Urteil des OVG Berlin-Brandenburg vom 14.02.2007

OVG Berlin-Brandenburg: innerstaatliches recht, freizügigkeitsgesetz, unionsbürgerschaft, entstehung, einreise, zusammenhalt, ausweisung, sicherstellung, aufenthaltserlaubnis, vollstreckung

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Gericht:
Oberverwaltungsgericht
Berlin-Brandenburg 2.
Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
OVG 2 B 22.07
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 2 Abs 2 FreizügG/EU, § 4a
Abs 1 FreizügG/EU, § 5 Abs 6 S
1 FreizügG/EU, Art 7 EGRL
38/2004, Art 16 EGRL 38/2004
Daueraufenthaltsrecht; EU- Freizügigkeit; Aufenthalt im
Bundesgebiet; Beitritt des Herkunftsstaats zur Europäischen
Union
Tenor
Auf die Berufung des Beklagten wird der Gerichtsbescheid des Verwaltungsgerichts
Berlin vom 14. Februar 2007 geändert.
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung
durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des beizutreibenden Betrages
abwenden, wenn nicht der Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe
leistet.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger ist polnischer Staatsangehöriger und begehrt die Ausstellung einer
Bescheinigung über das Bestehen eines unbefristeten Aufenthaltsrechts nach
Gemeinschaftsrecht (Daueraufenthaltsrecht).
Der heute 32jährige Kläger reiste am 25. September 1989 im Alter von 12 Jahren mit
seiner Mutter nach Berlin (West) ein. Nach erfolgloser Durchführung eines Asylverfahrens
wurde ihm (und seiner Mutter) seit Juli 1991 der Aufenthalt aus dringenden humanitären
Gründen erlaubt, zuletzt bis zum 17. April 2006. Eine weitere Verlängerung der
Aufenthaltserlaubnis lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 22. März 2006 mit der
Begründung ab, der Lebensunterhalt des Klägers, der seit seiner Einreise
Sozialleistungen beziehe, sei nicht gesichert. Dies stehe auch einem Anspruch nach
dem Freizügigkeitsgesetz/EU entgegen. Der Widerspruch des Klägers blieb
unbeschieden.
Mit der Klage hat der Kläger die Verpflichtung des Beklagten begehrt, über seinen
Widerspruch zu entscheiden und ihm eine Bescheinigung über sein unbefristetes Recht
auf Einreise und Aufenthalt zu erteilen.
Das Verwaltungsgericht hat der Klage mit Gerichtsbescheid vom 14. Februar 2007 im
Wesentlichen stattgegeben und sie nur insoweit als unzulässig abgewiesen, als der
Kläger die Verpflichtung des Beklagten zum Erlass eines Widerspruchsbescheides
begehrt hat. Zur Begründung führt es an, dass aus Art. 19 i.V.m. Art. 16 Abs. 1 der
Freizügigkeitsrichtlinie ein Anspruch des Klägers auf Erteilung der begehrten
Bescheinigung über das Bestehen des Daueraufenthaltsrechts folge. Die Richtlinie finde
unmittelbar Anwendung, weil sie hinsichtlich der hier in Rede stehenden Regelung nicht
vollständig in innerstaatliches Recht umgesetzt worden sei. Art. 16 der Richtlinie gebe
jedem Unionsbürger das Daueraufenthaltsrecht, der sich fünf Jahre rechtmäßig im
Aufnahmemitgliedsstaat aufgehalten habe. Auf ausreichende Existenzmittel, die nach
Art. 7 Freizügigkeitsrichtlinie Voraussetzung für ein Aufenthaltsrecht seien, komme es in
diesem Zusammenhang nicht an. Das ergebe sich aus der Systematik der Richtlinie
sowie mit Blick auf deren Erwägungsgründe.
