
38967 -- und die über die Klägerin geführten Ausländerakten des Landrats des
Kreises H -- L III/3 Az.: 23 d 12-07 -- (zwei Hefter) Bezug genommen, ferner auf die
über die Mutter der Klägerin (Bundesamt 163/70294/80 und VG Kassel II/3 E
8025/85), die Brüder Y (Bundesamt Tür-T-16299 und VG Kassel VI/3 E 8008/83), I
(Bundesamt Tür-T-67529 und VG Kassel IV/3 E 8133/83), B (VG Kassel I/1 E
8336/83) und Z (VG Kassel I/1 E 8337/83) sowie die Schwester J (Bundesamt Tür-T-
18926 und VG Kassel IV/1 E 8140/83) geführten Bundesamts- und Gerichtsakten.
Diese sind ebenso Gegenstand der Beratung gewesen wie die nachfolgend
aufgeführten Dokumente:
2. 11.04.1979 Auswärtiges Amt an Bay. VGH
3. Mai/Juni 1979 pogrom Nr. 64 ("Verfolgte christliche Minderheiten in der
Türkei" u.a.)
4. 07.08.1979 Dr. Harb-Anschütz an Bay. VGH
5. 12.11.1979 epd Dokumentation Nr. 49/79: "Christliche Minderheiten aus
der Türkei"
6. Nov. 1979 Ev. Akademie Bad Boll Materialdienst 2/80: "Christen aus
der Türkei suchen Asyl"
7. Mai 1980 pogrom Nr. 72/73 ("Zur Lage der syrisch-orthodoxen
Christen in der Türkei" u.a.)
8. 20.05.1980 Patriarch Yakup III und Bischof Cicek vor dem VG
Gelsenkirchen
9. 15.10.1980 Carragher an Bay. VGH
10. 09.04.1981 Msgr. Wilschowitz: "Die Situation der christlichen
Minderheiten in der Türkei"
11. 29.04.1981 Reisebericht einer schwedisch-norwegischen Reisegruppe
12. 02.05.1981 Dr. Hofmann "Zur Lage der Armenier in
Istanbul/Konstantinopel"
13. 12.06.1981 Prof. Dr. Kappert vor VG Hamburg
14. 06.07.1981 Staatssekretär von Staden (BT-Drs. 9/650)
15. 20.07.1981 IGFM an VG Wiesbaden
16. 22.07.1981 Vocke an VG Karlsruhe
17. 04.08.1981 Auswärtiges Amt an VG Wiesbaden
18. 24.11.1981 RA Wiskandt an Bundesamt: "Situation der Christen in der
Türkei"
19. 21.01.1982 Schweiz. Ev. Pressedienst Nr. 3
20. 03.02.1982 Auswärtiges Amt an VG Minden
21. 26.03.1982 Auswärtiges Amt an VG Trier
22. 07.04.1982 Pfarrer Diestelmann: "Die Situation der syrisch-orthodoxen
Christen ..."
23. 21.04.1982 Carragher zum Gutachten Wiskandt
24. 28.04.1982 Dr. Hofmann zum Gutachten Wiskandt
25. 06.05.1982 Diakonisches Werk EKD zum Gutachten Wiskandt
26. 18.05.1982 Ev. Gemeinde dt. Sprache in der Türkei an EKD
27. Juni 1982 CCMWE: "The Situation of the Christian Minorities of
Turkey ..."
28. 03.07.1982 Anschütz/Harb, Protokoll HR (3. Fernsehprogramm)
29. 26.07.1982 Sürjanni Kadim an VG Minden
30. 17.08.1982 Dr. Harb-Anschütz an VG Minden
31. 1983 Kraft, in "Christ in der Gegenwart": "Fremde und
Außenseiter"
32. 28.02.1983 RA Müller: "Zur Lage der Christen in der Türkei"
33. 04.03.1983 Pfarrer Weber: "Christen aus der Türkei suchen Asyl"
34. Mai 1983 Ev. Akademie Bad Boll, Protokolldienst 27/83:
"Studienfahrt in die Türkei"
35. 09.04.1984 Oberkreisdirektor Gütersloh an RP Detmold
36. 12.06.1984 epd Dokumentation Nr. 26/84: "Die Lage der christlichen
Minderheiten in der Türkei ..."
37. 26.06.1984 Auswärtiges Amt an Bay. VGH
38. 11.09.1984 Auswärtiges Amt an Hess. VGH
39. 14.09.1984 Dr. Oehring an VG Minden
40. 09.11.1984 Auswärtiges Amt an VGH Baden-Württemberg
41. 03.12.1984 RA Müller, RA Wiskandt, Dr. Oehring und Erzbischof Cicek
als sachverständige Zeugen vor dem Bay. VGH
42. 04.02.1985 Dr. Hofmann an VG Stuttgart
43. 17.03.1985 Prof. Dr. Wießner an VG Stuttgart
44. 07.05.1985 Dr. Binswanger an VGH Baden-Württemberg
45. 30.05.1985 Dr. Oehring an VG Gelsenkirchen
46. 22.06.1985 RA Müller: "Reisebericht zur Lage der Christen in der
Türkei"
47. 07.10.1985 Auswärtiges Amt an VG Ansbach
48. 31.03.1986 Sprenzel: "Situation der aramäisch sprechenden,
syrisch-orthodoxen Christen in der (Ost)Türkei"
49. 01.07.1986 EKD an VG Hamburg
50. 14.10.1986 Prof. Dr. Wießner an VG Hamburg
51. 10.11.1986 Auswärtiges Amt an VG Hamburg
52. 03.12.1986 Auswärtiges Amt an VG Köln
53. 06.01.1987 Dr. Tasci vor VG Gelsenkirchen
54. 01.06.1987 Auswärtiges Amt an VG Ansbach
55. 09.10.1987 EKD an RA König
56. 18.12.1987 Auswärtiges Amt an OVG Bremen
57. 20.01.1988 Auswärtiges Amt -- Lagebericht Türkei --
58. April 1988 Regine Erichsen: "Die Religionspolitik im türkischen
Erziehungswesen von der Atatürk-Ära bis heute" in:
Zeitschrift für Kulturaustausch 1988, 234
59. 15.05.1988 Taylan an VG Karlsruhe
60. 25.05.1988 Dr. Oehring an VG Düsseldorf
61. 24.09.1988 Dr. Binswanger an VG Karlsruhe
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Entscheidungsgründe
In Anbetracht des Einverständnisses der Beteiligten kann der Senat ohne
mündliche Verhandlung entscheiden (§§ 125 Abs. 1 i.V.m. 101 Abs. 2 VwGO).
I.
Die Berufung des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten ist frist- und
formgerecht eingelegt (§§ 124, 125 VwGO) und auch sonst zulässig. Sie ist
nämlich vom Verwaltungsgericht zugelassen worden (§ 32 Abs. 1 AsylVfG), und der
Bundesbeauftragte war zur Einlegung der Berufung ungeachtet dessen befugt,
daß er sich am erstinstanzlichen Verfahren weder durch einen Antrag noch sonst
beteiligt hat (BVerwG, 11.03.1983 -- 9 B 2597.82 --, BVerwGE 67, 64 = NVwZ
1983, 413; Hess. VGH, 11.08.1981 -- X OE 649/81 --, ESVGH 31, 268).
II.
Die Berufung des Bundesbeauftragten ist aber nicht begründet, denn die Klägerin
kann nach der maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der
Berufungsentscheidung die Anerkennung als Asylberechtigte durch die Beklagte
beanspruchen, weil sie politisch verfolgt ist (§§ 1 Abs. 1, 4 Abs. 1 AsylVfG i.V.m.
Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG).
Asylrecht als politisch Verfolgter i.S. des Art. 16 Abs. 2 Satz 2 genießt, wer bei
einer Rückkehr in seine Heimat aus politischen Gründen Verfolgungsmaßnahmen
mit Gefahr für Leib und Leben oder Beeinträchtigungen seiner persönlichen
Freiheit zu erwarten hätte oder politischen Repressalien ausgesetzt wäre (BVerfG,
02.07.1980 -- 1 BvR 147/80 u.a. --, BVerfGE 54, 341 = EZAR 200 Nr. 1). Als
politisch im Sinne des Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG ist eine Verfolgung in Anlehnung an
den Flüchtlingsbegriff des Art. 1 Abschn. A Nr. 2 des Abkommens über die
Rechtsstellung der Flüchtlinge -- Genfer Konvention (GK) -- vom 28. Juli 1951 (BGBl.
1953 II S. 559) dann anzusehen, wenn sie auf die Rasse, die Religion, die
Nationalität, die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder die
politische Überzeugung zielt (BVerwG, 04.11.1965 -- I C 54.63 --, DVBl. 1966, 645,
u. 29.11.1977 -- 1 C 33.71 --, BVerwGE 55, 82 = EZAR 201 Nr. 3, m.w.N.); insofern
kommt es entscheidend auf die Motive für die Verfolgungsmaßnahmen des
Staates an (BVerwG, 17.05.1983 -- 9 C 874.82 --, BVerwGE 67, 195 = EZAR 201
Nr. 5, u. -- 9 C 36.83 --, BVerwGE 67, 184, 08.11.1983 -- 9 C 93.83 --, BVerwGE 68,
171 = EZAR 200 Nr. 9, 26.06.1984 -- 9 C 185.83 --, BVerwGE 69, 320 = EZAR 201
Nr. 8, 21.10.1986 -- 9 C 28.85 --, BVerwGE 75, 99 = EZAR 200 Nr. 17, 19.05.1987 -
- 9 C 184.86 --, BVerwGE 77, 258 = EZAR 200 Nr. 19, u. 20.10.1987 -- 9 C 277.86 -
-, EZAR 202 Nr. 11 = NVwZ 1988, 160). Werden nicht Leib, Leben oder physische
Freiheit gefährdet, sondern andere Grundfreiheiten wie etwa die der
Religionsausübung oder die der beruflichen und wirtschaftlichen Betätigung, so
sind nur solche Beeinträchtigungen asylrelevant, die nach Intensität und Schwere
die Menschenwürde verletzen und über das hinausgehen, was die Bewohner des
Heimatstaats aufgrund des dort herrschenden Systems allgemein hinzunehmen
haben (BVerfG, 02.07.1980, a.a.O., u. 01.07.1987 -- BvR 478/86 u.a. --, BVerwGE
76, 143 = EZAR 200 Nr. 20; BVerwG, 18.02.1986 -- 9 C 16.85 --, BVerwGE 74, 31 =
EZAR 202 Nr. 7, u. -- 9 C 104.85 --, BVerwGE 74, 41, sowie 20.10.1987 -- 9 C 42.87
--, InfAuslR 1988, 22). Asylerhebliche Bedeutung haben hierbei nicht nur
unmittelbare Verfolgungsmaßnahmen des Staates; dieser muß sich vielmehr auch
Übergriffe nichtstaatlicher Personen und Gruppen -- als mittelbare staatliche
Verfolgungsmaßnahmen -- zurechnen lassen, wenn er sie anregt, unterstützt,
billigt oder tatenlos hinnimmt und damit den Betroffenen den erforderlichen
Schutz versagt, der allerdings nicht lückenlos zu sein braucht (BVerfG, 02.07.1980,
a.a.O.; BVerwG, 02.08.1983 -- 9 C 818.81 --, BVerwGE 67, 317 = EZAR 202 Nr. 1,
03.12.1985 -- 9 C 33.85 --, BVerwGE 72, 269 = EZAR 202 Nr. 5, u. 02.07.1986 -- 9
C 2.85 --). Asylrelevante politische Verfolgung -- und zwar sowohl unmittelbar
staatlicher als auch mittelbar staatlicher Art -- kann sich nicht nur gegen
Einzelpersonen, sondern auch gegen durch gemeinsame Merkmale verbundene
Gruppen von Menschen richten mit der regelmäßigen Folge, daß jedes
Gruppenmitglied als von dem Gruppenschicksal mitbetroffen anzusehen ist
(BVerfG, 02.07.1980, a.a.O.; BVerwG, 02.08.1983 -- 9 C 599.81 --, BVerwGE 67,
314 = EZAR 203 Nr. 1, 30.10.1984 -- 9 C 24.84 --, BVerwGE 70, 232 = EZAR 202
Nr. 3, 18.02.1986 -- 9 C 16.85 --, BVerwGE 74, 31 = EZAR 202 Nr. 7, u. 23.02.1988
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Nr. 3, 18.02.1986 -- 9 C 16.85 --, BVerwGE 74, 31 = EZAR 202 Nr. 7, u. 23.02.1988
-- 9 C 85.87 --). Ist jemand bereits in seiner Heimat politisch verfolgt worden oder
hatte er dort bereits gute Gründe, eine solche Verfolgung zu befürchten, so sind
sog. Vorfluchttatbestände gegeben; sind erst nach dem Verlassen des
Heimatstaats Gründe entstanden, die im Falle seiner Rückkehr politische
Verfolgung erwarten lassen, so handelt es sich um sog. Nachfluchttatbestände. In
beiden Fällen ist eine Rückkehr nur dann zumutbar, wenn der Asylbewerber
nunmehr in seiner Heimat vor Verfolgungsmaßnahmen sicher sein kann (vgl.
BVerfG, 02.07.1980, a.a.O.). Die insoweit erforderliche Zukunftsprognose muß auf
die Verhältnisse im Zeitpunkt der letzten gerichtlichen Tatsachenentscheidung
abgestellt und auf einen absehbaren Zeitraum ausgerichtet sein (BVerwG,
31.03.1981 -- 9 C 286.80 --, EZAR 200 Nr. 3 = DVBl. 1981, 1096, 03.12.1985 -- 9 C
22.85 --, EZAR 202 Nr. 6 = NVwZ 1986, 760, u. 31.07.1986 -- 9 B 165.86 --, NVwZ
1987, 60). Beim Vorliegen von Vorfluchttatbeständen sind allerdings bei der
Prognose künftiger Verfolgungssicherheit grundsätzlich geringere Anforderungen
zu stellen als beim ausschließlichen Gegebensein von Nachfluchttatbeständen
(vgl. BVerwG, 02.08.1983 -- 9 C 599.81 --, BVerwGE 67, 314 = EZAR 203 Nr. 1).
