Urteil des OVG Berlin-Brandenburg vom 02.04.2017

OVG Berlin-Brandenburg: aufschiebende wirkung, illegale einreise, geburt, trennung, aufenthaltserlaubnis, familiennachzug, duldung, lebensgemeinschaft, ausländer, erlass

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Gericht:
Oberverwaltungsgericht
Berlin-Brandenburg 12.
Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
OVG 12 S 28.09
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 5 Abs 2 S 2 AufenthG 2004, §
28 Abs 1 S 1 Nr 3 AufenthG
2004, § 60a Abs 2 AufenthG
2004, Art 6 Abs 1 GG
Abschiebungsschutz für Ausländer wegen der bevorstehenden
Geburt seines - deutschen - Kindes
Leitsatz
Der unerlaubt eingereiste Vater eines noch nicht geborenen deutschen Kindes, der mit der
Kindesmutter verheiratet ist, kann 3 1/2 Monate vor der Geburt Abschiebungsschutz
beanspruchen, wenn seine Wiedereinreise bei Durchführung des geforderten
Visumsverfahrens erst nach der Geburt des Kindes erfolgen kann.
Tenor
Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin vom 11. März 2009 wird geändert. Der
Antragsgegner wird im Wege einstweiliger Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller
eine Duldung zu erteilen. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens tragen der Antragsteller und der Antragsgegner jeweils zur
Hälfte.
Der Wert des Verfahrensgegenstandes wird für beide Rechtsstufen auf 5.000 EUR
festgesetzt.
Gründe
Die Beschwerde hat in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg. Das
Beschwerdevorbringen, das nach § 146 Abs. 4 VwGO den Umfang der Überprüfung
durch das Oberverwaltungsgericht bestimmt, rechtfertigt insoweit eine Änderung des
erstinstanzlichen Beschlusses.
1. Der mit der Beschwerde gemäß § 80 Abs. 5 VwGO ausdrücklich gestellte Antrag, die
aufschiebende Wirkung der Klage VG 19 K 42.09 gegen die Abschiebungsandrohung in
dem Bescheid des Landesamtes für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten vom 16.
Januar 2009 anzuordnen, ist nicht begründet. Der bei Erlass der Abschiebungsandrohung
vollziehbar zur Ausreise verpflichtete Antragsteller, dessen später gestellter Antrag auf
Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis die Fiktionswirkung des § 81 Abs. 3, Abs. 4 AufenthG
nicht ausgelöst hat, macht in Bezug auf die Abschiebungsandrohung in der Sache
lediglich Duldungsgründe im Sinne von § 60 a Abs. 2 AufenthG geltend, die kein
zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot darstellen und daher die Rechtmäßigkeit der
Abschiebungsandrohung nicht berühren, § 59 Abs. 3 Satz 1 AufenthG (vgl. auch OVG
Münster, Beschluss vom 6. Januar 2005, InfAuslR 2005, 146; Funke-Kaiser, in: GK-
AufenthG, § 59 Rn. 165; Wenger, in: Storr u.a., Kommentar zum Zuwanderungsrecht, 2.
Aufl., § 59 Rn 7).
