Urteil des OVG Berlin-Brandenburg vom 18.03.2008
OVG Berlin-Brandenburg: anspruch auf rechtliches gehör, prüfer, juristische person, klausur, prozessvertreter, prüfungsbehörde, fax, verkündung, staatsprüfung, verfahrensmangel
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Gericht:
Oberverwaltungsgericht
Berlin-Brandenburg 10.
Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
OVG 10 N 58.08
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 108 Abs 2 VwGO, § 124 Abs 2
Nr 5 VwGO, Art 103 Abs 1 GG
Verletzung rechtlichen Gehörs bei neuen Bewertungsrügen im
gerichtlichen Verfahren, zu denen keine Gelegenheit zur
Einholung von Stellungnahmen der Prüfer gegeben wurde.
Tenor
Die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 18. März 2008 wird
auf Antrag des Beklagten zugelassen.
Gründe
Die Berufung wird gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO zugelassen, weil ein der Beurteilung
des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel vom Beklagten geltend
gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann. Das Urteil des
Verwaltungsgerichts, mit dem der Prüfungsbescheid des Beklagten über das wiederholte
Nichtbestehen der ersten juristischen Staatsprüfung der Klägerin aufgehoben worden ist,
ist verfahrensfehlerhaft zustande gekommen, weil das Gericht den Anspruch des
Beklagten auf rechtliches Gehör (§ 108 Abs. 2 VwGO i.V.m. Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt
hat.
Der Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG, auf den sich auch der
Beklagte als juristische Person des öffentlichen Rechts berufen kann (vgl. Jarasss/Pieroth,
GG, 10. Aufl. 2009, Art. 103 Rn. 6), garantiert den Beteiligten an einem gerichtlichen
Verfahren, dass sie hinreichend Gelegenheit erhalten, sich zu dem der gerichtlichen
Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt vor Erlass der Entscheidung zu äußern
und dadurch die Willensbildung des Gerichts zu beeinflussen. Dementsprechend
bestimmt § 108 Abs. 2 VwGO, dass das Urteil nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse
gestützt werden darf, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten. Dies bedeutet, dass
die Beteiligten die Gelegenheit haben müssen, sich zu allen entscheidungserheblichen
Sach- und Rechtsfragen sachgemäß, zweckentsprechend und erschöpfend zu erklären
(vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 16. Aufl. 2009, § 108 Rn. 19 c m.w.N.), und der Anspruch auf
rechtliches Gehör verletzt ist, wenn die Frist vor Erlass einer Entscheidung objektiv nicht
ausreicht, um eine sachlich fundierte Äußerung zum Sachverhalt und zur Rechtslage zu
erbringen (vgl. etwa BVerfG, Kammerbeschluss vom 5. Februar 2003 - 2 BvR 153/02 -,
DVBl. 2003, 858, zitiert nach juris, Rn. 28 m.w.N.). Diesen Anforderungen ist das
Verwaltungsgericht nicht gerecht geworden, weil es dem Beklagten nicht ermöglicht hat,
sich in sachlich angemessener Weise zu den geltend gemachten Bewertungsfehlern bei
der Korrektur der Klausuren Z II und Z III zu äußern.
Dem liegt folgender Geschehensablauf zugrunde: Die Klägerin, die im
Wiederholungsversuch der ersten juristischen Staatsprüfung (nur) drei von neun
Aufsichtsarbeiten bestanden hatte, beanstandete im Widerspruchsverfahren und
Klageverfahren zunächst nur die Bewertung der Klausur WF 9 II und später auch der
Klausur Z I. Nach (erneuter) Ladung zur mündlichen Verhandlung rügte sie erstmals mit
Schriftsätzen vom 1. und 2. März 2008 innerhalb der ihr nach § 87 b VwGO gesetzten
Frist auch die Bewertung der Klausuren Z II und Z III, bat um Offenlegung der
Bewertungsmaßstäbe im Einzelnen und beanstandete die Bewertung beider Klausuren in
insgesamt 14 Punkten. Diese Schriftsätze wurden dem Beklagten am 5. März 2008 zur
Kenntnisnahme und freigestellten Stellungnahme zugeleitet. Nach den vom
Verwaltungsgericht als zutreffend angenommenen Angaben des Beklagten erhielt der
zuständige Prozessvertreter am Freitag, den 14. März 2008, und damit wenige Tage vor
dem auf den 18. März 2008 anberaumten Termin zur mündlichen Verhandlung vom
Inhalt beider Schriftsätze Kenntnis. Bis zum Verhandlungstermin konnte er lediglich die
Stellungnahme eines Zweitkorrektors einholen. Der per Fax am 14. März 2008 sowie
erneut in der mündlichen Verhandlung am 18. März 2008 gestellte Antrag des Beklagten
auf Vertagung, um ergänzende Stellungnahmen der übrigen Korrektoren einzuholen,
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auf Vertagung, um ergänzende Stellungnahmen der übrigen Korrektoren einzuholen,
blieb unbeschieden und im Ergebnis ohne Erfolg. Die dem Beklagten zugestandene Frist
zur Äußerung zu den neuen Bewertungsrügen beschränkte sich mithin auf die Zeit
zwischen dem 14. und 18. März 2008 und war zu kurz, um den Anforderungen an die
Gewährung rechtlichen Gehörs zu genügen.