Dem Vorverfolgten kann eine Rückkehr regelmäßig schon dann nicht zugemutet
werden, wenn die Wiederholung von Verfolgungsmaßnahmen nicht mit
hinreichender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden kann (BVerfG,
02.07.1980, a.a.O.; BVerwG, 27.04.1982 -- 9 C 308.81 --, BVerwGE 65, 250 = EZAR
200 Nr. 7, 02.08.1983 -- 9 C 599.81 --, BVerwGE 67, 314 = EZAR 203 Nr. 1,
15.10.1985 -- 9 C 3.85 --, EZAR 630 Nr. 22, u. 23.02.1988 -- 9 C 85.87 --).
Ansonsten kommt eine Anerkennung als Asylberechtigter nur in Betracht, wenn
bei verständiger Würdigung aller Umstände des konkreten Falles bei der Rückkehr
in die Heimat politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht
(BVerwG, 31.03.1981 -- 9 C 286.80 --, EZAR 200 Nr. 3 = DVBl. 1981, 1096,
25.09.1984 -- 9 C 17.84 --, BVerwGE 70, 169 = EZAR 200 Nr. 12, u. 03.12.1985 --
9 C 22.85 --, EZAR 202 Nr. 6 = NVwZ 1986, 760). Unabhängig hiervon ist der
Asylbewerber aufgrund der ihm obliegenden prozessualen Mitwirkungspflicht
gehalten, von sich aus die in seine eigene Sphäre fallenden tatsächlichen
Umstände substantiiert und in sich stimmig zu schildern sowie eventuelle
Widersprüche zu seinem Vorbringen in früheren Verfahrensstadien nachvollziehbar
aufzulösen, so daß sein Vortrag insgesamt geeignet ist, den Asylanspruch
lückenlos zu tragen (BVerwG, 08.05.1984 -- 9 C 141.83 --, EZAR 630 Nr. 13 =
NVwZ 1985, 36, 12.11.1985 -- 9 C 27.85 --, EZAR 630 Nr. 23 = InfAuslR 1986, 79,
u. 20.10.1987 -- 9 C 147.86 --) und insbesondere auch eine politische Motivation
der Verfolgungsmaßnahmen festzustellen (BVerwG, 22.03.1983 -- 9 C 68.81 --,
Buchholz 402.24 Nr. 44 zu § 28 AuslG, u. 18.10.1983 -- 9 C 473.82 --, EZAR 630
Nr. 8). Bei der Darstellung der allgemeinen Umstände im Heimatland genügt es
dagegen, daß die vorgetragenen Tatsachen die nicht entfernt liegende Möglichkeit
politischer Verfolgung ergeben (BVerwG, 23.11.1982 -- 9 C 74.81 --, BVerwGE 66,
237 = EZAR 630 Nr. 1). Ungeachtet dessen muß sich das Gericht in vollem
Umfang die Überzeugung von der Wahrheit des von dem Asylbewerber
behaupteten individuellen Verfolgungsschicksals verschaffen, wobei allerdings der
sachtypische Beweisnotstand hinsichtlich der Vorgänge im Heimatland bei der
Auswahl der Beweismittel und bei der Würdigung des Vortrags und der Beweise
angemessen zu berücksichtigen ist (BVerwG, 29.11.1977 -- 1 C 33.71 --, BVerwGE
55, 82 = EZAR 201 Nr. 3, 16.04.1985 -- 9 C 109.84 --, BVerwGE 71, 180 = EZAR
630 Nr. 17, u. 12.11.1985 -- 9 C 27.85 --, EZAR 630 Nr. 23 = InfAuslR 1986, 79).
Eine Asylanerkennung der Klägerin würde nicht von vornherein dann ausscheiden,
wenn sie -- gemäß ihrem anwaltlichen Vorbringen im vorliegenden Rechtsstreit
(vgl. Schriftsatz vom 31. August 1984), dessen Richtigkeit hier dahinstehen kann --
tatsächlich von der Türkei ausgebürgert und infolgedessen staatenlos wäre. Denn
auch für einen Staatenlosen besteht bei einer politischen Verfolgung durch das
Land seines gewöhnlichen Aufenthalts -- und dies ist für die Klägerin die Türkei, da
sie dort geboren ist und sich die längste Zeit ihres Lebens dort aufgehalten hat --
eine Notlage, die nach Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG die Gewährung von Asyl gebietet
(BVerwG, 12.02.1985 -- 9 C 45.84 --, EZAR 200 Nr. 11 = InfAuslR 1985, 145, u.
15.10.1985 -- 9 C 30.85 --, EZAR 200 Nr. 15 = InfAuslR 1986, 76). Ob hiervon eine
Ausnahme anzunehmen ist, wenn der frühere Aufenthaltsstaat seine Beziehungen
zu dem Betreffenden nach dessen Ausreise aus im asylrechtlichen Sinne
nichtpolitischen Gründen gelöst hat und das Asylbegehren mit drohenden
Übergriffen durch im bisherigen Aufenthaltsstaat operierende nichtstaatliche
Personen oder Gruppen begründet wird (so BVerwG, 15.10.1985, a.a.O.), bedarf im
vorliegenden Fall keiner Entscheidung. Denn ein solcher Ausnahmefall ist in der
Person der Klägerin, die sich sinngemäß darauf beruft, daß bereits die ihrer Ansicht
nach erfolgte Ausbürgerung religiös motiviert gewesen sei und deshalb politische
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nach erfolgte Ausbürgerung religiös motiviert gewesen sei und deshalb politische
Verfolgung darstelle, von vornherein nicht gegeben.
Der erkennende Senat ist nach den im vorvorstehenden Absatz dargelegten
Grundsätzen aufgrund der eigenen Angaben und Aussagen der Klägerin, der
beigezogenen Akten und der in das Verfahren eingeführten Dokumente zu der
Überzeugung gelangt, daß die Klägerin nicht kraft innerstaatlich geltender
völkerrechtlicher Vereinbarung anzuerkennen ist (1.), daß sie vor ihrer Ausreise
aus der Türkei zwar nicht als Mitglied der Gruppe der syrisch-orthodoxen Christen
politisch verfolgt (2.), wohl aber persönlich von Verfolgungsmaßnahmen betroffen
war (3.) und daß sie bei einer Rückkehr in die Türkei auch jetzt keine
Gruppenverfolgung zu befürchten hat (4.), jedoch selbst erneut politischer
Verfolgung ausgesetzt sein wird (5.).
1. Die Klägerin, an deren syrisch-orthodoxer Glaubenszugehörigkeit der Senat
-- entgegen der Auffassung der Beklagten -- in Anbetracht ihrer eigenen
Angaben, der Eintragung "Hristiyan" in ihrem Nüfus und vor allem wegen der
Eintragung "Suryani Kadim" in den entsprechenden Ausweispapieren ihrer Mutter
(Bl. 22 der Bundesamtsakte 163/70294/80) und ihrer Schwester J (Bl. 27 der
Bundesamtsakte Tür-T-18926) trotz ihrer arabischen Muttersprache keine Zweifel
hat, kann ihre Anerkennung nicht (schon) aufgrund des Abkommens über die
Ausdehnung gewisser Maßnahmen zugunsten russischer und armenischer
Flüchtlinge auf andere Kategorien von Flüchtlingen vom 30. Juni 1928 (abgedruckt
in: Societe des Nations, Recueil des Traites, Bd. 89 <1929>, S. 64) erreichen. Da
sie 1957 oder 1963 geboren ist und erst im Dezember 1979 die Türkei verlassen
hat, kann dieses Abkommen auf sie ohnehin nicht angewandt werden (ständige
und vom Bundesverwaltungsgericht durch Urteil v. 17.05.1983 -- 9 C 874.82 --,
BVerwGE 67, 195 = EZAR 201 Nr. 5, bestätigte Rechtsprechung des Hess. VGH,
vgl. z.B. 17.07.1981 -- X OE 553/81 --, 11.08.1981 -- X OE 649/81 --, ESVGH 31,
268, 07.08.1986 -- X OE 189/82 --, 01.02.1988 -- 12 OE 419/82 -- u. 17.10.1988 --
12 UE 2601/84, 12 UE 2497/85 u. 12 UE 2813/86 --). Der Senat kann deshalb
offenlassen, ob dem durch die genannte Vereinbarung geschützten Personenkreis
überhaupt noch ein Anspruch auf Asylanerkennung oder Asylgewährung in anderer
Form zusteht, nachdem § 39 Nr. 4 AsylVfG die bis dahin in § 28 AuslG enthaltene
Bezugnahme auf Art. 1 GK und die dort in Abschn. A Nr. 1 enthaltene Verweisung
auf die erwähnte Vereinbarung ersatzlos beseitigt hat und eine Asylanerkennung
nunmehr allein an die Voraussetzungen des Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG anknüpft
(vgl. dazu auch Berberich, ZAR 1985, 30 ff., und Köfner/Nicolaus, ZAR 1986, 11,
15).
2. Der Senat hat auch nicht feststellen können, daß die Angehörigen der
syrisch-orthodoxen Minderheit in der Türkei im Gebiet des Tur'Abdin oder in
Istanbul bis zur Ausreise der Klägerin einer unmittelbaren oder mittelbaren
Gruppenverfolgung ausgesetzt waren.
a) Der Senat legt seiner Beurteilung der Lage der Christen in der Türkei im
allgemeinen und der syrisch-orthodoxen Glaubensgemeinschaft im
besonderen sowie des Verhältnisses dieser Christen zu anderen dort lebenden
religiösen und ethnischen Gruppen die nachfolgend anhand der vorliegenden
schriftlichen Unterlagen (im folgenden nur noch mit der entsprechenden Nummer
der Liste von S. 10 ff. bezeichnet) auszugsweise dargestellte historische
Entwicklung der christlichen Siedlungsgemeinschaften im Nahen Osten zugrunde.
Die Anhänger der syrischen Kirchen siedelten ursprünglich im
mesopotamischen Raum, und zwar im Bergland des Tur'Abdin mit dem Zentrum
Midyat, im weiter östlich gelegenen Bergland von Bohtan, im alpenähnlichen
Hochgebirge Hakkari und weiter südlich in der Mosul-Ebene sowie in der Urmia-
Ebene. Nachdem im 7. Jahrhundert im Zuge der Arabisierung die Mehrheit dieser
Christen zum Islam übergetreten war und dann mongolische Eindringlinge Ende
des 14. Jahrhunderts die syrischen Kirchen bis auf wenige Überreste vernichtet
hatten, erlebten sowohl die syrisch-orthodoxen als auch die anderen im
Osmanischen Reich lebenden Christen vom Ende des 15. Jahrhunderts an eine
vergleichsweise friedliche und gesicherte Periode, in der sie als nichtmuslimische
Völkerschaften -- als millat -- auch ihr Personal- und Familienrecht nach eigenem
Rechtsstatut regeln konnten. Während der im 19. Jahrhundert zur Bewahrung des
Osmanischen Reichs eingeleiteten Reformbewegungen kam es sodann etwa nach
der Seeschlacht von Navarino 1827 zu einer Verfolgung der Armenier und 1843 zu
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der Seeschlacht von Navarino 1827 zu einer Verfolgung der Armenier und 1843 zu
einem Massaker der Kurden unter den nestorianischen Bergstämmen im Hakkari.
Die abseits in ihren Siedlungsräumen in Ostanatolien lebenden syrischen Christen
blieben von derartigen Ereignissen aber weitgehend verschont. Sie waren ähnlich
wie die ebenfalls in dieser Region siedelnden Kurden stammesmäßig organisiert
und erhielten sich Unabhängigkeit und Schutz durch Selbstverteidigung und durch
Tributzahlungen an den Sultan. Nachdem seit der ersten Hälfte des 19.
Jahrhunderts eine rege Missionstätigkeit christlicher Religionsgesellschaften aus
Amerika, England und Frankreich dazu beigetragen hatte, die kulturelle und
gesellschaftliche Bedeutung der Christen im Nahen Osten zu heben und
gleichzeitig deren politisches Bewußtsein zu fördern, reagierte das Osmanische
Reich im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts auf Unabhängigkeitsbestrebungen
der Christen mit dem Einsatz kurdischer Söldnertruppen, und dabei kam es dann
häufig zu Morden, Plünderungen und Hungersnöten (1., S. 17 ff.). Schließlich
fanden während des Ersten Weltkriegs unter den Christen zahlreiche Massaker
statt, die insgesamt über drei Millionen Tote gefordert haben sollen (1., S. 28; 5.,
S. 14); für sie werden zumindest auch die Allianz der Christen mit England und
Rußland und die Kriegserklärung des damaligen Patriarchen Benjamin XXI. an die
Türkei im Mai 1915 verantwortlich gemacht. So wurden etwa bis März 1915 im
Urmia- und im Salamas-Gebiet über 70 Dörfer von türkischen Truppen und
kurdischen Freiwilligen zerstört und geplündert und die christliche Bevölkerung
massakriert, und im selben Jahr folgten weitere Massenmorde in der armenischen
Stadt Van und im Bohtan-Gebiet (1., S. 29 f.). Bei der Flucht der Bergassyrer nach
Salamas und der Urmia-Assyrer nach Hamadan sollen jeweils mehr als 10.000
Menschen umgekommen sein (1., S. 30 ff.). Schließlich siedelten syrische Christen
in den Jahren 1922 und 1924 in zwei großen Fluchtbewegungen aus der Türkei in
das benachbarte Syrien über (1., S. 110), und im Gefolge des Ersten Weltkriegs
und des Friedensvertrags von Lausanne vom 24.7.1923 verließen mehr als zwei
Millionen Griechen die Türkei (3., S. 41). Damals verlegte der syrisch-orthodoxe
Patriarch seinen Sitz vom Kloster Dair Za'faran bei Mardin nach Homes im
heutigen Syrien, wo er seit 1954 in Damaskus residiert (5., S. 21; 8., S. 2; 9., S. 2).