Der Senat hat auf Antrag des Beklagten mit Beschluss vom 5. Dezember 2007 die
Berufung zugelassen. Der Beklagte hat die Berufung sodann wie folgt begründet. Aus
dem Wortlaut des § 4a Abs. 1 FreizügG/EU, nach dem das Daueraufenthaltsrecht
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dem Wortlaut des § 4a Abs. 1 FreizügG/EU, nach dem das Daueraufenthaltsrecht
„unabhängig vom weiteren Vorliegen der Voraussetzungen des § 2 Abs. 2“ bestehe,
folge, dass der Unionsbürger zuvor ein Freizügigkeitsrecht nach § 2 FreizügG/EU erlangt
haben müsse. Dies sei beim Kläger nicht der Fall. Sein Aufenthalt sei allein aus
dringenden humanitären Gründen erlaubt worden. Er habe durchgehend öffentliche
Leistungen bezogen. Ein unmittelbar aus der Richtlinie folgender Anspruch sei
ausgeschlossen, da das Freizügigkeitsgesetz/EU den Art. 16 Abs. 1
Freizügigkeitsrichtlinie hinreichend umsetze. Auch danach sei es notwendig, dass der
Unionsbürger zuvor ein Freizügigkeitsrecht erworben habe.
Der Beklagte beantragt,
den Gerichtsbescheid des Verwaltungsgerichts Berlin vom 14. Februar 2007 zu
ändern und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er trägt vor, der Beklagte verkenne, dass Unionsbürger nicht erst ein Aufenthaltsrecht
im Hoheitsgebiet der Europäischen Union erwerben müssten, sondern ein allgemeines
Freizügigkeitsrecht besäßen. Ausreichende Existenzmittel könnten nur von solchen
Unionsbürgern verlangt werden, die noch kein Daueraufenthaltsrecht hätten.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Streitakte und den
Verwaltungsvorgang verwiesen. Dieser hat vorgelegen und ist zum Inhalt der mündlichen
Verhandlung gemacht worden.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung des Beklagten ist begründet. Das Verwaltungsgericht hat der
Klage zu Unrecht stattgegeben.
1. Die Klage auf Erteilung einer Bescheinigung des Daueraufenthaltsrechts ist, anders
als das Verwaltungsgericht angenommen hat, nicht als Verpflichtungsklage, sondern als
allgemeine Leistungsklage zulässig. Die Erteilung einer Bescheinigung über den
Daueraufenthalt gemäß § 5 Abs. 6 FreizügG/EU stellt keinen Verwaltungsakt dar (so
auch Epe in GK-AufenthG, Stand: Februar 2009, § 5 FreizügG/EU Rz 12, 73;Hailbronner,
AuslR, Stand: Februar 2009, D1, § 5 Rz 5; a.A. Renner, AuslR, 8. Aufl. 2005, § 5
FreizügG/EU Rz 13). Der Kläger hat die Bescheinigung auch beim Beklagten beantragt.
Er hat zwar ursprünglich einen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis/EU nach
altem Recht gestellt, jedenfalls im Widerspruchsverfahren jedoch parallel dazu die
Erteilung einer Bescheinigung des Daueraufenthaltsrechts begehrt. Dem Kläger steht
auch ein Rechtsschutzbedürfnis zur Seite, da der Besitz der Bescheinigung ihm den
Nachweis eines Daueraufenthaltsrechts mindestens erleichtern würde.
2. Die Klage ist jedoch unbegründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Erteilung einer
Bescheinigung über das Bestehen eines Daueraufenthaltsrechts.
a) Rechtsgrundlage für die Erteilung einer solchen Bescheinigung ist § 5 Abs. 6 Satz 1
i.V.m. § 4a Abs. 1 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern
(Freizügigkeitsgesetz/EU - FreizügG/EU) vom 30. Juli 2004 (BGBl. I S. 1950, 1986) in der
Fassung des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der
Europäischen Union - Richtlinienumsetzungsgesetz - vom 19. August 2007 (BGBl. I S.
1970, 1991), zuletzt geändert durch Artikel 7 des Gesetzes vom 26. Februar 2008 (BGBl.