Soweit die Klägerin in diesem Zusammenhang einwendet, angesichts der innerhalb
Berlins üblichen Postlaufzeiten sei davon auszugehen, dass der Schriftsatz dem
Beklagten tatsächlich am 6. März 2008 zugegangen sei, die spätere Vorlage bei dem
zuständigen Sachbearbeiter sei als internes Organisationsverschulden zu werten, greift
dies nicht durch. Zwar garantiert der Anspruch auf rechtliches Gehör nur die Gelegenheit
zur Äußerung und schützt daher nicht denjenigen, der eine mögliche Äußerung in
zurechenbarer Weise versäumt (vgl. Jarass/Pieroth, a.a.O., Rn. 26 m.w.N.). Die zeitliche
Verzögerung zwischen dem Eingang des Schriftsatzes bei der Behörde selbst und der
Vorlage beim zuständigen Sachbearbeiter stellt jedoch keine dem Beklagten
zurechenbare Nachlässigkeit in seiner Prozessführung dar, sondern ist den üblichen
behördeninternen Strukturen geschuldet. Dies ist nicht zu beanstanden, zumal die
Gerichte ebenso wie die anderen Beteiligten die Möglichkeit haben, im Falle größerer
Eilbedürftigkeit Schriftsätze per Fax und unter Hinweis auf die Eilbedürftigkeit zu
übersenden, so dass gewährleistet ist, dass der Beklagte im Bedarfsfall zügig und ohne
Zeitverlust von Schriftstücken in Kenntnis gesetzt werden kann. Hiervon wurde im
vorliegenden Fall jedoch kein Gebrauch gemacht. Maßgebend für die Frage, ob der
Beklagte hier hinreichend Gelegenheit zur Äußerung hatte, ist daher der Zeitpunkt, zu
dem der Prozessvertreter Kenntnis vom Inhalt der neuen Bewertungsrügen erhielt und
so für den Beklagten die Möglichkeit bestand, sich hierzu zu äußern.
Die Zeit vom 14. März 2008 bis zum Ende der mündlichen Verhandlung am 18. März
2008 war nicht ausreichend, um dem Beklagten eine sachlich fundierte Äußerung zu
dem neuen Streitstoff zu ermöglichen. Das Verwaltungsgericht hat allerdings zutreffend
festgestellt, dass es dem Prozessvertreter selbst möglich und zumutbar war, die neuen
Bewertungsrügen inhaltlich auf ihre prüfungsrechtliche Relevanz hin zu würdigen. Dies
allein genügt jedoch nicht zur Gewährleistung rechtlichen Gehörs, weil zu einer
sachgemäßen, zweckentsprechenden und fundierten Stellungnahme der
Prüfungsbehörde im Prüfungsverfahren auch die Möglichkeit gehören kann, die Prüfer
mit den erhobenen Beanstandungen zu befassen und ihre Stellungnahmen einzuholen.
So liegt der Fall hier.