Es mag im einzelnen Streit darüber herrschen, welche Bedeutung das
christliche Bekenntnis der verschiedenen Gruppen der Christen für ihr jeweiliges
Schicksal in der Vergangenheit im einzelnen hatte, welche Rolle politische und
militärische Interessen fremder Großmächte gespielt haben und ob und in
welchem Maße sich etwa bei Armeniern, Griechen oder Syrisch-Orthodoxen ein
eigenes Nationalbewußtsein entwickeln konnte (vgl. dazu: 1., S. 12 ff.; 5., S. 1 ff.;
18., S. 6 ff.). Die Situation der Christen in der Türkei ist jedenfalls seit langem
geprägt von ihrer bis in die Anfänge des Christentums zurückreichenden religiösen
und kirchlichen Tradition, von den ethnischen und sprachlichen Besonderheiten der
einzelnen Gruppen und von einem mehr und mehr hoffnungslos erscheinenden
Überlebenskampf in einer mehrheitlich türkischen/muslimischen Umwelt, der
angesichts der leidvollen historischen Erfahrungen als besonders bedrückend
empfunden wird. Während die Christen Ende des 19. Jahrhunderts noch etwa 30 %
der Untertanen des Osmanischen Reichs ausmachten, stellen sie nunmehr in der
Türkei mit schätzungsweise kaum noch 100.000 Menschen nur eine äußerst kleine
Minderheit der Gesamtbevölkerung von 43 Millionen (zu den Zahlenangaben und
im übrigen vgl.: 2.; 5., S. 5; 6., S. 5; 7.; 18., S. 8; 43.). Außer den Armeniern und
den Griechen sind zahlenmäßig vor allem die Syrer von Bedeutung, denen aber im
Unterschied zu den Armeniern, Griechen und Juden ein Schutz als
nichtmuslimische Minderheit aufgrund des Lausanner Vertrags von 1923 nicht
zugestanden wird. Die syrischen Christen bestehen in der Türkei im wesentlichen
aus Syrisch-Katholischen und Nestorianern sowie aus Syrisch-Orthodoxen
(Jakobiten) unter dem Patriarchat von Antiochia und dem gesamten Osten, deren
Patriarch Mar Ignazius Yakup III. seinen Sitz jetzt in Damaskus hat. Die Syrisch-
Orthodoxen berufen sich auf eine Abstammung von Noah und eine Bekehrung in
unmittelbarer Beziehung zu Christus, bedienen sich einer altsyrischen
Liturgiesprache und heben sich durch verschiedene Dialekte der neuaramäischen
Umgangssprache (im Tur'Abdin: turoyo) von den muslimischen Türken und Kurden
sowie von den Yeziden ab. Während bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts im
Gebiet der heutigen Türkei noch etwa eine Million Jakobiten und Nestorianer gelebt
haben sollen und 1927 immerhin noch insgesamt 257.000 (1., S. 46, 110), beträgt
die Zahl der Syrisch-Orthodoxen in der Türkei neueren Schätzungen zufolge nur
noch etwa 45.000 (1., S. 111; 5., S. 20), 35.000 (1., S. 46), 20.000 bis 35.000 (6.,
S. 17), 20.000 (8., S. 2) oder sogar nur 10.000 bis 15.000 (2.). Im Gebiet des
Tur'Abdin (Berg der Gottesknechte), wo vor 25 Jahren noch 70.000 Syrisch-
Orthodoxe lebten, sollen es 1967/68 noch 20.000 gewesen sein (4., S. 2) und 1980
noch 25.000 (5., S. 29) oder zumindest annähernd 40.000 (27., S. 18; 36., S. 17),
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noch 25.000 (5., S. 29) oder zumindest annähernd 40.000 (27., S. 18; 36., S. 17),
während ihre Zahl in Istanbul im selben Zeitraum von einigen Hundert auf 15.000
oder gar auf 17.000 angestiegen sein soll (5., S. 46; 9., S. 7; 21.; 26.; 29.; für die
Zeit nach 1982 vgl. auch 39. und 41., S. 11). In der Kreisstadt Midyat sollen im Jahr
1978 von den ursprünglich 3.000 syrischen Familien infolge einer seit 1960
anhaltenden starken Abwanderung in türkische Großstädte und ins Ausland noch
1.000 Familien gewohnt haben (1., S. 117). Aus dem Dorf Kefrezi sind die Christen,
die 1970 dort noch 90 Familien zählten, inzwischen vollständig vertrieben (8.). Das
Dorf Arbey war vor 20 Jahren von 100 christlichen Familien bewohnt; schon 1979
waren davon 65 dem Druck der umliegenden muslimischen Dörfer gewichen und
geflohen (22., S. 15).
b) Vor dem Hintergrund dieser geschichtlichen Entwicklung kann nicht
festgestellt werden, daß die christliche Bevölkerung in der Türkei und
insbesondere im Gebiet des Tur'Abdin in dem hier maßgeblichen Zeitraum bis zur
Ausreise der Klägerin aus der Türkei im Dezember 1979 unter einer religiös
motivierten Gruppenverfolgung zu leiden hatte; dies gilt sowohl hinsichtlich einer
unmittelbaren staatlichen Verfolgung als auch hinsichtlich einer vom türkischen
Staat gebilligten oder geduldeten Verfolgung durch andere Bevölkerungsgruppen
(ebenso schon der früher für Asylverfahren allein zuständige 10. Senat des Hess.
VGH in st. Rspr., zuletzt 30.05.1985 -- 10 OE 35/83 --, und jetzt der 12. Senat,
22.02.1988 -- 12 UE 1071/84 --, NVwZ-RR 1988, 48, -- 1587/84 und 2585/85 --,
16.05.1988 -- 12 UE 2571/85 --, 30.05.1988 -- 12 UE 2500/85 u. 2514/85 --,
13.06.1988 -- 12 OE 94/83 --, 27.06.1988 -- 12 UE 2438/85 --, 04.07.1988 -- 12 UE
2573/85 u. 12 UE 25/86 -- sowie 17.10.1988 -- 12 UE 2601/84, 12 UE 2497/85 u. 12
UE 2813/86 --; ähnlich VGH Baden-Württemberg, 25.07.1985 -- A 12 S 573/81 --,
und OVG Lüneburg, 25.08.1986 -- 11 OVG A 263/85 --; a.A. Bay. VGH, 19.03.1981
-- 12.B/5047/79 --, InfAuslR 1981, 219, VGH Baden-Württemberg, 09.02.1987 -- A
13 S 709/86 -- und OVG Nordrhein-Westfalen, 23.04.1985 -- 18 A 10237/84 --
sowie OVG Rheinland-Pfalz, 10.12.1986 -- 11 A 131/86 --). Bei der Frage nach einer
religiösen oder religiös motivierten Gruppenverfolgung ist allgemein zu beachten,
daß eine aus Gründen der Religion stattfindende Verfolgung nur dann asylerheblich
ist, wenn die Beeinträchtigungen der Freiheit der religiösen Betätigung nach
Intensität und Schwere die Menschenwürde verletzen (BVerfG, 02.07.1980 -- 1 BvR
147/80 u.a. --, BVerfGE 54, 341 <357> = EZAR 200 Nr. 1). Es muß sich um
Maßnahmen handeln, die den Gläubigen als religiös geprägte Persönlichkeit
ähnlich schwer treffen wie bei Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit oder die
physische Freiheit (BVerwG, 18.02.1986 -- 9 C 16.85 --, BVerwGE 74, 31 = EZAR
202 Nr. 7), indem sie ihn physisch vernichten, mit vergleichbar schweren
Sanktionen bedrohen, seiner religiösen Identität berauben oder daran hindern,
seinen Glauben im privaten Bereich und durch Gebet und Gottesdienst zu
bekennen (BVerfG, 01.07.1987 -- BvR 478/86 u.a. --, BVerfGE 76, 143 = EZAR 200
Nr. 20).
aa) Aus den in das Verfahren eingeführten Gutachten, Auskünften und anderen
Erkenntnismitteln ergeben sich keine tragfähigen Anhaltspunkte dafür, daß der
türkische Staat die syrischorthodoxen Christen in diesem Sinne in dem hier
maßgeblichen. Zeitraum unmittelbar aus religiösen Gründen verfolgt hat. Die
syrisch-orthodoxen Christen waren -- und sind -- von Verfassungs wegen ebenso
wie die Angehörigen anderer muslimischer und nichtmuslimischer
Glaubensgemeinschaften gegen Eingriffe in die Religionsfreiheit und gegen
Diskriminierungen aus religiösen Gründen geschützt (Art. 19 d. türk. Verf. v. 1961,
Art. 24 Abs. 1 d. Verf. vom 07.11.1982; 1., S. 2; 18., S. 23). Sie sind in den durch
Art. 14 der Verfassung von 1982 gezogenen Grenzen frei, Gottesdienste, religiöse
Zeremonien und Feiern abzuhalten (Art. 24 Abs. 2 dieser Verfassung). Sie werden
jedoch seit jeher anders als die Armenier, Griechen und Juden in der Staatspraxis
nicht zu den nichtmuslimischen Minderheiten gerechnet, denen aufgrund der Art.
38 ff. des Friedensvertrags von Lausanne vom 24. Juli 1923 besondere
Minderheitenrechte gewährleistet sind, so u.a. gemäß Art. 40 das Recht, auf
eigene Kosten jegliche karitative, religiöse und soziale Institutionen, Schulen und
andere Einrichtungen für Lehre und Erziehung mit dem Recht auf Gebrauch ihrer
eigenen Sprache und freie Religionsausübung zu errichten, zu betreiben und zu
kontrollieren (1., S. 112; 5., S. 57 f.; 8., S. 3 f.; 9., S. 15 f.; 13.; 44.). Während die in
Istanbul lebenden etwa 80.000 Armenier dazu imstande sind, ungefähr 40 Kirchen
und 30 Schulen, mindestens ein Krankenhaus und 12 Jugendclubs zu unterhalten
(12., 52.), verfügen die etwa 15.000 Syrisch-Orthodoxen in Istanbul lediglich über
ein eigenes Kirchenzentrum und sind in fünf weiteren Kirchen zu Gast (26., 29.), sie
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ein eigenes Kirchenzentrum und sind in fünf weiteren Kirchen zu Gast (26., 29.), sie
dürfen aber keine Schulen und keine Sozialeinrichtungen betreiben. Die syrisch-
orthodoxen Christen werden allerdings ebensowenig wie andere christliche
Glaubensgemeinschaften staatlicherseits unmittelbar an der Ausübung ihrer
Religion gehindert. Sie können sowohl im Gebiet des Tur'Abdin als auch in Istanbul
in den ihnen verbliebenen Kirchen Gottesdienst nach ihrer Liturgie feiern und ihren
Glauben praktizieren.
Obwohl die Religionsausübung nach außen hin -- weder in der Vergangenheit
noch jetzt -- offen behindert oder gar untersagt ist, sind dennoch zahlreiche
administrative Schwierigkeiten festzustellen, die die Syrisch-Orthodoxen bei der
Ausübung ihres Glaubens und der Pflege ihres Brauchtums empfindlich stören und
auf Dauer gesehen das kirchliche und religiöse Leben beeinträchtigen und
schließlich zum Erliegen bringen können. So ist beispielsweise die Ausbildung der
Priester zwar von Staats wegen nicht verboten und auch nicht erkennbar restriktiv
reglementiert. Tatsächlich gibt es aber seit geraumer Zeit in der Türkei weder
einen syrisch-orthodoxen Bischof noch Priesterseminare (8., S. 4; 19., S. 16), und
deshalb können neue Priester, die die türkische Staatsangehörigkeit besitzen
müssen, nur im Ausland ausgebildet und geweiht werden (9., S. 5). Die
seelsorgerische Betreuung der noch in den ehemals syrisch-orthodoxen
Siedlungsgebieten verbliebenen Gläubigen ist auch dadurch erschwert, daß viele
Priester ihre Gemeinden gegen den Willen der Kirchenleitung verlassen haben und
im Zuge der Anwerbung von Arbeitnehmern durch die Bundesrepublik
Deutschland und andere westeuropäische Staaten ins Ausland abgewandert sind
(43., S. 3; 50., S. 3). Die ehemals zahlreichen Klöster im Tur'Abdin sind jetzt nur
noch von wenigen Mönchen oder Nonnen bewohnt und im übrigen verlassen (5., S.
21). Die Klosterschule in Dair Za'faran wurde zudem mehrmals zumindest
zeitweilig geschlossen, weil der türkische Staat das Schulprogramm mit syrisch-
aramäischem Sprachunterricht und christlichem Religionsunterricht für illegal
erachtete (5., S. 28; 6., S. 18; 36., S. 18; 50., S. 5). Der Bau und die Errichtung von
Kirchen sind, nachdem das Eigentum an dem Besitz der "frommen Stiftungen" im
Jahre 1965 auf den Staat übertragen worden ist, nur noch mit vorheriger
staatlichen Genehmigung zulässig (9., S. 17). Die Tatsache, daß in den
vergangenen Jahren keine neue syrisch-orthodoxe Kirche gebaut worden ist,
während in der ganzen Türkei zahlreiche neue Moscheen entstanden sind (46., S.
3 f.; 49., S. 3; 50., S. 4), kann allerdings darauf zurückzuführen sein, daß Geld für
einen derartigen Kirchenbau nicht vorhanden war (30.). Trotz dieser faktischen
Behinderungen im administrativen Bereich läßt sich daraus eine unmittelbare
staatliche Beeinträchtigung der Religionsfreiheit für die Zeit bis zur Ausreise der
Klägerin aus der Türkei nicht herleiten.