I S. 215). Abzustellen ist auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten
mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz, soweit es wie hier um die Erteilung
einer Bescheinigung über das Bestehen eines Aufenthaltsrechts aus Rechtsgründen
geht.
b) Nach § 5 Abs. 6 Satz 1 FreizügG/EU wird Unionsbürgern auf Antrag unverzüglich ihr
Daueraufenthaltsrecht bescheinigt. Ein solches - das Recht auf Einreise und Aufenthalt
umfassendes - Daueraufenthaltsrecht haben gemäß § 4a Abs. 1 FreizügG/EU
Unionsbürger, ihre Familienangehörigen und Lebenspartner, die sich seit fünf Jahren
ständig rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten haben, und zwar unabhängig vom
weiteren Vorliegen der Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 FreizügG/EU.
aa) Das Freizügigkeitsgesetz/EU wurde 2004 zur Konzentration verschiedener
Regelungen geschaffen, die das Recht der Unionsbürger betreffen, sich in den übrigen
Mitgliedsstaaten aufzuhalten (vgl. Gesetzesbegründung in BT-Drs. 15/420, S. 101), und
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Mitgliedsstaaten aufzuhalten (vgl. Gesetzesbegründung in BT-Drs. 15/420, S. 101), und
als Bestandteil des Zuwanderungsgesetzes am 30. Juli 2004 beschlossen. Mit dem
Richtlinienumsetzungsgesetz wurde es in Teilen umgestaltet und an die aktuelle
Gemeinschaftsrechtslage angepasst (vgl. Gesetzesbegründung in BT-Drs. 16/5065, S. 2,
153, 210). Umzusetzen war die Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und
des Rates vom 29. April 2004 „über das Recht der Unionsbürger und ihrer
Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und
aufzuhalten“ (Freizügigkeitsrichtlinie - FreizügRL -, ABl. der EU Nr. L 158 vom 30. April
2004 S. 77, berichtigt in ABl. Nr. L 229 vom 29. Juni 2004 S. 35). Bei der Umsetzung
wurden die Regelungen zum Daueraufenthaltsrecht im neuen § 4a FreizügG/EU
zusammengefasst. Dieses Daueraufenthaltsrecht, das zuvor - in Vorwegnahme der
Richtlinienumsetzung - in § 2 Abs. 5 FreizügG/EU enthalten war und das auf Art. 16 der
Freizügigkeitsrichtlinie zurückgeht, ist der systematische Kern der Richtlinie und damit
auch des Freizügigkeitsgesetzes/EU (vgl. Schönberger, ZAR 2006, 226, 227). Es ist ohne
Vorbild in einer der bereichsspezifischen gemeinschaftsrechtlichen Vorgängerregelungen
der Freizügigkeitsrichtlinie.
Die Richtlinie stützt sich ausdrücklich u.a. auf Art. 18 Abs. 1 des Vertrages zur Gründung
der Europäischen Gemeinschaft vom 7. Februar 1992 - Maastricht-Vertrag - EGV), der
jedem Unionsbürger das subjektiv-öffentliche Recht gibt, sich im Hoheitsgebiet der
Mitgliedsstaaten vorbehaltlich der im Vertrag und den Durchführungsvorschriften
vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten. Die
Zielsetzung des Daueraufenthaltsrechts lässt sich den Erwägungsgründen 17 und 18 der
Freizügigkeitsrichtlinie entnehmen. Ein Recht auf Daueraufenthalt würde danach bei den
Unionsbürgern das Gefühl der Unionsbürgerschaft verstärken und entscheidend zum
sozialen Zusammenhalt - einem grundlegenden Ziel der Union - beitragen. Es soll
darüber hinaus ein Instrument für die Integration in die Gesellschaft des
Aufnahmemitgliedstaates sein.
bb) Der Kläger erfüllt nicht die Anforderungen für das Bestehen eines
Daueraufenthaltsrechts nach § 4a Abs. 1 FreizügG/EU. Zwar hält er sich seit mehr als
fünf Jahren ständig im Bundesgebiet auf. Dieser Aufenthalt stellt sich indes nicht als
rechtmäßig im Sinne der Vorschrift dar.
