Urteil des OVG Berlin-Brandenburg vom 29.03.2017

OVG Berlin-Brandenburg: einverständnis, wechsel, link, sammlung, revisionsgrund, quelle, verbrauch, präsidium, anschluss, verfahrensmangel

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Gericht:
Oberverwaltungsgericht
Berlin-Brandenburg 6.
Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
OVG 6 N 6.11
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 101 Abs 2 VwGO, § 108 Abs 2
VwGO, § 124 Abs 2 Nr 5 VwGO,
§ 138 Nr 3 VwGO, Art 103 Abs 1
GG
Entfallen eines Einverständnisses zur Entscheidung ohne
mündliche Verhandlung bei Wechsel des Spruchkörpers;
Gehörsverstoß bei Entscheidung ohne mündliche Verhandlung
Leitsatz
1. Ein zuvor erklärtes Einverständnis zur Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nach §
101 Abs. 2 VwGO ist jedenfalls dann verbraucht, wenn das Präsidium des Gerichts den
Rechtsstreit einem anderen Spruchkörper zugewiesen hat und die Beteiligen sodann erneut
um Erklärung ihres Einverständnisses mit schriftlicher Entscheidung ersucht wurden. Die
Beteiligten dürfen dann annehmen, dass das Verwaltungsgericht ohne erneutes
Einverständnis mit schriftlichem Verfahren die Sache nicht entscheiden, sondern eine
mündliche Verhandlung durchführen wird.
2. Ein Urteil, das ohne gebotene mündliche Verhandlung ergeht, verletzt im Regelfall das
Recht auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Anschluss an BVerwG, Beschluss vom 26. Juni 2009
- 8 B 56/09 -)
3. Ein solches Urteil "beruht" auf dem Gehörsverstoß.
Tenor
Die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Cottbus vom 17. Januar 2011
wird auf den Antrag der Beklagten zugelassen.
Gründe
Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist begründet.
Es liegt ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel vor,
auf dem die angegriffene Entscheidung des Verwaltungsgerichts beruhen kann, § 124
Abs. 2 Nr. 5 VwGO. Zu Recht rügt die Beklagte mit ihrem Zulassungsantrag, das
Verwaltungsgericht habe am 17. Januar 2011 ohne mündliche Verhandlung zu ihrem
Nachteil entschieden, obwohl sie das nach § 101 Abs. 2 VwGO hierzu erforderliches
Einverständnis nicht erklärt hatte. Hierdurch hat das Verwaltungsgericht den Anspruch
der Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs im Sinne des Artikels 103 Abs. 1 GG, §
108 Abs. 2 VwGO verletzt. Denn eine derartige Verfahrensweise schneidet den
betroffenen Beteiligten die Möglichkeit weiteren Vorbringens ab (BVerwG, Beschluss vom
26. Juni 2009 - 8 B 56/09 -, Rn. 13 bei juris m.w.N.).
Die Erklärung des Einverständnisses der Beklagten zur Entscheidung ohne mündliche
Verhandlung war erneut erforderlich, denn das zunächst in der Klageerwiderung vom 3.
April 2007 (Bl. 29, 32 d.A.) erklärte Einverständnis war im Zeitpunkt der Entscheidung
bereits verbraucht. Es spricht viel dafür, dass bereits der Wechsel der für die
Entscheidung zuständigen Kammer durch entsprechenden Beschluss des Präsidiums
des Verwaltungsgerichts mit Wirkung vom 1. Januar 2011 zu einem Verbrauch des
Einverständnisses geführt hat. Diese Frage kann aber letztlich offen bleiben, denn
spätestens mit der Anfrage des Berichterstatters durch Schreiben vom 5. Januar 2011
(Bl. 50 d.A.), ob Einverständnis mit Entscheidung ohne mündliche Verhandlung bestehe,
hatte sich das ursprünglich erklärte Einverständnis erledigt. Das Verwaltungsgericht
durfte es daher bei der Entscheidungsfindung nicht (mehr) zugrundelegen. Durch das
ausdrücklich an beide Verfahrensbeteiligte gerichtete Schreiben vom 5. Januar 2011 hat
das Verwaltungsgericht zu erkennen gegeben, selbst nicht mehr von einer
Bindungswirkung des in der Klageerwiderung erklärten Einverständnisses auszugehen.
Die Beklagte durfte daher annehmen, dass das Verwaltungsgericht ohne erneutes
Einverständnis mit schriftlichem Verfahren die Sache nicht entscheiden, sondern eine
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Einverständnis mit schriftlichem Verfahren die Sache nicht entscheiden, sondern eine
mündliche Verhandlung durchführen würde.
Ob der Schriftsatz der Beklagten vom 12. Januar 2011, in dem diese ausdrücklich erklärt,
nicht mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden zu sein, noch
so rechtzeitig bei dem Verwaltungsgericht eingegangen war, dass er von diesem hätte
berücksichtigt werden müssen, ist insoweit ohne Belang.
Die angegriffene Entscheidung „beruht“ auch auf dem geltend gemachten
Verfahrensfehler. Bei einem Gehörsverstoß ist zu unterscheiden, ob er lediglich „partiell“
ist, also nur Teile des Streitstoffs betrifft oder ob er den gesamten Streitstoff erfasst. Im
ersten Fall ist ein „Beruhen“ im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO anzunehmen, wenn
die Möglichkeit besteht, dass der Verstoß das Urteil beeinflusst hat. Im letzten Fall
dagegen ist die Feststellung, das Urteil ist im Ergebnis richtig, per se nicht möglich. In
solch einem Fall ist deshalb unwiderleglich zu vermuten, dass das Urteil auf dem
Gehörsverstoß beruht. Das kommt auch in dem absoluten Revisionsgrund des § 138 Nr.
3 VwGO zum Ausdruck, der dann vorliegt, wenn einem Beteiligten das rechtliche Gehör
versagt war und der auch bei § 124 VwGO zu beachten ist (Meyer-Ladewig/Rudisilie, in
Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO § 124, Rn. 62). Ein solcher absoluter, weil den
gesamten Streitstoff erfassender Gehörsverstoß liegt u.a. dann vor, wenn - wie hier -
eine mündliche Verhandlung nicht stattgefunden hat, ohne dass alle Beteiligten hierzu
ihr Einverständnis erklärt haben (BVerwG, a.a.O., Rn. 13 zu § 138 Nr. 3 VwGO).
Die Entscheidung über die Kosten des Zulassungsverfahrens folgt der
Kostenentscheidung im Berufungsverfahren.
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