Grundsätzlich kann ein Prüfling bis zum Schluss der letzten mündlichen Verhandlung
Bewertungsmängel geltend machen; dies betrifft auch bisher nicht vorgetragene
Beanstandungen (vgl. Niehues, Prüfungsrecht, 4. Aufl. 2004, Rn. 824 m.w.N.). Auch wenn
das sogenannte Überdenkungsverfahren selbst mit Durchführung des
Widerspruchsverfahrens erledigt ist und der Prüfling keinen Anspruch auf eine erneute
Durchführung hat, sind auch nachträglich erhobene Rügen vom Gericht zu
berücksichtigen und innerhalb des gerichtlichen Prüfungsrahmens zu bewerten (vgl. OVG
Berlin, Beschluss vom 17. Mai 2002 - OVG 4 N 48.01 -). In der Rechtsprechung ist es
zudem anerkannt, dass auch die Prüfer noch während des gerichtlichen Verfahrens
Bewertungsfehler und Bewertungsmängel korrigieren können. Dies betrifft sowohl den
Fall, dass während des Verfahrens eine Bewertung der Prüfungsleistungen nachgeholt
wird und damit im Ergebnis eine neue Bewertung erfolgt (vgl. BVerwG, Urteil vom 9.
Dezember 1992 - BVerwG 6 C 3.92 -, BVerwGE 91, 262, 271), als auch Fälle
nachträglicher Erläuterung der ursprünglichen Bewertung, um eine mehrdeutige
Einzelbewertung (vgl. hierzu BVerwG, Beschluss vom 30. März 2000 - BVerwG 6 B 8.00 -,
NVwZ-RR 2000, 503) oder aber die Grundlagen einer eindeutigen Einzelbewertung (vgl.
BVerwG, Beschluss vom 1. März 2001 - BVerwG 6 B 6.01 -, NVwZ 2001, 922, 923) zu
erklären. Die Rechte des Prüflings bleiben dabei gewahrt, weil er - ohne einen Zeitverlust
durch einen neuen Bescheid und ein neues Verfahren besorgen zu müssen - die
Möglichkeit hat, sich mit der neuen oder erläuterten Bewertung auseinanderzusetzen.
Dem Ziel des Prüfungsverfahrens, im Ergebnis zu einer prüfungsfehlerfreien Bewertung
der erbrachten Prüfungsleistung zu gelangen, wird eine Korrektur der Bewertung
während des laufenden gerichtlichen Verfahrens ebenso gerecht wie eine durch
Gerichtsurteil veranlasste nachträgliche Neubewertung (vgl. BVerwG, Urteil vom 9.
Dezember 1992, a.a.O., S. 272). Vor diesem Hintergrund ist die Einholung von
Stellungnahmen der Korrektoren zu einzelnen Bewertungsrügen als Bestandteil einer
sachlich angemessenen und zweckdienlichen Äußerung der Prüfungsbehörde
anzusehen, die der Behörde zur Gewährung rechtlichen Gehörs im Rahmen des
Zumutbaren ermöglicht werden muss.
Da die Klägerin im Wesentlichen Mängel in der Begründung der Bewertung der Klausuren
Z II und Z III geltend gemacht und auch das Verwaltungsgericht ausweislich seiner
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Z II und Z III geltend gemacht und auch das Verwaltungsgericht ausweislich seiner
Hinweise in der mündlichen Verhandlung Defizite in der Begründung gesehen hat, durfte
der Beklagte auch im vorliegenden Fall erwarten, dass ihm die Möglichkeit eingeräumt
wird, die Prüfer mit den neuen Rügen zu befassen. Soweit das Verwaltungsgericht in
seinem Urteil die Auffassung vertreten hat, der Beklagte hätte auch ohne
Stellungnahmen der Prüfer ohne unzulässiges Kostenrisiko zur Sache verhandeln
können, vermag dies nicht zu überzeugen. Das Verwaltungsgericht hat hierzu
ausgeführt, der Beklagte hätte, soweit er die Rügen für begründet erachtet hätte, eine
erneute Bewertung der Prüfer und eine anschließende rechtsmittelfähige Entscheidung
über das Ergebnis zusichern können. Dann hätte der Rechtsstreit insoweit mit wohl die
Klägerin treffender Kostenlast für erledigt erklärt und im Übrigen streitig entschieden
werden können. Dieser „Vorschlag“ erscheint bereits im Ansatz zweifelhaft, weil nicht
nachvollziehbar ist, in welchen Teilen („insoweit“) das Verfahren hätte für erledigt erklärt
und in welchen („im Übrigen“) streitig hätte entschieden werden können. Der
angefochtene Prüfungsbescheid dürfte als Einheit anzusehen und daher einer teilweisen
Aufhebung (nur bezüglich einzelner Klausurbewertungen oder einzelner
Bewertungselemente?) nicht zugänglich sein. Im Übrigen dürfte der Verweis auf die
Möglichkeit, einen neuen rechtsmittelfähigen Bescheid zu erlassen und damit ggf. ein
neues Verwaltungsverfahren mit anschließender Klagemöglichkeit zu eröffnen, den
schutzwürdigen Interessen der Beteiligten an einer verbindlichen Klärung des
anhängigen Prüfungsrechtsstreits widersprechen. So hat das Bundesverwaltungsgericht
im Zusammenhang mit der Zulässigkeit nachträglicher Korrekturen und Erläuterungen
der Prüferbewertung ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es im Hinblick auf die
Gewährung effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) zweifelhaft sei, ob es einem
Prüfling zumutbar sei, gegen einen neuen Prüfungsbescheid mit einer neuen Klage
vorzugehen; in aller Regel könne jedoch ein neuer Prüfungsbescheid noch in das
anhängige Verfahren einbezogen werden, sofern nicht von vornherein nur eine
Bekräftigung des ursprünglichen Bescheids durch eine unselbständige
Verfahrenshandlung vorliege (BVerwG, Urteil vom 9. Dezember 1992, a.a.O., S. 275).