Ebenso verhält es sich mit der Gestaltung des Religionsunterrichts an den
staatlichen Schulen (vgl. 58.). Insoweit neigt der Senat allerdings grundsätzlich zu
einer anderen Betrachtung als das Bundesverwaltungsgericht, das annimmt, ein
islamischer Pflichtunterricht beeinträchtige die Religionsfreiheit andersgläubiger
Kinder nicht (BVerwG, 14.05.1987 -- 9 B 149.87 --, EZAR 202 Nr. 9 = DVBl. 1987,
1113). Religionsunterricht, der gegen den Willen der Kinder oder der insoweit
erziehungsberechtigten Eltern erteilt wird, kann den Beginn einer
Zwangsbekehrung bedeuten, stellt doch die religiöse Unterweisung von Kindern,
Jugendlichen und Erwachsenen einen unverzichtbaren, weil lebenswichtigen Teil der
Religionsfreiheit dar. Denn ohne die Weitergabe religiösen Wissens und religiöser
Überzeugungen vermag weder der einzelne Gläubige noch die
Glaubensgemeinschaft auf Dauer zu bestehen. Neben der Verkündigung des
Glaubens während des kirchlichen Gottesdienstes spielt hierbei vor allem der
Religionsunterricht für Kinder eine ausschlaggebende Rolle. In diesem
Zusammenhang ist es von Bedeutung, daß die Vorschriften des Art. 24 der
türkischen Verfassung von 1982 vorsehen, daß niemand gezwungen werden darf,
an Gottesdiensten, religiösen Zeremonien und Feiern teilzunehmen oder seine
religiöse Anschauung und seine religiösen Überzeugungen zu offenbaren (Abs. 3),
und daß die Religions- und Sittenerziehung und -lehre unter der Aufsicht und
Kontrolle des Staats durchgeführt werden und religiöse Kultur und Sittenlehre in
den Grund- und Mittelschulanstalten zu den Pflichtfächern gehören (Abs. 4). Auf
der Grundlage dieser Verfassungsbestimmung ist in den letzten Jahren der
Religionsunterricht als Pflichtfach an türkischen Schulen eingeführt worden (58.);
ob und in welcher Weise daraufhin christliche Schüler zur Teilnahme am
islamischen Religionsunterricht gezwungen worden sind, war anfangs zweifelhaft,
ist aber inzwischen aufgeklärt. Das Auswärtige Amt hat zunächst berichtet,
christliche Schüler nähmen nicht am islamischen Religionsunterricht teil, sondern
erhielten eine christliche Unterweisung; in Einzelfällen hätten Schulleiter allerdings
48
erhielten eine christliche Unterweisung; in Einzelfällen hätten Schulleiter allerdings
gegen einen entsprechenden Runderlaß des Erziehungsministeriums verstoßen
(38.). Nunmehr hat das Auswärtige Amt unter Bezugnahme auf einen Erlaß des
Ministeriums für nationale Erziehung, Jugend und Sport vom 20. Oktober 1986 Nr.
2219 die Auskunft erteilt, daß christliche Schüler im Fach "Religionslehre und
Grundsätze der Ethik" nicht dazu verpflichtet seien, das islamische
Glaubensbekenntnis, die islamische Einleitungsformel Amentü, die Koranverse und
das islamische Ritualgebet Namaz zu lernen und Kenntnisse über Namaz,
Ramadan, die Regeln der islamischen Jahresspenden und das Pilgern nach Mekka
zu erwerben; allerdings habe man Kenntnis erlangt von Diskriminierungen in der
Praxis und davon, daß manche Schüler lieber an den islamischen Gebeten
teilnähmen, bevor sie dauernd einer demütigenden Behandlung ausgesetzt seien
(54., ähnlich 60.). Anderen Auskünften zufolge soll der sog. Ethik- und
Moralunterricht in den früheren 70er Jahren weitgehend laizistisch und wertneutral
gewesen sein, inzwischen aber immer mehr islamisiert und zu einem Neben-
Religionsunterricht ausgebaut worden sein (39.). Die jetzige Ausgestaltung des
staatlichen Religions- und Ethikunterrichts führe insofern zu einer Benachteiligung
der christlichen Minderheiten, als ein Äquivalent für die nichtmuslimischen Schüler
nicht angeboten werde (49.). Die Annahme, es sei nunmehr ein islamischer
Religionsunterricht als Pflichtfach eingeführt und damit auch für christliche Schüler
verbindlich (49., 50.), erscheint indes nicht gerechtfertigt. Die in deutscher
Übersetzung vorliegenden Richtlinien (Anlage zu 54.) bestimmen eindeutig, daß
der Grundsatz des Laizismus während des Ausbildungsprogramms "Religionslehre
und Grundsätze der Ethik" immer zu beachten und zu schützen ist und niemand
zu religiösen Handlungen gezwungen werden darf. Außerdem ist bestimmt, daß,
wenn den Kindern die "nationale Moral gelehrt wird", nicht unter den Religionen
unterschieden wird, um den Kindern später die Anpassung an die Gesellschaft zu
erleichtern. Insgesamt kommt zwar in den Richtlinien deutlich zum Ausdruck, daß
der Islam die Religion der Türkei und Mohammed ein Vorbild für die Türken sein
soll. Die nach dem Verfassungsgrundsatz des Laizismus (vgl. hierzu 58.) gebotene
Distanz des türkischen Staats gegenüber der islamischen Religion äußert sich
allerdings darin, daß Namaz, Suren und Gebete im staatlichen Unterricht nicht in
arabischer Sprache gelehrt werden dürfen. Nach alledem bieten die gesetzlichen
und die verwaltungsinternen Vorschriften für den Religionsunterricht an staatlichen
Schulen keine Veranlassung für die Annahme, der türkische Staat greife
unmittelbar in die Freiheit der religiösen Betätigung der Syrisch-Orthodoxen in
einer Art und Weise ein, die die Menschenwürde oder das sogenannte religiöse
Existenzminimum antastet. Dies gilt auch und erst recht für die Zeit vor
Inkrafttreten der Verfassung von 1982 und vor der Machtübernahme durch das
Militär im September 1980. Auch wenn berücksichtigt ist, daß ein christlicher
Religionsunterricht an staatlichen Schulen nicht angeboten wird und es bei der
praktischen Handhabung der Unterscheidung zwischen ethischen und allgemein-
religiösen Lehrinhalten einerseits und islamischen Glaubenslehren andererseits im
Unterricht leicht zu Benachteiligungen und Beeinträchtigungen der
Glaubensüberzeugungen christlicher Schüler kommen könnte (60.), kann darin
insgesamt ein asylrelevanter Eingriff nicht gesehen werden. Denn abgesehen von
der fehlenden Intensität mangelt es insoweit auch an der erforderlichen staatlichen
Motivation und an der Zurechenbarkeit. Die Einführung des staatlichen
Pflichtunterrichts in Ethik und Religion verfolgt das Ziel einer Eindämmung des
Einflusses der privaten Koranschulen (20., 60.) und läßt deshalb für sich noch
keinen Rückschluß auf eine im Jahre 1986 oder schon früher vorhandene Neigung
staatlicher Stellen zur gezielten Beeinträchtigung nichtmuslimischer Religionen zu.
Schließlich wären gelegentliche Übergriffe einzelner Lehrer, die die Anweisungen
zur Achtung der Religion nichtmuslimischer Schüler mißachten, dem türkischen
Staat asylrechtlich schwerlich zuzurechnen, weil Anhaltspunkte dafür, daß die
Verantwortlichen derartige dienstliche Verfehlungen förderten oder zumindest
duldeten, nicht bekannt sind.
Schließlich können Anzeichen für eine gegen Christen gerichtete
Gruppenverfolgung auch nicht in der Art und Weise festgestellt werden, wie
christliche Wehrpflichtige in der türkischen Armee behandelt werden. Insoweit
liegen allerdings unterschiedliche Auskünfte und Stellungnahmen vor. So hat das
Auswärtige Amt im Juni und November 1984 berichtet, Christen hätten in der
türkischen Armee nach allen bisherigen Erkenntnissen in aller Regel weder seitens
ihrer Vorgesetzten noch seitens ihrer Kameraden mit diskriminierenden
Handlungen zu rechnen; wenn ein Christ allerdings die Tatsache seines Glaubens
demonstrativ deutlich mache, seien Sticheleien und gelegentliche Übergriffe
seiner Kameraden nicht auszuschließen (37., 40.). Im Oktober 1985 hat das
Auswärtige Amt darüber hinausgehend berichtet, daß zuverlässigen Angaben
Auswärtige Amt darüber hinausgehend berichtet, daß zuverlässigen Angaben
zufolge regelmäßig beim ersten Gesundheitsappell nach der Einberufung von
Vorgesetzten im Unteroffiziersrang hämische Bemerkungen über die "dreckigen
Christenschweine" gemacht würden, die noch nicht einmal eine so elementare
hygienische Maßnahme wie die Beschneidung durchführen ließen; einfache
Rekruten in normalen Einheiten sähen sich leicht infolge der Schikanen der
Unteroffiziere und der Kameraden einem zumindest subjektiv als unwiderstehlich
empfundenen Druck ausgesetzt, der viele veranlasse, den geforderten Eingriff
"freiwillig" vornehmen zu lassen (47.). Im Dezember 1987 hat das Auswärtige Amt
wiederum die Auskunft gegeben, es sei von gezielten Schikanen gegen Christen
während des Wehrdienstes nichts bekannt geworden; außerdem hat es berichtet,
es seien keine Fälle von Zwangsbeschneidungen mehr bekannt geworden (56.).
Dagegen sprechen andere Quellen teilweise in pauschaler Form, teilweise aber
auch sehr dezidiert von Zwangsbeschneidungen christlicher Wehrpflichtiger in der
Türkei. Die Sachverständige Dr. Hofmann (42.) berichtet aufgrund zahlreicher
Gespräche mit Betroffenen, die Diskriminierungen reichten von der verbalen
Beleidigung ("schmutziges Christenschwein", "Gavur") bis hin zur schweren
Körperverletzung, an denen Kameraden und Vorgesetzte beteiligt seien; bis in die
Gegenwart (Februar 1985) würden christlichen Soldaten Gewalt und
Zwangsbeschneidung zumindest angedroht, die Androhung der
Zwangsbeschneidung begleite die männlichen Christen durch alle
Lebensabschnitte, sei aber während des Militärdienstes besonders virulent. Dem
Sachverständigen Prof. Wiesner (43.) sind Versuche der zwangsweisen Bekehrung
und der Zwangsbeschneidung während des Militärdienstes dagegen nicht bekannt
geworden; er hält derartige Angaben von Asylbewerbern für Greuelmärchen und
begründet im einzelnen seine Bedenken gegen die Wahrheit entsprechender
Erzählungen. Auch der Sachverständige Dr. Binswanger (44.; ähnlich 61.) gibt an,
Fälle von Zwangsbeschneidungen christlicher Soldaten während ihrer
Militärdienstzeit seien unbekannt, ein offenes Geheimnis sei hingegen die
körperliche Mißhandlung durch sadistische Unteroffiziere, deren Haltung in
seltenen Fällen auch muslimische Wehrpflichtige treffe; diskriminiert würden die
Christen insofern, als Wehrpflichtige mit Abitur nicht wie sonst in der Regel als
Offiziersanwärter rekrutiert würden. Der Sachverständige Dr. Oehring (45.) hat
noch im Frühjahr 1985 erfahren, daß christliche Soldaten generell mit den
unangenehmsten Aufgaben betraut werden und Pöbeleien an der Tagesordnung
und Übergriffe nicht ausgeschlossen seien; Zwangsbeschneidungen oder
zumindest entsprechende Drohungen kämen vor, allerdings "nicht überall und
nicht immer". Demgegenüber hat ein Zeuge in einem Verfahren vor dem
Verwaltungsgericht Gelsenkirchen nähere Angaben über einzelne Fälle von
Zwangsbeschneidungen gemacht (53.). Er ist 16 Monate lang bis Juli 1985
Militärarzt in der Osttürkei gewesen und hat während seiner Dienstzeit etwa 90
christliche Rekruten kennengelernt. Seinen Angaben zufolge kann er nicht als
Augenzeuge bestätigen, daß jemand beim Militär einer gewaltsamen
Zwangsbeschneidung unterzogen worden ist; er hat allerdings glaubhaft bezeugt,
daß man auf andere Weise Personen gezwungen hat, sich beschneiden zu lassen.
Er selbst habe die Beschneidung einiger Soldaten, die zu ihm zur
Zwangsbeschneidung geschickt worden seien, abgelehnt. Er habe aber mit
eigenen Augen gesehen, daß man in dem Militärkrankenhaus von Agri einen
christlichen Soldaten beschnitten habe, der bei einem späteren Gespräch
offenbart habe, daß er nur unter Zwang die Beschneidung habe vornehmen
lassen; er sei nämlich nach seiner anfänglichen Weigerung "vom Schreibdienst
zum Toilettenplatz degradiert" und dann auch noch wiederholt geschlagen worden.
Er wisse, daß 30 bis 40 christliche Soldaten der Beschneidung im Krankenhaus
unterzogen worden seien; er habe diese Soldaten aus den üblichen
Generaluntersuchungen, die alle drei Monate stattfänden, gekannt, und alle hätten
ihm unter vier Augen bedeutet, sie seien auf keinen Fall zur Beschneidung bereit
gewesen. Wenn nach alledem auch nicht auszuschließen ist, daß christliche
Wehrpflichtige von Kameraden und auch von Vorgesetzten mit mehr oder weniger
Druck gezwungen worden sind -- und weiterhin gezwungen werden --, sich
beschneiden zu lassen, so kann doch andererseits nicht festgestellt werden, daß
christliche Wehrpflichtige allgemein mit einer derartigen Behandlung im Militär in
dem Sinne zu rechnen hatten oder haben, daß daraus auf eine direkte
Kollektivverfolgung aller Christen oder zumindest aller christlichen Wehrpflichtigen
geschlossen werden kann. Anhaltspunkte dafür, daß die militärische Führung
derartige Übergriffe duldet oder gar fördert, bestehen nämlich nicht (vgl. aber 59.;
61.). Selbst wenn angesichts der straffen Disziplin in den türkischen Streitkräften
unterstellt wird, daß die Beschwerde eines Soldaten zumindest in den unteren
Rängen nicht akzeptiert würde und die Folgen für den Soldaten eher negativ
wären, besteht schon im Hinblick auf die geringe Anzahl nachgewiesener Fälle
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wären, besteht schon im Hinblick auf die geringe Anzahl nachgewiesener Fälle
wirklicher Zwangsbeschneidungen und die fehlende Förderung oder zumindest
Duldung durch nicht nur untergeordnete Stellen im türkischen Militär kein
genügender Anhalt für eine asylrechtliche Zurechenbarkeit derartiger Vorfälle (vgl.
