Urteil des OVG Berlin-Brandenburg vom 02.06.2004

OVG Berlin-Brandenburg: anspruch auf rechtliches gehör, erheblicher grund, persönliche anhörung, vertagung, pause, glaubwürdigkeit, krankheit, befragung, quelle, sammlung

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Gericht:
Oberverwaltungsgericht
Berlin-Brandenburg 10.
Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
OVG 10 N 10.05
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Tenor
Die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 2. Juni 2004 wird auf
den Antrag der Kläger zugelassen.
Gründe
Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist begründet. Der von den Klägern unter
anderem mit Blick auf die Ablehnung des in der mündlichen Verhandlung gestellten
Vertagungsantrags geltend gemachte Zulassungsgrund gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 3
AsylVfG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO liegt vor. Der Anspruch der Kläger auf rechtliches Gehör
ist dadurch verletzt worden, dass das Verwaltungsgericht trotz des in der mündlichen
Verhandlung gestellten, mit der Verhandlungsunfähigkeit des Klägers zu 2) begründeten
Vertagungsantrags den Termin nicht vertagt, sondern – bis zu der nach Stellung von
Beweisanträgen veranlassten Verhandlungspause um 16:05 Uhr in Anwesenheit der
Kläger und ihrer Verfahrensbevollmächtigten - weiter verhandelt und entschieden hat.
Das Verwaltungsgericht hätte den Vertagungsantrag nicht ablehnen dürfen, da
„erhebliche Gründe“ i.S.d. § 227 Abs. 1 ZPO i.V.m. § 173 VwGO vorlagen.
I.
Das Verwaltungsgericht, das mit der Ladung mitgeteilt hatte, dass das persönliche
Erscheinen der Kläger erwünscht sei (GA I Bl. 120 Rückseite), hat die Sitzung am 2. Juni
2004 mit Blick auf die vom Kläger zu 2) vorgetragenen gesundheitlichen Beschwerden
zunächst um 9:45 Uhr, sodann – nach Fortsetzung um 10:15 Uhr - um 11:05 Uhr
unterbrochen. Auf Vorschlag des Gerichts begab sich der Kläger zu 2) während der
zweiten Verhandlungspause in Begleitung seiner Verfahrensbevollmächtigten und des
Dolmetschers zur fachkundigen Beurteilung seiner Verhandlungsfähigkeit zu Herrn Dr.
H. vom Behandlungszentrum für Folteropfer. Dr. H. erläuterte sodann dem Gericht
telephonisch seine Einschätzung. Danach sei der Kläger zu 2) – so die
Zusammenfassung des Gerichts ausweislich der Sitzungsniederschrift (GA II Bl. 4) –
„maximal eingeschränkt verhandlungsfähig, er verfüge über einen reduzierten
Aufmerksamkeitslevel, beantworte Fragen nicht richtig („an ihnen vorbei“) und habe
Kopfschmerzen“ (Klammerzusatz im Original). Die Verfahrensbevollmächtigte der Kläger
ließ in der Sitzungsniederschrift aufnehmen (GA II Bl. 4), dass der Arzt nach ihrer
Erinnerung festgestellt habe, „(d)er Kläger sei eingeschränkt bis nicht
verhandlungsfähig, … habe bisher auch nicht alles richtig verstanden. Die Fortsetzung
der mündlichen Verhandlung habe keinen Sinn.“ Sie beantragte darauf hin die
Unterbrechung bzw. Aussetzung der mündlichen Verhandlung.
Zur Begründung der Ablehnung des Antrags auf „Vertagung“ führte das Gericht aus:
Der Kläger zu 2) sei eingeschränkt verhandlungsfähig. Das ergebe sich aus der
telephonisch mitgeteilten Diagnose des Herrn Dr. H. und entspreche auch der
Wahrnehmung des Gerichts, das „eine normale Interaktion des Klägers (zu 2) gegenüber
seinem Sohn, aber auch gegenüber anderen Prozessbeteiligten wahrnehmen konnte“.