2. Demgegenüber hat die Beschwerde Erfolg, soweit der Antragsteller einwendet, dass
die Trennung von seiner Ehefrau und dem noch ungeborenen Kind auch einen Antrag
nach § 123 Abs. 1 VwGO rechtfertigen könne, der gestellt werden solle, weil die
Auslegung seines erstinstanzlichen Antrags durch das Verwaltungsgericht zweifelhaft
sei. Insoweit rügt der Antragsteller zu Recht, dass das Verwaltungsgericht seinen Antrag
auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes, der sich seiner Klage- und Antragsschrift
zufolge sowohl auf den Bescheid vom 16. Januar 2009 (Androhung der Abschiebung,
Versagung einer Duldung) als auch auf den Bescheid vom 10. Februar 2009 (Versagung
der beantragten Aufenthaltserlaubnis) bezog, lediglich als Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO
gegen die verfügte Abschiebungsandrohung ausgelegt hat, ohne Abschiebungsschutz
gemäß § 123 Abs. 1 VwGO in Verbindung mit § 60 a AufenthG zu prüfen. Auch wenn der
Antragsteller anwaltlich vertreten war, hätte das Verwaltungsgericht angesichts der
umfassenden Antragstellung auf die von ihm beabsichtigte einschränkende Auslegung
hinweisen und dem Antragsteller Gelegenheit zur Klarstellung bzw. Konkretisierung
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hinweisen und dem Antragsteller Gelegenheit zur Klarstellung bzw. Konkretisierung
seines Antrags geben müssen. Die somit im Beschwerdeverfahren nachzuholende
Prüfung des auf § 123 Abs. 1 VwGO gestützten Antrags fällt zugunsten des
Antragstellers aus.
a) Die vorübergehende Trennung eines ausländischen Ehemannes von seiner deutschen
Ehefrau, der - wie der Antragsteller - unter Verstoß gegen Visumsvorschriften in das
Bundesgebiet eingereist ist und hier geheiratet hat, ist zur Durchführung eines von der
Ausländerbehörde geforderten ordnungsgemäßen Visumsverfahrens im Hinblick auf Art.
6 Abs. 1 GG grundsätzlich nicht unzumutbar und stellt in der Regel keinen
Duldungsgrund im Sinne von § 60 a Abs. 2 AufenthG dar. Dies gilt auch dann, wenn der
ausländische Ehegatte (noch) nicht über die gemäß §§ 28 Abs. 1 Satz 5, 30 Abs. 1 Satz
1 Nr. 2 AufenthG erforderlichen deutschen Sprachkenntnisse verfügt und diese zunächst
im Ausland erwerben muss.
b) Der Antragsteller kann derzeit auch noch keine von der Sicherung des
Lebensunterhaltes und dem Spracherfordernis unabhängige Aufenthaltserlaubnis
gemäß § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, Satz 2 AufenthG beanspruchen, weil eine
Lebensgemeinschaft mit dem gemeinsamen – deutschen - Kind, das voraussichtlich erst
Mitte Juli 2009 geboren wird, noch nicht besteht. Allerdings ist die Vaterschaft eines
bereits im Bundesgebiet lebenden Ausländers hinsichtlich des ungeborenen Kindes
seiner deutschen Ehefrau geeignet, einen Umstand darzustellen, der unter dem
Gesichtspunkt des Schutzes der Familie nach Art. 6 Abs. 1 GG und der Pflicht des
Staates, sich gemäß Art. 2 Abs. 2 Satz 1, Art. 1 Abs. 1 GG schützend und fördernd vor
den nasciturus zu stellen, aufenthaltsrechtliche Vorwirkungen im Sinne eines
Abschiebungshindernisses entfaltet. Dies ist nicht nur erfüllt, wenn die Mutter oder das
ungeborene Kind – beispielsweise bei einer Risikoschwangerschaft – auf die Hilfe des
Vaters angewiesen sind, sondern auch dann, wenn der Entbindungszeitpunkt so nahe
bevorsteht, dass bis zur Geburt ein Familiennachzug unter Einhaltung der
Einreisevorschriften nicht mehr in Betracht kommt. Dabei knüpft der vorwirkende Schutz
für bereits im Bundesgebiet lebende verheiratete Ausländer an die Geburt als zeitliche
Grenze für einen geordneten Familiennachzug an, weil der spezifische
Betreuungsbeitrag des Vaters nicht durch die mütterliche Betreuung entbehrlich wird
und für das Kindeswohl und die Entwicklung des Kindes, auf die maßgeblich abzustellen
ist, grundsätzlich beide Elternteile erforderlich sind (vgl. auch OVG Sachsen, Beschlüsse
vom 25. Januar 2006, NVwZ 2006, 613, und vom 15. September 2006, InfAuslR 2006,
446; OVG Hamburg, Beschluss vom 14. August 2008, NVwZ-RR 2009, 133 mit Hinweisen
zur Rsp. des Bundesverfassungsgerichts; BayVGH, Beschluss vom 25. Februar 2009 – 19
CE 09.213 -, juris Rn. 18; a.A. OVG Lüneburg, Beschluss vom 15. September 2008 – 10
ME 328/08 -, juris; OVG Saarlouis, Beschluss vom 24. April 2008, NVwZ-RR 2008, 646).