Hess. VGH, 14. 10.1987 -- 12 TE 1770/84 --, EZAR 633 Nr. 13; ähnlich auch VGH
Baden-Württemberg, 23.07.1984 -- A 13 S 267/84 --, bestätigt durch BVerwG,
22.04.1986 -- 9 C 318.85 u.a. --, BVerwGE 74, 160 = EZAR 202 Nr. 8), geschweige
denn für eine unmittelbare Verantwortlichkeit des türkischen Staats.
bb) Darüber hinaus waren die Christen in der Türkei, insbesondere in der
Südosttürkei in dem hier maßgeblichen Zeitraum auch keiner mittelbaren
staatlichen Kollektivverfolgung in der Weise ausgesetzt, daß sie von anderen
Bevölkerungsgruppen ihrer Religion und ihres christlichen Bekenntnisses wegen
verfolgt wurden und hiergegen staatlichen Schutz nicht erhalten konnten.
In diesem Zusammenhang ist es nicht erforderlich, die Ursachen der oben
(unter II. 2. a) dargestellten Abwanderungsbewegungen aus den ursprünglich
ausschließlich oder zumindest überwiegend christlichen Dörfern nach Mardin und
Midyat und vor allem nach Istanbul und von dort aus ins Ausland im einzelnen zu
ermitteln. Tatsächlich sind die Christen den Anwerbeaktionen der
westeuropäischen Wirtschaft seit Beginn der 60er Jahre wohl dank ihrer besseren
Ausbildung und ihrer größeren Flexibilität eher gefolgt als die in der Südosttürkei
lebenden Kurden und haben dann nach und nach ihre Familien in die
Bundesrepublik Deutschland und andere westeuropäische Länder nachgeholt. Eine
gewisse Rolle mag anfangs auch die allgemein in der Türkei zu beobachtende
Landflucht gespielt haben, die die Einwohnerzahl von Istanbul auf jetzt acht bis
zehn Millionen hat anwachsen lassen (1., S. 111; 18., S. 20). Wie bereits oben
(unter II. 2. b aa) festgestellt, haben zudem viele Priester im Zuge der
Gastarbeiterwanderung ihre syrisch-orthodoxen Gemeinden im Tur'Abdin
verlassen und sind gegen den Willen der Kirchenleitung nach Europa und nach
Übersee ausgewandert (49., S. 3), was zusätzlich zu einer Destabilisierung der
gewachsenen Siedlungsstrukturen der Christen in der Südosttürkei beigetragen
hat. Schließlich haben auch die Ereignisse um Zypern, im Libanon und im Iran
sowie allenthalben feststellbare Islamisierungstendenzen zu einer Verhärtung des
Verhältnisses zwischen Christen und muslimischen Kurden im Tur'Abdin
beigetragen. Ungeachtet der im einzelnen maßgeblichen Gründe für die
Bevölkerungsbewegungen, die durchaus umstritten sein mögen, wurde aber seit
Mitte der 70er Jahre aus dem Gebiet um Midyat über eine auffällige Zunahme
schwerer Übergriffe der muslimischen Mehrheit (meist Kurden) gegen Christen
berichtet, und zwar über Morde, Mordversuche, Entführungen,
Zwangsbeschneidungen, Viehdiebstähle, Landnahme, Sachbeschädigungen und
Plünderungen (vgl. dazu etwa: Schreiben eines syrisch-orthodoxen Ortsvorstehers
an den türkischen Staatspräsidenten vom März 1976, zitiert in 1., S. 112 f.; 3., S.
46 f.; Schilderungen in der Zeitschrift "Egartho" zitiert in 1., S. 115 f.; 5., S. 32 ff.
und 106 ff.; 8., S. 5; 14.; 16.; 36., S. 17 ff.). Gleichzeitig wurde allgemein
beanstandet, daß staatliche Stellen, wenn sie um Hilfe angegangen wurden,
entweder überhaupt nicht tätig geworden sind oder aber sogar offen zum
Ausdruck gebracht haben, sie lehnten es ab, Christen Schutz zu gewähren (vgl.
etwa: 4., S. 3, 5; 5., S. 34; 15.). Außerdem wurde betont, ähnliche Gewalttaten
Syrisch-Orthodoxer seien, wenn sie vereinzelt vorgekommen seien, auch verfolgt
worden (9., S. 21). Für die zahlreichen Übergriffe gegenüber syrisch-orthodoxen
Christen seien beispielhaft folgende Ereignisse erwähnt: Raubüberfall auf einen
Priester auf der Fahrt zwischen Ado und Midyat Anfang 1978 (1., S. 115); Überfall
auf einen Pfarrer in Gölgöze am 30. April 1978, dabei zwei Verwandte erschossen
(1., S. 116); Entführung eines christlichen Mädchens einen Tag vor der Hochzeit,
Anrufung der Gerichte blieb ohne Erfolg (5., S. 34 f.); Entführung eines 13jährigen
Mädchens am 19. Februar 1979 durch drei Kurden, trotz Gerichtsentscheidung
keine polizeilichen Maßnahmen wie Festnahme der Entführer und Vorführung des
Mädchens bei Gericht (5., S. 36; ähnliche Fälle in 11., S. 7, 9); Landwegnahme
1948, vor Gericht erfolgreicher Christ anschließend ermordet, 1958 Mord an zehn
Christen, die ebenfalls gerichtliche Verfahren zur Wiedererlangung ihres Besitzes
angestrengt hatten (5., S. 37 f.); Mord an dem letzten in Kerburan verbliebenen
Christenführer am 29. Oktober 1978 nach Ermordung und allmählicher
Verdrängung der ursprünglich mehrheitlich christlichen Bevölkerung (3., S. 50; 5.,
S. 40; vgl. dazu auch 11., S. 5).
Bei der Frage nach den Ursachen für die danach seit Mitte der 70er Jahre
vermehrt feststellbaren Beeinträchtigungen der Christen durch die muslimische
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vermehrt feststellbaren Beeinträchtigungen der Christen durch die muslimische
Bevölkerung im Tur'Abdin werden teils die Auswirkungen der Verfolgung weniger
schwerwiegend dargestellt, teils die religionsbezogene Motivation der Verfolger
bezweifelt und teils die Einstellung der staatlichen Stellen zu diesen Maßnahmen
der andersgläubigen Mitbürger nicht so gewertet und eingeschätzt, daß den
Christen der erforderliche staatliche Schutz gegen private Übergriffe ihrer Religion
wegen verwehrt wurde. So bestätigen etwa auch andere als die bereits erwähnten
Quellen gewalttätige Auseinandersetzungen und existenzbedrohende Übergriffe
im Südosten der Türkei (2., S. 2; 17.) und die Gefahr administrativer Schikanen
sowie die Schutzlosigkeit gegenüber gesetzlosen Zuständen vor der
Machtübernahme durch das Militär im September 1980 (15.). Andererseits wird
aber darauf hingewiesen, daß unter schwierigen Lebensverhältnissen und der
gesetzlosen Lage vor September 1980 auch die übrige Bevölkerung zu leiden
gehabt habe, die Abwanderung aus dem Tur'Abdin vorwiegend wirtschaftliche und
soziale Gründe habe und die Wanderungsbewegung bei den Christen nicht stärker
sei als bei der übrigen Bevölkerung (vgl. vor allem 18., S. 23 ff., 31 ff.). Während
das Auswärtige Amt als Ursachen für die Abwanderung neben religiösen
Spannungen sowohl wirtschaftliche Schwierigkeiten als auch die in
Gewalttätigkeiten ausufernden Streitigkeiten aus sprachlichen, sozialen und
ethnischen Motiven nennt, räumt es doch gleichzeitig ein, Christen hätten teilweise
existenzbedrohende Benachteiligungen erlitten und seien gewalttätigen
Übergriffen ausgesetzt gewesen, gegen die ausreichender staatlicher Schutz
besonders in schwer zugänglichen ländlichen Gebieten häufig nicht habe gewährt
werden können, so daß praktisch die christliche Minderheit oftmals gewalttätigen
Übergriffen schutzlos preisgegeben gewesen sei (2., S. 2). Wenn Wiskandt
bezweifelt, daß Christen aus dem Tur'Abdin in wesentlich größerem Ausmaß als
Kurden abgewandert sind (18., S. 23 ff., besonders S. 28), so fällt auf, daß er die
Anzahl der in der Provinz Mardin lebenden Syrisch-Orthodoxen aus einer offiziellen
Einwohnerstatistik und eigenen Berechnungen ableitet, während die oben (unter II.
2. a) erwähnten Zahlenangaben anderer Autoren zwar vorwiegend auf
Schätzungen beruhen, aber insgesamt zutreffender erscheinen, weil dort der
Bevölkerungsrückgang bei den Christen zum größten Teil durch die Nennung von
Ortsnamen und exakten Einwohnerzahlen belegt ist. Es mag zutreffen, daß die
historischen Fakten in den epd-Dokumentationen (5. und 36.) nicht immer neutral
dargestellt sind und die religiösen Bezüge dort ebenso einseitig in den
Vordergrund gestellt werden wie von Yonan (1.) der Prozeß der Entwicklung einer
assyrischen Nation. Abgesehen aber davon, daß Wiskandt seine Befragungen
offenbar ohne die in solchen Situationen wichtige Vertrauensbasis zu den
befragten Personen und ohne Bekanntgabe seines Auftrags durchgeführt hat, ist
in seinem Gutachten an zahlreichen Stellen nachzuweisen, daß seine
Ausführungen nicht völlig frei sind von Vorverständnissen und festliegenden
persönlichen Positionen, die die Beantwortung der ihm gestellten Fragen teilweise
beeinflußt haben könnten (vgl. dazu im einzelnen 23., 24., 25.). So wirft er der
ersten epd-Dokumentation offen bewußte Zahlenmanipulation vor (S. 27, 29),
polemisiert gegen die "hiesige Lobby der Sürjannis" (S. 65) und beschreibt die
"Erfolge" der Militärregierung ohne jede Einschränkung (S. 20 ff.), obwohl
Vorbehalte gegen die Politik der Militärregierung angesichts zahlreicher Proteste
gegen Menschenrechtsverletzungen in der Türkei zumindest erwähnenswert
gewesen wären.
Nach alledem vermag der Senat nicht festzustellen, daß die Christen in der
Türkei -- und zwar auch im Tur'Abdin -- in ihrer Gesamtheit im Zeitraum von etwa
1973 bis Ende 1979 in der Weise mittelbar aus religiösen Gründen verfolgt worden
sind, daß sie als Angehörige der christlichen Minderheit gewalttätigen Übergriffen
mit Gefahren für Leib und Leben und die persönliche Freiheit durch die
muslimische Bevölkerung ausgesetzt waren und der türkische Staat diese
Verfolgungsmaßnahmen entweder gebilligt oder zumindest tatenlos
hingenommen und damit den Christen den erforderlichen staatlichen Schutz
versagt hat. Die dargelegten Verhältnisse stellen sich allerdings so dar, daß in
zahlreichen Einzelfällen tatsächlich syrisch-orthodoxe Bewohner des Tur'Abdin von
muslimischen Mitbürgern umgebracht, verletzt, entführt oder beraubt worden sind,
ohne daß die zuständigen staatlichen Behörden hiergegen eingeschritten sind,
obwohl ihnen dies möglich gewesen wäre (vgl. z.B. die Fälle in den vom 10. Senat
des Hess. VGH entschiedenen Verfahren X OE 847/81 und X OE 1131/81).
3. War die Klägerin danach bis zu ihrer Ausreise keiner Gruppenverfolgung
ausgesetzt, so war sie doch persönlich von Verfolgungsmaßnahmen betroffen.
Derartige Verfolgung ging zwar nicht unmittelbar vom Staat aus -- etwa durch
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Derartige Verfolgung ging zwar nicht unmittelbar vom Staat aus -- etwa durch
Ausbürgerung -- (a); die Klägerin war aber jedenfalls in Istanbul religiös motivierten
Übergriffen muslimischer Mitbürger ausgesetzt und konnte staatlichen Schutz
hiergegen nicht wirksam in Anspruch nehmen (b).
a) Ob eine Ausbürgerung der Klägerin seitens des türkischen Staates, wäre
sie erfolgt, asylrechtliche Bedeutung hätte, bedarf keiner Klärung (vgl. hierzu
Kanein/Renner, Ausländerrecht, 4. Aufl. 1988, 2 GG/GK, RdNr. 54, u.