Rechtmäßig im Sinne des § 4a Abs. 1 FreizügG/EU ist allein ein Aufenthalt, der auf einem
gemeinschaftsrechtlich begründeten Freizügigkeitsrecht beruht. Dies ergibt sich aus
dem Wortlaut der Vorschrift, wonach das Daueraufenthaltsrecht unabhängig vom
weiteren Vorliegen der Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 besteht, der die Gruppen
freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger aufzählt. Die Regelung des § 4a Abs. 1
FreizügG/EU bringt mithin zum Ausdruck, dass ein Unionsbürger über den Zeitraum von
fünf Jahren ständig freizügigkeitsberechtigt gewesen sein muss, um ein
Daueraufenthaltsrecht zu erwerben, und dass dieses erst nach seiner Entstehung nicht
mehr vom weiteren Vorliegen der Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 FreizügG/EU
abhängig ist. Dabei ist für den Fünf-Jahres-Zeitraum nicht allein der Aufenthalt
unmittelbar vor Beantragung der Bescheinigung über das Daueraufenthaltsrecht in den
Blick zu nehmen (a.A. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 13. März 2006 - 13 S
220/06 -, juris Rz 8, 13, zu § 2 Abs. 5 FreizügG/EU a.F.), vielmehr genügt es, dass sich ein
Unionsbürger irgendwann über fünf Jahre rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat.
Nach Ablauf der fünf Jahre entsteht das Daueraufenthaltsrecht kraft Gesetzes und
erlischt lediglich in den gesetzlich geregelten Fällen (vgl. §§ 4a Abs. 7, 6 Abs. 2, 4
FreizügG/EU). Die Bescheinigung nach § 5 Abs. 6 FreizügG/EU kann daher auch zu einem
Zeitpunkt beantragt und ausgestellt werden, in dem gegebenenfalls die
Voraussetzungen für eine Freizügigkeit nicht (mehr) vorliegen. Berücksichtigungsfähig
können indes allein solche Zeiten sein, in denen der Herkunftsstaat des Unionsbürgers
Mitglied der Europäischen Union war. Stellt sich als rechtmäßig im Sinne des § 4a Abs. 1
FreizügG/EU nur ein solcher Aufenthalt dar, der auf einem gemeinschaftsrechtlich
begründeten Freizügigkeitsrecht beruht, so kann diese Bedingung nur in einem
Zeitraum erfüllt werden, in dem der Betroffene Unionsbürger ist. Die Republik Polen ist
zum 1. Mai 2004 der Europäischen Union beigetreten.
Jedenfalls ab diesem Zeitpunkt war der Kläger nicht freizügigkeitsberechtigt im Sinne von
§ 2 Abs. 2 FreizügG/EU, da er als nicht erwerbstätiger Unionsbürger nicht über
ausreichende Existenzmittel verfügte (§ 2 Abs. 2 Nr. 5 i.V.m. § 4 FreizügG/EU). Er bezog
während der gesamten Zeit staatliche Sozialleistungen. Zeiten des
Sozialleistungsbezugs sind jedoch - anders als bei Arbeitnehmern und selbständig
Erwerbstätigen (vgl. § 2 Abs. 3 FreizügG/EU) - in den Fällen des § 2 Abs. 2 Nr. 5
FreizügG/EU gemeinschaftsrechtlich nicht als Zeiten rechtmäßigen Aufenthalts im Sinne
von § 4a FreizügG/EU zu berücksichtigen (a.A. Epe, a.a.O., § 4a FreizügG/EU Rz 11 a.E.).