Gemessen daran kann der Antragsteller Abschiebungsschutz beanspruchen und nicht
darauf verwiesen werden, zunächst das Visumsverfahren nachzuholen. Ein
Familiennachzug zu der deutschen Ehefrau – der ausweislich des vorgelegten
Mutterpasses ein Schwangerschaftsrisiko bescheinigt wird, ohne dass sich der
Antragsteller darauf beruft - dürfte daran scheitern, dass der Antragsteller nicht über die
erforderlichen deutschen Sprachkenntnisse verfügt, da er erst seit wenigen Monaten im
Bundesgebiet lebt und sich seinem Vortrag zufolge erst jetzt zu einem Sprachkurs
angemeldet hat. Damit kommt eine (sichere) Einreise nicht mehr vor der Geburt des
Kindes in Betracht, sondern es spricht vielmehr einiges dafür, dass diese sich – bei einer
Nachholung des Visumsverfahrens - auch noch nach der Geburt über einen gewissen
Zeitraum hinziehen wird. Hierbei kann aus den dargelegten Gründen offen bleiben, ob
der 22jährige Antragsteller – der angegeben hat, innerhalb der noch nicht abgelaufenen
Beschwerdebegründungsfrist eine eidesstattliche Versicherung vorzulegen - nach seiner
Rückkehr in die Türkei zum Wehrdienst eingezogen wird. Anders als das
Verwaltungsgericht meint, spielt allerdings das Fehlverhalten des Antragstellers –
nämlich die grundsätzlich strafbare illegale Einreise – für die Frage, ob ihm eine familiäre
Trennung zugemutet werden kann, keine allein maßgebliche Rolle. Entscheidend ist hier
vielmehr, ob im Bundesgebiet bereits eine schützenswerte familiäre Gemeinschaft
insbesondere mit deutschen Staatsangehörigen gelebt wird bzw. ob insoweit
Vorwirkungen bestehen, und ob durch die ausländerrechtliche Maßnahme in diese
familiäre Lebensgemeinschaft – auch im Hinblick auf die Dauer einer Trennung, über die
sich der Antragsgegner regelmäßig Klarheit verschaffen muss – in unverhältnismäßiger
Weise eingegriffen wird. Insoweit kann auch die bevorstehende Einberufung zum
Wehrdienst im Heimatstaat zu einem Abschiebungshindernis oder zu einer
Unzumutbarkeit im Sinne von § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG führen (ebenso OVG
Hamburg, Beschlüsse vom 4. Mai 2001, NVwZ-RR 2002, 308 und vom 11. April 2001 – 4
Bs 374/00 -, juris).
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht
auf § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 3 Nr. 1 und Nr. 2, § 52 Abs. 2 GKG. Hierbei ist der Senat für
jeden der Anträge von dem halben Auffangstreitwert ausgegangen. Da das
Verwaltungsgericht – wie dargelegt – sowohl von einem Antrag auf Anordnung der
aufschiebenden Wirkung gemäß § 80 Abs. 5 VwGO als auch von einem Antrag auf Erlass
einer einstweiligen Anordnung gemäß § 123 Abs. 1 VwGO hätte ausgehen müssen, ist
auch die erstinstanzliche Streitwertfestsetzung zu ändern, § 63 Abs. 3 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 in Verbindung
mit § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
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