Marx/Strate/Pfaff, Asylverfahrensgesetz, 2. Aufl. 1987, § 1, RdNrn. 173 ff., jeweils
m.w.N.). Denn die Klägerin bezweifelt zu Unrecht, daß sie die türkische
Staatsangehörigkeit besitzt. Sie hat hierzu ohnehin nur -- mehr beiläufig --
vortragen lassen, ihrer Familie könne "nicht widerlegt werden ..., daß sie willkürlich
ausgebürgert worden ist" (vgl. Schriftsatz vom 31. August 1984). Bei ihrer
Vernehmung durch den Berichterstatter des Senats am 19. Oktober 1988 hat sie
auf Befragen zu ihrer Staatsangehörigkeit lediglich bekundet, ihre Mutter habe
geäußert, daß sie -- also die Familienangehörigen -- "keine Türken mehr seien";
konkrete Anhaltspunkte dafür seien ihr, der Klägerin, aber nicht bekannt. Dafür,
daß die Klägerin nach wie vor türkische Staatsangehörige ist, spricht
demgegenüber, daß ihr im Jahre 1979 Nüfus und Nationalpaß von der zuständigen
Behörde ausgestellt, daß ihre Papiere bei der Ausreise offenbar nicht beanstandet
und daß eine Verlängerung des Passes vom türkischen Generalkonsulat in
Frankfurt am Main nur unter Hinweis auf das von ihr betriebene Asylverfahren
abgelehnt wurde, vor allem aber, daß ausweislich einer im Klageverfahren der
Mutter der Klägerin eingeholten Auskunft der Botschaft der Bundesrepublik
Deutschland in Ankara, die ihrerseits beim zuständigen Personenstandsamt in M
angefragt hatte, vom 15. August 1984 (Bl. 95 der Akte VG Kassel II/3 E 8025/85)
die Klägerin und ihre Geschwister trotz der Ausbürgerung ihrer Mutter die türkische
Staatsangehörigkeit behalten haben.
b) Die Klägerin war vor ihrer Ausreise in der Türkei zwar nicht an dem
früheren Wohnort der Familie, wohl aber in Istanbul von dem türkischen Staat
zurechenbaren religiös motivierten Übergriffen muslimischer Eiferer betroffen. Ihre
Angaben zu ihrem Lebensschicksal und zu den Gründen und Umständen ihrer
Ausreise sind trotz einer Vielzahl von Widersprüchlichkeiten und Ungereimtheiten
doch -- soweit sie entscheidungserheblich sind -- im wesentlichen glaubhaft.
Danach steht fest, daß die Familie der Klägerin zunächst in dem Dorf M gelebt
hat, das -- den weitgehend übereinstimmenden Angaben der Klägerin im
Schriftsatz vom 31. August 1984 sowie ihrer Mutter und ihrer Brüder I und B in
deren Asylverfahren zufolge (Bl. 6 u. 27 der Bundesamtsakte 163/70294/80 und Bl.
44 der Akte VG Kassel II/3 E 8025/85) -- ca. zwei oder drei Kilometer bzw. 15
Minuten Fußweg nordöstlich von M liegt und dessen Bevölkerung bis zum Ersten
Weltkrieg rein christlich war, während etwa 1960 dort noch ca. 10 christliche
Familien und im übrigen Moslems -- im Jahre 1975 waren es 1656 Personen --
lebten. Daß das Dorf M in der Aufstellung von Dörfern mit assyrischer Bevölkerung
im Tur'Abdin bei Yonan (1., S. 117 f.) nicht enthalten ist, steht den vorstehend
dargelegten Erkenntnissen des Senats nicht entgegen, zumal die betreffende
Aufstellung selbst keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Ebensowenig mißt
der Senat dem Umstand durchgreifende Bedeutung bei, daß in den vorliegenden
Akten der Klägerin und ihrer Verwandten unterschiedliche Schreibweisen des Ortes
auftauchen (etwa "M", "M" und "M").
Dahinstehen kann, ob die Klägerin in der Gegend von M oder in Istanbul
geboren ist. Freilich sind die diesbezüglichen Angaben der Klägerin höchst
widersprüchlich. Während sie nämlich in ihrem Asylantrag vom 27. Dezember 1979
noch -- im Einklang mit Paß und Nüfus -- erklärt hatte, sie sei am ... Januar 1957
während eines Besuchsaufenthalts ihrer Eltern in Istanbul geboren, und sie diese
Angaben sowohl bei der Ausländerbehörde am 15. Januar 1980 als auch bei der
Vorprüfungsanhörung durch das Bundesamt am 15. Juni 1981 bestätigt hatte,
bekundete sie bei ihrer Vernehmung durch den Berichterstatter des Senats am
19. Oktober 1988, sie sei 1957 in M geboren und dies habe sie auch schon vor
dem Bundesamt gesagt; wenn dennoch "Istanbul" in die Niederschrift
aufgenommen worden sei, so beruhe dies wohl auf der betreffenden Eintragung im
Paß. Demgegenüber hatte die Klägerin bereits am 12. Oktober 1988 gemeinsam
mit ihrer Mutter vor einem Notar eidesstattlich versichert, daß sie am 15. Juli 1963
in Istanbul geboren sei, wobei nicht zweifelsfrei ersichtlich ist, wer oder was --
möglicherweise die Aussicht auf eine dann einfachere Verheiratung (vgl.
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möglicherweise die Aussicht auf eine dann einfachere Verheiratung (vgl.
Schriftsatz des Bevollmächtigten der Klägerin vom 2. Dezember 1988) -- sie zur
Abgabe der eidesstattlichen Versicherung veranlaßt hatte. Mit diesen Angaben ist
die Äußerung der Klägerin bei der Vorprüfungsanhörung, sie sei 1960 nach Istanbul
gezogen, nicht in Einklang zu bringen. Demgegenüber hatte sie in ihrem
Asylantrag vom 27. Dezember 1979 noch mitgeteilt, zusammen mit der Mutter
und drei Geschwistern -- also wohl J, Y und I (wobei letzterer erst am ... Januar 1962
geboren ist) -- nach Istanbul geflohen zu sein. Bei ihrer Vernehmung am 19.
Oktober 1988 hat sie -- über die letztgenannte Variante hinaus -- bekundet, auch
ihr Bruder B sei auf jeden Fall noch in M geboren, und im übrigen habe sie bei der
Vorprüfungsanhörung das Jahr 1960 nicht ausdrücklich benannt. Alle diese
erheblich differierenden Angaben -- insbesondere aber die im Oktober 1988 binnen
nur einer Woche gemachten zum Geburtsort und zum Geburtsdatum -- lassen
Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Klägerin aufkommen, denen indessen im
vorliegenden Zusammenhang nicht nachgegangen zu werden braucht, weil es auf
den Geburtsort der Klägerin nicht entscheidend ankommt. Uneinheitlich sind
übrigens auch die insoweit bedeutsamen Angaben in den Akten der übrigen
Familienmitglieder. So hat die Mutter der Klägerin vorgetragen, der Umzug der
Familie sei etwa Mitte der 60er Jahre erfolgt, denn alle Kinder -- ausgenommen Z --
seien noch in der Provinz M geboren (Bl. 44 der Akte VG Kassel II/3 E 8025/85).
Dem entsprechen die Bekundungen des Bruders I der Klägerin in dessen
Asylverfahren, wonach der Umzug erst nach seiner Geburt durchgeführt worden
sei (Bl. 30 und 172 der Akte VG Kassel IV/3 E 8133/83). Andererseits erwecken die
Angaben des Bruders Y -- der keinen Zweifel daran hat erkennen lassen, daß er
am ... Januar 1960 in Istanbul geboren ist (Bl. 184 der Akte VG Kassel VI/3 E
8008/83) -- in dessen Asylantrag (Bl. 3 der Bundesamtsakte Tür-T-16299) den
Eindruck, als sei der Umzug noch im Jahre 1960 erfolgt; dementsprechend hatte
die Mutter bei ihrer Vorprüfungsanhörung erklärt, sie hätten die letzten 20 Jahre
vor der Ausreise -- die im Mai 1980 erfolgt ist -- in Istanbul gelebt (Bl. 27 der
Bundesamtsakte 163/70294/80). Den Paßeintragungen dürfte hinsichtlich
Geburtsdatum und -ort ein sonderlicher Beweiswert nicht zukommen, denn nach
Angaben der Schwester J etwa hat die Paßbehörde als Geburtsort "Istanbul"
eingetragen, weil sie, obgleich sie aus M stamme, hierauf bestanden habe (Bl. 11
der Bundesamtsakte Tür-T-18926).
Mag die Klägerin nach alledem entweder in M oder in Istanbul geboren sein, so
steht zur Überzeugung des Senats doch fest, daß jedenfalls ihr in M
Asylerhebliches nicht widerfahren ist. Sie hat bei ihrer Vernehmung am ... 19.
Oktober 1988 bekundet, daß sie sich selbst nur an wenig aus dieser Zeit erinnern
könne, das Wesentliche lediglich aus Erzählungen ihrer Mutter wisse und wegen
Einzelheiten eine Befragung älterer Personen sinnvoller sei. Demgemäß hat sie
von sich aus nur mitgeteilt, daß ihr Vater in M eines Tages überfallen und
mißhandelt worden sei. Davon, daß ein weiterer Bruder von ihr seinerzeit
umgekommen sei, hat sie erst auf nachdrückliches Befragen berichtet. Sie hat
auch nicht sicher angeben können, ob der Überfall auf den Vater im Geschäft oder
in der Wohnung erfolgt ist und ob der Bruder im Zusammenhang damit oder bei
anderer Gelegenheit zu Tode gekommen ist. Bei alledem läßt sich aus dem Tod
ihres ältesten Bruders Y am 15. Januar 1960 und der möglicherweise am selben
Tage erfolgten Verletzung ihres Vaters, die letztlich für dessen Tod im Jahre 1979
in irgendeiner Weise ursächlich gewesen sein könnte -- ohne daß es einer näheren
Aufklärung der damaligen, von den übrigen Familienangehörigen unterschiedlich
geschilderten Umstände bedarf (vgl. etwa Bl. 4 der Bundesamtsakte
163/70294/80, Bl. 3 und 22 der Bundesamtsakte Tür-T-16299, Bl. 43 der Akte VG
Kassel II/3 E 8025/85 und Bl. 173 der Akte VG Kassel IV/3 E 8133/83) -- jedenfalls
keine Vorverfolgung der seinerzeit entweder gerade drei Jahre alten oder noch gar
nicht geborenen Klägerin herleiten.
Es ist auch nicht dargetan, daß die muslimischen Einwohner aus M und den
umliegenden Dörfern sich die zwangsweise Bekehrung der christlichen Einwohner
des Dorfes M zum Ziel gesetzt hatten. Eine Erklärung dafür, daß die Mehrzahl der
christlichen Familien den Ort seit dem Ersten Weltkrieg verlassen hat, kann
ebensogut darin gefunden werden, daß es früher zu Übergriffen gekommen ist und
es sich dabei um gewöhnliche Straftaten handelte, bei denen es die Täter in der
Hauptsache auf den Besitz der Christen, insbesondere auf deren Viehherden und
Erntegut sowie unter Umständen auch auf deren Felder und Weinberge abgesehen
hatten. Die Vorfälle, die die christlichen Bewohner von M zur allmählichen
Abwanderung bewogen haben, stehen demnach zwar in Beziehung zu ihrer
Religionszugehörigkeit und zu ihrer Eigenschaft als Bewohner eines christlichen
Dorfes in einer weitgehend muslimischen Umgebung. Sie erlauben damit aber
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Dorfes in einer weitgehend muslimischen Umgebung. Sie erlauben damit aber
noch nicht -- weder für sich genommen noch im Zusammenhang gesehen -- den
Schluß, daß die Klägerin, sofern sie nicht erst im Jahre 1963 in Istanbul geboren ist,
zu den Christen gehörte, in deren Person sich der oben beschriebene Zustand
einer latenten allgemeinen Gefährdung und Verdrängung der Christen aus der
Osttürkei zu einer individuellen Verfolgung oder unmittelbaren Verfolgungsgefahr
verdichtet hatte.
Die Klägerin ist nach Überzeugung des Senats aber in Istanbul, wo sie sich,
sofern sie nicht am ... Juli 1963 dort geboren ist, spätestens seit Mitte der 60er
Jahre aufgehalten hat, in asylrechtlich erheblicher Weise verfolgt worden.
Soweit die Klägerin sich auf körperliche Mißhandlungen während ihres
Grundschulbesuchs in Istanbul beruft, kann eine asylerhebliche Vorverfolgung
allerdings nicht festgestellt werden. Zwar hat die Klägerin sowohl bei der
Vorprüfungsanhörung am 15. Juni 1981 als auch bei ihrer Vernehmung am 19.
Oktober 1988 substantiiert dargelegt, daß ihre Cousine B vom Lehrer derart
geschlagen worden sei, daß ihr Trommelfell beschädigt worden oder geplatzt sei.
Abgesehen davon, daß diesem Vorbringen nicht zu entnehmen ist, ob den
betreffenden Schlägen des Lehrers eine asylrelevante Motivation zugrunde lag
oder ob er möglicherweise nur eine körperliche Züchtigung für angebracht hielt,
fehlt es schon an substantiierten Ausführungen hinsichtlich der Mißhandlungen
und Schläge, die die Klägerin selbst ihren Angaben zufolge zu erdulden hatte.
Zudem wären -- bei Asylerheblichkeit im übrigen -- entsprechende Maßnahmen
einzelner Lehrer dem türkischen Staat nicht ohne weiteres zurechenbar, zumal die
Klägerin nicht einmal behauptet hat, daß ihre Eltern sich beim Schulleiter
beschwert hätten (vgl. hierzu auch oben unter II. 2. b aa).