Davon zu unterscheiden sei die Frage, „aus welchen Gründen sich der Kläger (zu 2)
womöglich nicht richtig an das fluchtauslösende Geschehen erinnern“ könne. Dazu
würden jedoch heute keine weiteren Fragen gestellt werden. Im Übrigen sei der Kläger
(zu 2) anwaltlich vertreten. Im angefochtenen Urteil stellt das Verwaltungsgericht – im
Zusammenhang mit der Begründung, dass die Angaben, die der Kläger zu 2) gemacht
habe, verwertbar seien (UA S. 14) – fest, dass der Kläger zu 2) bis zur zweiten
Verhandlungspause verhandlungsfähig gewesen sei. Eine Vertagung sei daher nicht
„zwecks einer Neudurchführung“ der Anhörung erforderlich gewesen (UA S. 15). Der
telephonisch eingeholte Befund habe keine Vertagung erforderlich gemacht, da die
Anhörung nach der zweiten Verhandlungspause nicht fortgesetzt worden und der Kläger
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Anhörung nach der zweiten Verhandlungspause nicht fortgesetzt worden und der Kläger
zu 2) anwaltlich vertreten gewesen sei (UA S. 15). Soweit die Kläger den
Vertagungsantrag ursprünglich auch damit begründet haben, dass die vom Gericht
eingeholte Auskunft des Auswärtigen Amtes Mängel aufweise, die es erforderlich
machten, eine erneute Stellungnahme einzuholen (GA II Bl. 12), wird die darauf
bezogene Begründung des Verwaltungsgerichts in der Zulassungsschrift nicht
angegriffen.
II.
Grundsätzlich gebietet der Anspruch auf rechtliches Gehör es, einem Vertagungsantrag
„aus erheblichen Gründen“ i.S.d. § 227 Abs. 1 ZPO i.V.m. § 173 VwGO zu entsprechen
(BVerwG, Beschluss vom 14. November 2006 – 10 B 48.06 – in: juris; Beschluss vom 29.
April 2004 - 3 B 118.03 - in: juris; Beschluss vom 2. November 1998 - 8 B 162.98 -,
Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 285). Bei der Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs
„erhebliche Gründe“ ist einerseits dem im Verwaltungsprozess und insbesondere im
Asylverfahren geltenden Gebot der Beschleunigung des Verfahrens und der Intention
des Gesetzes, die gerichtliche Entscheidung i.S.d. Konzentrationsgebotes möglichst auf
Grund einer einzigen mündlichen Verhandlung herbeizuführen, andererseits dem
verfassungsrechtlichen Erfordernis des rechtlichen Gehörs Rechnung zu tragen. Danach
ist auch im Asylprozess ein erheblicher Grund für eine Vertagung nicht bereits dann
anzunehmen, wenn ein anwaltlich vertretener Verfahrensbeteiligter wegen Krankheit
oder aus anderen persönlichen Gründen verhindert ist, selbst an der Verhandlung
teilzunehmen (OVG Berlin, Beschluss vom 11. Mai 2005 – OVG 6 N 22.04 -). Das bloße
Anwesenheitsinteresse einer anwaltlich vertretenen Partei wird durch ihren
Gehörsanspruch nicht geschützt (BVerwG, Beschluss vom 4. Februar 2002 – 1 B 313.01
–, Buchholz 303 § 227 ZPO Nr. 31, OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 4. Januar
2006 – OVG 10 N 118.05 -). Kommt es auf die Glaubhaftigkeit des Vortrags oder die
Glaubwürdigkeit des Klägers an, so ist aber regelmäßig eine persönliche Anhörung
geboten (OVG Brandenburg, Beschluss vom 28. Oktober 2003 – 2 A 369/02.AZ -, AuAS
2004, 4).
Gemessen an diesen Maßstäben hat das Verwaltungsgericht den Anspruch der Kläger
auf rechtliches Gehör verletzt. Das Verwaltungsgericht hat, indem es einerseits den
Kläger zu 2) hinsichtlich der bis zur zweiten Verhandlungspause erfolgten Anhörung als
verhandlungsfähig angesehen und andererseits nach dieser Pause weitere Fragen „vom
Gericht dazu“ als „jedoch heute nicht mehr“ erforderlich erachtet hat, den
Vertagungsantrag letztlich mit der Begründung abgelehnt, die Sache sei aus seiner
Sicht „entscheidungsreif“. Die Ablehnung eines Vertagungsantrags allein mit der
Begründung, die Sache sei entscheidungsreif, ist jedoch verfahrensfehlerhaft (BVerwG,
Beschluss vom 14. Juli 1999 – 9 B 206.99 - juris Rn. 5). Denn damit wurde den Klägern,
insbesondere dem Kläger zu 2), die sachgerechte Wahrnehmung ihrer Rechte, nämlich
den (weiteren) mündlichen Vortrag zu dem aufgrund der mündlichen Verhandlung
gewonnenen Gesamtergebnis des Verfahrens zu ermöglichen (vgl. dazu OVG
Brandenburg, Beschluss vom 27. Oktober 2004 – 2 A 411/04.AZ -), genommen. Dazu
genügte es – entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts – auch nicht, dass die
Kläger im Termin anwaltlich vertreten waren. Denn bei einer Glaubwürdigkeitsbeurteilung
kommt es entscheidend auf die (gerichtliche) Anhörung des Betroffenen an. Zur
Anhörung gehört dabei auch, dass ein Kläger die Möglichkeit haben muss, von sich aus
Unklarheiten und Widersprüche aufzulösen. Dieses Recht erschöpft sich nicht in der
Befragung durch das Gericht, sondern es muss grundsätzlich auch – im Fall der
anwaltlichen Vertretung - die Möglichkeit zu Nachfragen (hier: gegenüber dem Kläger zu
2) seitens der klägerischen Verfahrensbevollmächtigten bestehen.