Der Beklagte musste sich daher nicht auf die Möglichkeit der Aufhebung oder
Teilaufhebung des angefochtenen Bescheides verweisen lassen.
Der Beklagte hat sich im Rahmen seiner prozessualen Möglichkeiten auch hinreichend
bemüht, sich Gehör zu verschaffen. Er hat versucht, die Korrektoren der Klausuren Z II
und Z III kurzfristig mit den erhobenen Rügen zu befassen, was ihm jedoch nur bei einem
Korrektor geglückt ist. Er hat zudem durch den schriftlich gestellten und im
Verhandlungstermin ausdrücklich wiederholten Vertagungsantrag deutlich zum Ausdruck
gebracht, dass er eine ergänzende Stellungnahme der übrigen Prüfer einholen wollte.
Dass er nach dem Schluss der mündlichen Verhandlung zum Termin zur Verkündung
einer Entscheidung nicht mehr zugegen war, kann ihm nicht als zurechenbares
Versäumnis angelastet werden, weil er zu diesem Zeitpunkt mit dem Vertagungsantrag
alles ihm Zumutbare zur Erlangung rechtlichen Gehörs getan hatte und auf die
Verkündung des stattgebenden Urteils prozessual nicht mehr hätte reagieren können.
Im Übrigen erscheint zweifelhaft, ob er mit einem Urteil in der Sache zu diesem
Zeitpunkt überhaupt rechnen musste, nachdem die mündliche Verhandlung ohne eine
Entscheidung über den Vertagungsantrag und ohne die Aufnahme von Sachanträgen
geschlossen worden war.
Das Urteil kann auch auf dem Gehörsverstoß beruhen, da nicht auszuschließen ist, dass
bei ausreichender Äußerungsmöglichkeit für den Beklagten eine für ihn günstigere
Entscheidung in der Sache ergangen wäre. Das Verwaltungsgericht hat in der
mündlichen Verhandlung die ergänzende Stellungnahme des Zweitkorrektors der
Klausur Z III gewürdigt und ausgeführt, dass insoweit die Rügen der Klägerin behoben
worden seien. Damit hat es deutlich gemacht, dass auch nach seinem
Rechtsstandpunkt den nachträglichen Erläuterungen der Prüfer Bedeutung beizumessen
ist. Da die vom Verwaltungsgericht in dem angefochtenen Urteil festgestellten Fehler,
die zur Aufhebung des Prüfungsbescheids führten, die Bewertung der Klausuren Z II und
Z III betrafen und im Wesentlichen Unklarheiten und Defizite in der
Bewertungsbegründung beanstandet worden sind, die einer Klarstellung und Erläuterung
zugänglich gewesen wären, hätte die vom Beklagten beabsichtigte Einholung
ergänzender Stellungnahmen der Prüfer möglicherweise zu einer Beseitigung der
Prüfungsfehler führen können. Damit erweist sich der Verfahrensmangel als erheblich im
Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO.
Auf die Frage, ob auch die vom Beklagten geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der
Richtigkeit der Entscheidung (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) eine Zulassung der Berufung
rechtfertigen, kommt es nicht (mehr) an.
Die Entscheidung über die Kosten des Zulassungsverfahrens folgt der
11 Die Entscheidung über die Kosten des Zulassungsverfahrens folgt der
Kostenentscheidung im Berufungsverfahren.
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