Soweit die Klägerin im Laufe des Asylverfahrens über Schwierigkeiten bei
verschiedenen Arbeitsstellen in Istanbul geklagt hat, vermag der Senat eine
asylerhebliche Vorverfolgung ebenfalls nicht zu erkennen. Auffällig ist zunächst,
daß (auch) das diesbezügliche Vorbringen der Klägerin bei der
Vorprüfungsanhörung am 15. Juni 1981, bei ihrer informatorischen Anhörung vor
dem Verwaltungsgericht am 26. September 1985 und bei ihrer Vernehmung am
19. Oktober 1988 eine Vielzahl von Ungereimtheiten und Widersprüchlichkeiten
aufweist, was die zeitliche Abfolge der einzelnen Arbeitsstellen, die
Beeinträchtigungen durch Kolleginnen oder Kollegen sowie die Einzelheiten
betreffend die Inanspruchnahme polizeilicher Hilfe angeht. Dennoch hält der Senat
die Klägerin in Anbetracht ihrer intellektuell einfach strukturierten Persönlichkeit,
ihrer fehlenden Schulbildung, ihres mangelnden Verständnisses für zeitliche
Zusammenhänge und für die Bedeutung von Einzelheiten sowie unter
Berücksichtigung von nicht auszuschließenden Übertragungsfehlern und
Mißverständnissen bei früheren Verlautbarungen insgesamt gesehen nicht für
unglaubwürdig. Hinsichtlich des Vorbringens der Klägerin betreffend Arbeitsstellen
in Istanbul geht der Senat zu ihren Gunsten davon aus, daß sie während des
Zypern-Kriegs im zweiten Halbjahr 1974 Ziel von Bedrohungen von Kollegenseite
war -- wobei dies freilich nur zutreffen kann, wenn die Klägerin nicht erst im Juli
1963 geboren ist --, daß sie ferner -- obgleich sie hierauf bei ihrer Vernehmung am
19. Oktober 1988 erst auf nachdrückliches Befragen zu sprechen gekommen ist --
von Kollegenseite mit einem Messer an der Unterseite des rechten Handgelenks
verletzt worden ist und daß sie auch sonst am Arbeitsplatz vielfältigen
Belästigungen und Beschimpfungen ausgesetzt war. Indessen ist der Klägerin
ihren Angaben zufolge in keinem Fall vom Arbeitgeber gekündigt worden; sie blieb
vielmehr jeweils von sich aus den betreffenden Arbeitsstellen fern und fand auch
immer wieder einen neuen Arbeitsplatz, obgleich sie bei ihrer Einstellung jeweils
den Nüfus vorlegen mußte und daraus ihre Religionszugehörigkeit zu entnehmen
war. Die vorgetragenen Übergriffe waren demnach -- mit Ausnahme der
Verletzung am Handgelenk -- schon nicht von asylrechtlich beachtlicher Intensität.
In dem hiernach verbleibenden Fall will sich die Klägerin -- der letzten Version ihrer
Aussage bei der Vernehmung am 19. Oktober 1988 zufolge -- an die Polizei
gewandt und auch die Namen der Täter genannt haben; ihr sei nach
Einsichtnahme in den Nüfus erklärt worden, man werde der Sache nachgehen, sie
habe aber nichts mehr davon gehört. Daraus ist indessen nicht zu entnehmen,
daß die Polizei untätig geblieben ist; vielmehr kann nicht ausgeschlossen werden,
daß Ermittlungen an der Arbeitsstelle stattgefunden haben, von denen die Klägerin
nur deshalb nichts erfahren hat, weil sie nach ihren Angaben bei der Vernehmung
am 19. Oktober 1988 ihren Arbeitsplatz nach der Anzeigeerstattung nicht
nochmals aufgesucht, sondern sogleich aufgegeben hat. Der mit der Verletzung
am Handgelenk verbundene Übergriff ist deshalb dem türkischen Staat nicht
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am Handgelenk verbundene Übergriff ist deshalb dem türkischen Staat nicht
zurechenbar.
Indessen ist die Klägerin -- wie das Verwaltungsgericht zu Recht angenommen
hat -- deshalb als in Istanbul vorverfolgt anzusehen, weil dort ihre Entführung mit
der Folge anschließender Zwangsverheiratung und -bekehrung bereits versucht
worden und der türkische Staat zur effektiven Schutzgewährung außerstande
gewesen ist. Freilich fällt auch hier auf, daß die betreffenden Darstellungen der
Klägerin und der seinerzeit (teilweise) anwesenden Familienangehörigen -- vor
allem der Mutter und des Bruders I -- jedenfalls in Einzelheiten stark differieren und
daß der Hergang -- bei Zugrundelegung allgemeiner Erfahrungssätze -- nicht in
jeder Hinsicht nachvollziehbar ist. So lassen die Ausführungen der Mutter und des
Bruders I nicht erkennen, daß die Entführer zweimal ins Haus gekommen sein
sollen. Außerdem gehen die Angaben zum Zeitpunkt der Entführungsversuche
auseinander; sie bewegen sich zwischen einem Jahr und einem Tag vor der
Ausreise der Klägerin (vgl. einerseits Bl. 174, andererseits Bl. 76 der Akte VG
Kassel IV/3 E 8133/83). Schließlich gibt es Widersprüche hinsichtlich Anzahl,
Geschlecht und Bewaffnung der Entführer sowie dazu, wie diese jeweils in das Haus
gelangt sind, ferner dazu, ob der Bruder I beim ersten- oder zweitenmal anwesend
war und ob er verletzt worden ist oder nicht, sowie schließlich dazu, woran der
erste Entführungsversuch letztlich gescheitert ist und welches Familienmitglied
diesen bei der Polizei angezeigt hat (vgl. dazu im einzelnen -- außer den eigenen
Angaben der Klägerin -- insbesondere Bl. 46 der Akte VG Kassel II/3 E 8025/85 und
Bl. 76 und 174 der Akte VG Kassel IV/3 E 8133/83). Nicht ohne weiteres
nachvollziehbar ist die Darstellung der Klägerin -- vor allem bei ihrer Vernehmung
am 19. Oktober 1988 --, sie selbst, ihre Mutter und ihr spät nach Hause
gekommener Bruder I hätten beim zweiten Vorfall aus Angst vor einer eventuellen
Wiederkehr der Entführer nicht gewagt, ihr, der Klägerin, unter Gewaltanwendung
gegenüber der als Wache zurückgelassenen Frau die Flucht zu ermöglichen. Aus
den bereits im vorstehenden Absatz dargelegten Erwägungen erachtet der Senat
die Klägerin indessen nicht für insgesamt unglaubwürdig. Er hält auch nicht etwa
das gesamte Vorbringen betreffend Entführung der Klägerin in Istanbul für
unglaubhaft. Vielmehr geht der Senat davon aus, daß die insoweit aufgetretenen
Widersprüche und Ungereimtheiten ihre Erklärung darin finden, daß für die Klägerin
und ihre Verwandten nicht die zeitliche Einordnung und die Einzelumstände,
sondern der Vorfall als solcher bedeutsam sind, daß deshalb Einzelheiten -- zumal
seitdem fast neun Jahre vergangen sind -- in der Erinnerung vor allem der nicht
selbst von der Entführung unmittelbar betroffenen Familienmitglieder weitgehend
verblaßt sind und daß deshalb in den wesentlichen Punkten der Darstellung der
Klägerin gefolgt werden kann. Im übrigen ist -- zugunsten der Klägerin -- aus den
Widersprüchlichkeiten auch zu entnehmen, daß die Familienangehörigen ihre
Angaben offensichtlich nicht untereinander abgesprochen haben. Zur
Überzeugung des Senats steht danach jedenfalls fest, daß ein Muslim, der von
Arbeitskolleginnen der Klägerin ihre Anschrift erfahren hatte, sie zu heiraten
beabsichtigt(e), daß auf dessen Veranlassung einige Zeit (mindestens einen
Monat) vor der späteren Ausreise der Klägerin mehrere Personen zu deren Haus
kamen und sie -- da sie und ihre Familie nicht von sich aus in eine Heirat
einwilligten -- gewaltsam zwangen, mit ihnen zu kommen, daß es der Klägerin
gelang zu entkommen, daß die Polizei Hilfe zusagte, jedoch nichts veranlaßte und
daß die Klägerin -- zumal sich ihre Schwester J und ihr Bruder Y bereits im
Bundesgebiet befanden und ihr Vater nunmehr gestorben war -- vorsorglich die
Ausstellung eines Nationalpasses in die Wege leitete. Weiter steht zur
Überzeugung des Senats fest, daß seitens der an der Klägerin interessierten
Personen wenige Tage vor deren späterer Ausreise erneut mit Nachdruck die
Verheiratungsabsicht zum Ausdruck gebracht worden ist und daß die Klägerin
daraufhin, da sie mit effektivem staatlichem Schutz nicht rechnen konnte, ihre
Wohnung verließ, kurzzeitig anderenorts unterkam und alsdann ausreiste. Aus
diesem mithin feststehenden Sachverhalt ergibt sich, daß die Klägerin als
vorverfolgt anzusehen ist. Denn der mit einer Entführung verbundenen
Freiheitsberaubung folgt typischerweise die Zwangsheirat und damit, sofern es
sich -- wie hier -- bei dem Ehemann um einen Muslimen und bei der entführten
Frau um eine Christin handelt, die zwangsweise Aufgabe der Religionszugehörigkeit
nach. Schon bei der Entführung -- der notwendigen Voraussetzung für die
beabsichtigte Zwangsverheiratung -- zielen die Täter -- jedenfalls, wenn ihnen, wie
hier, die Glaubenszugehörigkeit der Entführten bekannt ist -- auf deren späteren
Wechsel zum Islam ab und handeln deshalb religiös motiviert. Da der türkische
Staat -- wie im vorliegenden Fall und auch sonst in der Regel (vgl. 5., S. 33 ff., 48 f.;
11., S. 4 f.; 7., S. 9) -- den erforderlichen Schutz hiergegen nicht bereitzustellen
vermag, ist dies als mittelbare staatliche Verfolgung ungeachtet dessen zu
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vermag, ist dies als mittelbare staatliche Verfolgung ungeachtet dessen zu
werten, daß im Einzelfall eine politische, d.h. religiöse Motivation auf seiten des
türkischen Staates nicht festzustellen ist; denn bei Übergriffen nichtstaatlicher
Personen oder Gruppen braucht zur Feststellung des Asylanspruchs eine politische
Verfolgungsmotivation lediglich des privaten Verfolgers, nicht aber auch des
letztlich verantwortlichen Staates festgestellt zu werden, wenn dieser zur
Verhinderung der Übergriffe grundsätzlich oder auf gewisse Dauer außerstande ist
(BVerwG, 14.03.1984 -- 9 B 412.83 --, Buchholz 402.25, Nr. 20 zu § 1 AsylVfG).
4. War demnach die Klägerin vor ihrer Ausreise aus der Türkei politisch
verfolgt und legt man demzufolge den herabgeminderten
Wahrscheinlichkeitsmaßstab an (vgl. BVerfG, 02.07.1980 -- 1 BvR 147/80 u.a. --,
BVerfGE 54, 341 = EZAR 200 Nr. 1; BVerwG, 27.04.1982 -- 9 C 308.81 --, BVerwGE
65, 250 = EZAR 200 Nr. 7, 02.08.1983 -- 9 C 599.81 --, BVerwGE 67, 314 = EZAR
203 Nr. 1, 15.10.1985 -- 9 C 3.85 --, EZAR 630 Nr. 22, u. 23.02.1988 -- 9 C 85/87 --
), so kann dennoch ausgeschlossen werden, daß bei einer Rückkehr im jetzigen
Zeitpunkt ihr als Angehörigen einer kollektiv verfolgten Gruppe politische
Verfolgungsmaßnahmen nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit drohen.
Für die Frage, ob die Klägerin bei einer Rückkehr in die Türkei politisch
motivierte Verfolgungsmaßnahmen zu erwarten hat, ist zu unterstellten, daß die
Klägerin allein dorthin zurückkehrt. Insoweit kann nur fiktiv auf eine Rückkehr und
außerdem auf die tatsächlichen Umstände im Zeitpunkt der Prognose und in einer
absehbaren Zeit danach abgestellt werden und nicht darauf, ob die Klägerin aus
asylverfahrensunabhängigen Gründen zum weiteren Verbleib im Bundesgebiet
berechtigt ist und ob etwa einer ihrer Verwandten dazu bereit oder
familienrechtlich verpflichtet wäre, ihr bei einer Rückkehr in die Heimat zu folgen.
Ebensowenig wie ihr ein Rechtsschutzbedürfnis an der Weiterverfolgung ihrer
Asylklage mit dem Hinweis auf die Asylanerkennung von Verwandten
abgesprochen werden kann (vgl. BVerwG, 13.01.1987 -- 9 C 50.86 --, EZAR 204 Nr.
3; Hess. VGH, st. Rspr., vgl. etwa 13.11.1986 -- 10 OE 108/83 -- m.w.N.), kann
umgekehrt bei der Verfolgungsprognose auf die Schutz- und
Aufnahmebereitschaft von Verwandten abgestellt werden, die sich im
Entscheidungszeitpunkt außerhalb des gemeinsamen Heimatlands aufhalten und
nicht bereit sind, dorthin zurückzukehren.
Die Gefahr einer Gruppenverfolgung Syrisch-Orthodoxer in der Türkei vermag
der Senat auch für die Zukunft nicht festzustellen. Wie schon oben (unter II. 2. b)
ausgeführt, hatten die syrisch-orthodoxen Christen bis zur Ausreise der Klägerin
aus der Türkei allgemein in der Türkei und insbesondere auch in Istanbul eine
derartige politische Verfolgung nicht zu befürchten. Inzwischen hat sich die
Sicherheitslage nach der Machtübernahme durch die Militärs im September 1980
allgemein erheblich verbessert, und dies hat sich nach allgemeiner Einschätzung
auch zugunsten der syrisch-orthodoxen Christen in Istanbul wie in anderen
Landesteilen ausgewirkt (vgl. dazu etwa: 18., S. 34; 21.; 26.; 29.; 30.; 37.; 39.; 41.).
Das Auswärtige Amt hat dazu nach eingehenden Gesprächen mit syrisch-
orthodoxen Geistlichen unter Bezugnahme auf einen deutschsprachigen Bericht in
dem Organ der Erzdiözese der syrisch-orthodoxen Kirche von Antiochien in Europa
vom Dezember 1982/Januar 1983 einen zunehmenden staatlichen Schutz für die
syrisch-orthodoxen Christen nach der Machtübernahme durch die Militärs
festgestellt (37.). Die Evangelische Gemeinde deutscher Sprache in der Türkei
berichtet davon, daß von der Geistlichkeit und von einzelnen Gemeindemitgliedern
immer wieder festgestellt werde, daß sich die Verhältnisse nach dem 12.
September 1980 gebessert hätten (26.). Die Sürjanni Kadim berichtet, ihre
Mitglieder befänden sich wie jeder anderer türkische Bürger nach dem 12.