Wie sich dem Vertagungsantrag entnehmen lässt (GA II Bl. 10f) hatte die
Verfahrensbevollmächtigte der Kläger den Antrag auch ausdrücklich damit begründet,
dass „auch die Prozessbevollmächtigte des Klägers weitere Fragen an den Kläger“ habe.
Damit wurde zugleich deutlich gemacht, dass es aus Sicht der Kläger einer Fortsetzung
der eine gute ¾ Stunde von 10:15 bis 11:05 Uhr dauernden Anhörung des Klägers zu 2)
bedurft hätte. Angesichts dessen hätte das Verwaltungsgericht den Antrag nicht mit der
Begründung ablehnen dürfen, weitere Fragen vom Gericht würden nicht mehr gestellt.
Der Verfahrensbevollmächtigten der Kläger kann auch nicht vorgehalten werden, sie
habe nicht alle prozessual zumutbaren Möglichkeiten ausgeschöpft, weil sie auf weitere
Fragen an den Kläger zu 2) verzichtet habe, „weil sie dies infolge seines sich zunehmend
verschlechternden Zustands für nicht sinnvoll halte“ (Sitzungsniederschrift S. 6). Das gilt
jedenfalls dann, wenn – wie im vorliegenden Fall – der Vertagungsantrag mit der
mangelnden Verhandlungsfähigkeit begründet wird, die Ablehnung jedoch gerade nicht
zur abschließenden Klärung dieser Frage führt. Denn weder der Begründung zur
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zur abschließenden Klärung dieser Frage führt. Denn weder der Begründung zur
Ablehnung des Vertagungsantrags noch dem Urteil lässt sich entnehmen, dass das
Gericht den Kläger zu 2) weiterhin (nach der zweiten Verhandlungspause) als
uneingeschränkt verhandlungsfähig angesehen und deswegen einen erheblichen Grund
i.S.d. § 227 Abs. 1 ZPO i.V.m. § 173 VwGO verneint hat. In einer solchen Situation der
„Unklarheit“ würde es eine Überspannung der (klägerischen) Obliegenheit bedeuten, auf
einer Anhörung des Klägers (zu 2) zu bestehen.
Der Gehörsverstoß ist auch ordnungsgemäß begründet worden. Grundsätzlich hat ein
Kläger zwar im einzelnen darzulegen, was er ohne die behauptete Verletzung des
Anspruchs auf rechtliches Gehör vor dem Verwaltungsgericht noch vorgetragen hätte
und inwiefern dieser Vortrag zu einer Klärung des geltend gemachten Asylanspruchs
hätte führen können. Dieser Grundsatz erfährt jedoch dann eine Ausnahme, wenn den
Beteiligten eine mündliche Verhandlung etwa infolge der fehlerhaften Ablehnung eines
Vertagungsantrags vorenthalten worden ist (OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 7.
März 2007 – OVG 3 N 197.06 – BA S. 4 m.w.N.). Hier hat zwar eine mündliche
Verhandlung stattgefunden. Dadurch, dass das Gericht die Frage, ob der Kläger zu 2)
auch nach der zweiten Verhandlungspause noch verhandlungsfähig war, offen gelassen
und zugleich die Anhörung als abgeschlossen angesehen hat, ist dem Kläger zu 2) aber
– wie dargelegt – die Möglichkeit zur Äußerung „in“ der mündlichen Verhandlung
genommen worden. Insofern erscheinen die Fallkonstellationen vergleichbar mit der
Folge, dass die Verletzung des rechtlichen Gehörs den gesamten Prozessstoff erfasst
(vgl. dazu BVerwG, Beschluss vom 2. November 1998 – 8 B 162.98 - juris Rn. 4; OVG
Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 7. März 2007 – OVG 3 N 197.06 – BA S. 4).
Die Entscheidung über die Kosten des Zulassungsverfahrens folgt der
Kostenentscheidung im Berufungsverfahren.
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