September 1980 "in Ruhe und in Sicherheit" (29.). Nach Auskunft der
Sachverständigen ... Dr. Harb-Anschütz hat sich nach dem 12. September 1980
auch in Istanbul die Lage der syrisch-orthodoxen Christen wesentlich verbessert
(30.). Zu demselben Ergebnis gelangten die Teilnehmer einer von der
Evangelischen Akademie Bad Boll im Mai 1983 veranstalteten Studienfahrt in die
Türkei (34., S. 7, 18.). Soweit eine Verbesserung der Sicherheitslage mit den
entsprechenden Auswirkungen auf die Situation der Syrisch-Orthodoxen in Istanbul
bezweifelt wird (36., S. 17 ff.), fehlt es an konkreten Hinweisen darauf, daß sich
tatsächlich entgegen der allgemeinen Lebenserfahrung die in der Türkei in den
letzten Jahren zu beobachtende Verbesserung der Sicherheitslage nicht auch
zugunsten der christlichen Bevölkerung ausgewirkt haben könnte (so auch: Bay.
VGH, 29.11.1985 -- 11 B 85 C 35 --; VGH Baden-Württemberg, 20.06.1985 -- A 13
S 221/84 --, bestätigt durch BVerwG, 16.10.1986 -- 9 C 320.85 --; VGH Baden-
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S 221/84 --, bestätigt durch BVerwG, 16.10.1986 -- 9 C 320.85 --; VGH Baden-
Württemberg, 09.02.1987 -- A 13 S 709/86 --; OVG Bremen, 14.04.1987 -- 2 BA
28/85 u. 32/85 --; OVG Hamburg, 10.06.1987 -- Bf V 21/86 --; OVG Nordrhein-
Westfalen, 19.02.1987 -- 18 A 10315/86 --; Hess. VGH, 30.08.1984 -- X OE 306/82 -
-, 22.02.1988 -- 12 UE 1071/84 --, NVwZ-RR 1988, 48, -- 1587/84 u. 2585/85 --,
16.05.1988 -- 12 UE 2571/88 --, 30.05.1988 -- 12 UE 2500/85 u. 2514/85 --,
13.06.1988 -- 12 OE 94/83 --, 27.06.1988 -- 12 UE 2438/85 --, 04.07.1988 -- 12 UE
2573/85 u. 12 UE 25/86 -- sowie 17.10.1988 -- 12 UE 2601/84, 12 UE 2497/85 u. 12
UE 2813/86 --; a.A. OVG Rheinland-Pfalz, 10.12.1986 -- 11 A 131/86 --, aufgehoben
durch BVerwG, 06.10.1987 -- 9 C 13.87 --, EZAR 203 Nr. 4 = InfAuslR 1988, 57).
5. Hat die Klägerin danach bei einer Rückkehr in ihre Heimat im jetzigen
Zeitpunkt nicht schon wegen ihrer Zugehörigkeit zur religiösen Minderheit der
Syrisch-Orthodoxen Verfolgung zu befürchten, so kann doch nicht mit
hinreichender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, daß gerade ihr politisch
motivierte (Einzel-)Verfolgung droht.
Ob ein Asylbewerber in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, ohne dort
asylrechtlich relevanten Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt zu sein, ist für das
gesamte Territorium des Heimatstaats zu beantworten; eine Beschränkung auf
etwa den Geburtsort oder den letzten Aufenthaltsort ist weder geboten noch
statthaft. Droht einem Asylbewerber nämlich eine Verfolgung in Teilen seines
Heimatlandes erstmals oder wiederholt, dann kann er darauf verwiesen werden,
dort Aufenthalt zu nehmen, wo er innerhalb seines Heimatstaats ohne Furcht vor
politischer Verfolgung leben kann (sog. interne Fluchtalternative; vgl. BVerfG,
02.07.1980 -- 1 BvR 147/80 u.a. --, BVerfGE 54, 341 <359 ff.> = EZAR 200 Nr. 1,
sowie BVerwG, 02.08.1983 -- 9 C 599.81 --, BVerwGE 67, 314 = EZAR 203 Nr. 1,
15.02.1984 -- 9 CB 191.83 --, EZAR 203 Nr. 2 = DVBl. 1984, 570, 02.07.1985 -- 9 C
58.84 --, EZAR 203 Nr. 3 = NVwZ 1986, 485, 06.10.1987 -- 9 C 13.87 --, EZAR 203
Nr. 4 = InfAuslR 1988, 57, 09.02.1988 -- 9 C 55.87 -- u. 16.06.1988 -- 9 C 1.88 --).
Es kann hier dahinstehen, ob für die Klägerin in erster Linie eine
Rückkehrmöglichkeit nach M zu prüfen ist, wo ihre Familie herstammt und wo sie
möglicherweise geboren ist, oder nach Istanbul, wo sie zuletzt -- und zwar mehr als
zehn Jahre lang -- in der Türkei gelebt hat. Denn an beiden Orten hat die Klägerin
mit asylrelevanten Übergriffen muslimischer Türken zu rechnen, gegen die sie
staatlichen Schutz nicht wirksam wird in Anspruch nehmen können, und ein
anderer Ort, an dem sie innerhalb ihres Heimatsstaates ohne Furcht vor
politischer Verfolgung leben könnte, ist von vornherein nicht ersichtlich.
Das Dorf M scheidet als denkbarer Wohnort im Rückkehrfalle deshalb aus, weil
sich dort -- nachdem schon im Jahre 1960 nur ca. zehn christliche Familien in
diesem Ort lebten -- gegenwärtig kaum noch Christen aufzuhalten scheinen, sich
jedenfalls hierbei keinerlei Verwandte der Klägerin befinden. Insbesondere wurde
der Besitz ihrer Familie offenbar schon aufgegeben, als diese spätestens Mitte bis
Ende der 60er Jahre nach Istanbul übersiedelte. Es erscheint deswegen für die
Klägerin von vornherein als aussichtslos, in M, wo sie entweder nie oder nur als
kleines Kind gelebt hat, als alleinstehende ledige junge Frau etwa den früheren
Familienbesitz wieder in Anspruch nehmen und von den dortigen Erträgnissen
leben zu wollen.
Dagegen leben in Istanbul trotz der seit der Ausreise der Klägerin aus der
Türkei fortgeschrittenen Abwanderung weiterhin syrisch-orthodoxe Christen in
größerer Anzahl. Wie bereits oben (unter II. 4.) ausgeführt, hat sich die
Sicherheitslage nach der Machtübernahme durch die Militärs im September 1980
landesweit und damit auch zugunsten der syrisch-orthodoxen Christen in Istanbul
erheblich verbessert. Der Senat teilt insoweit nicht die Auffassung des
Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz (10.12.1986 -- 11 A 131/86 --,
aufgehoben durch BVerwG, 06.10.1987 -- 9 C 13.87 --, EZAR 203 Nr. 4 = InfAuslR
1988, 57), daß Asylbewerbern, die in der Osttürkei von einer Gruppenverfolgung
betroffen worden seien und sich nicht länger in Istanbul aufgehalten hätten, dort
allgemein keine zumutbare Fluchtalternative zur Verfügung stehe, weil auch dort
gewaltsame Übergriffe gegenüber Christen nicht ausgeschlossen werden könnten
(vgl. dazu Hess. VGH, 30.05.1988 -- 12 UE 2514/88 --). Für den erkennenden
Senat steht jedoch nach Auswertung der ihm vorliegenden Berichte und
Gutachten (insbesondere 4.; 5., S. 23 ff., 43 ff.; 14. bis 16.; 39.; 49., S. 5 f.) über
die Lage der syrisch-orthodoxen Christen in Istanbul fest, daß diejenigen, die in
diese Stadt ziehen, ohne dort auf die Unterstützung von Verwandten und
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diese Stadt ziehen, ohne dort auf die Unterstützung von Verwandten und
Bekannten rechnen zu können, schon allgemein auf erhebliche Schwierigkeiten bei
der Sicherung ihrer wirtschaftlichen und religiösen Existenz stoßen. Dabei wird es
nach Überzeugung des Senats jüngeren alleinstehenden Frauen noch weitaus
schwerer als etwa einem jüngeren Mann fallen, einen Arbeitsplatz und eine
Wohnung zu finden. Die Bemühungen der christlichen Kirchengemeinden, neu
zuziehende Christen aufzunehmen und mit dem Notwendigsten zu versorgen, sind
begrenzt und im übrigen in den letzten Jahren durch die große Zahl der
christlichen Zuwanderer sehr stark in Anspruch genommen worden.
Wenn ein aus dem Ausland zurückkehrender syrisch-orthodoxer Christ danach
weder in seinem Heimatdorf noch in Istanbul eine ausreichende materielle
Lebensgrundlage zu erreichen vermag, wächst selbstverständlich die Gefahr,
Übergriffen Andersgläubiger hilflos ausgesetzt und damit auch in der religiösen
Existenz bedroht zu sein. Gegen Nachstellungen Andersgläubiger und gegen
gewaltsame Übergriffe sowie gegen Entführungen und damit verbundene
Zwangsbekehrungen kann sich angesichts des nach wie vor nicht ausreichenden
staatlichen Sicherheitssystems wirksam nur schützen, wer in materiell gesicherten
Verhältnissen lebt und über gesellschaftliche Verbindungen zu Gleichgesinnten
verfügt. Nach alledem hängt die Möglichkeit eines verfolgungsfreien Lebens
entscheidend vom sozialen Status und den persönlichen Voraussetzungen,
insbesondere der Arbeitsfähigkeit und den Sprachkenntnissen des aus dem
Ausland zurückkehrenden syrisch-orthodoxen Christen ab. Alleinstehenden
christlichen Frauen, die danach zu einer Sicherung ihrer wirtschaftlichen
Lebensgrundlage nicht imstande sind, droht mit einer Wahrscheinlichkeit, die nach
Überzeugung des Senats der Gewißheit gleichkommt, Entführung durch
muslimische Männer und damit notwendigerweise der zwangsweise Übertritt zum
Islam. Erst recht kann solches nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit
ausgeschlossen werden. Die zahlreichen Berichte über Entführungen junger
Mädchen und Frauen (5., S. 33 ff., 48 f.; 11., S. 4 f.; 7., S. 9) und nicht zuletzt auch
die Erlebnisse der Klägerin vor ihrer Ausreise belegen überzeugend -- die
Beiziehung der von der Klägerin mit Schriftsatz vom 2. Dezember 1988
angeregten Akten ist deshalb entbehrlich -- die hohe Wahrscheinlichkeit, mit der
jede wirtschaftlich und sozial ungesicherte Christin -- auch in Istanbul -- dieser
Gefahr ausgesetzt ist, ohne hiergegen staatlichen Schutz erhalten zu können. Daß
darin asylerhebliche Verfolgung zu erblicken ist, wurde bereits oben (unter II. 3. b)
näher begründet.
Angesichts dieser allgemein syrisch-orthodoxen Frauen drohenden Gefährdung
ist festzustellen, daß der Klägerin unter Berücksichtigung ihrer persönlichen
Eigenschaften, Kenntnisse und Beziehungen ein verfolgungsfreies Leben in der
Türkei nicht möglich sein wird. Sie verfügt dort über keinen verwandtschaftlichen
Anknüpfungspunkt mehr, nachdem ihre Mutter und sämtliche Geschwister
ebenfalls ausgereist sind. Es ist weder von der Beklagten oder dem
Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten geltend gemacht noch aus den
Angaben der Klägerin ersichtlich, daß sie sonst über konkrete Beziehungen zu in
der Türkei lebenden Christen verfügt, die ihr den Aufbau einer Existenz und damit
ein verfolgungsfreies Leben erleichtern oder zumindest dafür sorgen könnten, daß
sie unbehelligt dort leben könnte. Die Klägerin verfügt zwar offenbar über gute
türkische Sprachkenntnisse, und sie hat auch während ihres langjährigen früheren
Aufenthalts in Istanbul verschiedentlich -- ihren Angaben zufolge als Schneiderin
bzw. Näherin -- gearbeitet; eine Schul- und Berufsausbildung hat sie indessen
nicht erhalten. Sie kam seinerzeit auch ersichtlich nur deshalb in Istanbul zurecht,
weil sie mit ihren Eltern (zuletzt -- nach dem Tode des Vaters -- mit ihrer Mutter)
und ihren Geschwistern in einem gemeinsamen Haushalt zusammenlebte und
dadurch einen gewissen -- wenn auch nur, wie die damaligen Entführungsversuche
zeigen, beschränkten -- Schutz erfuhr. Die Klägerin hat zwar nicht, wie viele
verheiratete christliche Frauen in Istanbul, völlig abgeschirmt von der Außenwelt
gelebt; dennoch dürfte sie -- mindestens bei absehbarer Gefährdung -- das Haus
nur in Begleitung verlassen haben. Verbindungen zu anderen in Istanbul lebenden
Christen, die noch im Falle einer jetzigen Rückkehr tragfähig sein könnten, wird sie
demzufolge schwerlich geknüpft haben können. Jedenfalls ergeben sich hierfür aus
den Akten keinerlei Anhaltspunkte; insbesondere haben die Beteiligten keine
solchen vorgetragen. Selbst wenn man berücksichtigt, daß die Familie der Klägerin
nach ihrem Zuzug in Istanbul eine Zeitlang Hilfe durch eine syrisch-orthodoxe
Gemeinde erhalten hat und daß die Klägerin selbst unmittelbar vor iher Ausreise
von einem syrisch-orthodoxen Pfarrer unterstützt worden ist, woran sie
möglicherweise anknüpfen könnte, sieht sich der Senat -- ebenso wie das
Verwaltungsgericht -- aufgrund des seither vergangenen langen Zeitraums von
Verwaltungsgericht -- aufgrund des seither vergangenen langen Zeitraums von
fast neun Jahren sowie aufgrund der Persönlichkeit und des Bildungsstandes der
Klägerin nicht zu der Prognose imstande, daß sie in der Lage ist, sich eine
Existenzgrundlage in der Türkei zu schaffen und daß die Gefahr einer Entführung
der jetzt 25- oder 31jährigen ledigen Klägerin durch muslimische Türken mit
anschließender Zwangsheirat und -bekehrung mit hinreichender
Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen ist.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.