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c) Die - wie dargelegt - in § 4a Abs. 1 FreizügG/EU enthaltene Voraussetzung des
fünfjährigen Bestehens eines gemeinschaftsrechtlichen Freizügigkeitsrechts für das
Entstehen eines Daueraufenthaltsrechts ist mit den Maßgaben der
Freizügigkeitsrichtlinie, insbesondere mit Art. 16 Abs. 1 FreizügRL, vereinbar und setzt
diese Maßgaben - nach Auffassung des Senats - auch insoweit vollständig um, als sie für
diesen Zeitraum das Bestehen eines Freizügigkeitsrechts fordert. Vermag ein
Unionsbürger nicht für fünf Jahre die Voraussetzungen des Freizügigkeitsrechts gemäß §
2 FreizügG/EU (respektive Art. 7 FreizügRL) zu erfüllen, erwirbt er kein
Daueraufenthaltsrecht (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 14. März 2006 -
13 S 220/06 -, juris Rz 13; Urteil vom 29. November 2006 - 13 S 2435/05 -, InfAuslR
2007, 91, 92; Harms in: Storr/Wenger/Eberle, Kommentar zum Zuwanderungsrecht, 2.
Aufl. 2008, § 4a FreizügG/EU Rz 6; Kloesel/Christ/Häußer, Deutsches Aufenthalts- und
Ausländerrecht, Stand: April 2008, § 2 FreizügG/EU Rz 85; a.A.: VG Berlin, Urteil vom 3.
Mai 2007 - 11 A 109.07 -, Urteil vom 11. Januar 2007 - 11 A 259.06 -, juris; VG
Sigmaringen, Urteil vom 26. Juli 2007 - 8 K 1339/06 -, juris Rz 37, Huber/Göbel-
Zimmermann, AuslR, 2. Aufl. 2008, Rz 1444).
Nach Art. 16 Abs. 1 Satz 1 FreizügRL hat jeder Unionsbürger, der sich rechtmäßig fünf
Jahre lang ununterbrochen im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat, das Recht, sich
dort auf Dauer aufzuhalten. Das Daueraufenthaltsrecht ist nach Satz 2 nicht an die
Voraussetzungen des Kapitels III geknüpft, welches die Vorschriften über das
Aufenthaltsrecht und insbesondere in Art. 7 die Anforderungen an das
Freizügigkeitsrecht für einen Aufenthalt von über drei Monaten enthält.
Für Nichterwerbstätige wie den Kläger fordert Art. 7 Abs. 1 Buchstabe b FreizügRL als
Voraussetzung für das Entstehen eines Freizügigkeitsrechts unter anderem, dass sie
über ausreichende Existenzmittel verfügen, so dass sie während ihres Aufenthalts keine
Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen. Der
Wortlaut gibt damit nichts für die Annahme her, dass bereits für die Entstehung des
Daueraufenthaltsrechts diese Voraussetzungen keine Rolle spielen. Vielmehr erscheint
es danach möglich, dass das einmal entstandene Daueraufenthaltsrecht nicht mehr
vom fortdauernden (§ 4a Abs. 1 FreizügG/EU: „weiteren“) Vorliegen dieser
Voraussetzungen abhängig ist.
Was die Systematik der Richtlinie angeht, so spricht diese dafür, dass das
Daueraufenthaltsrecht eine fünfjährige gemeinschaftsrechtliche
Freizügigkeitsberechtigung voraussetzt. Das insoweit für die Gegenauffassung
vorgebrachte Argument, dass Art. 14 Abs. 3 FreizügRL einen Automatismus der
Ausweisung bei Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen verbiete, verfängt nicht.
Denn Gegenstand dieser Regelung ist die Aufenthaltsbeendigung und nicht das
Daueraufenthaltsrecht oder die Freizügigkeitsberechtigung. Bei näherer Betrachtung des
Regelungssystems der Richtlinie spricht vielmehr alles für das Erfordernis eines
gemeinschaftsrechtlich rechtmäßigen Aufenthalts. Die Freizügigkeitsrichtlinie hat ein
(neues) dreistufiges System der rechtlichen Einordnung von Aufenthalten von
Unionsbürgern in anderen Mitgliedsstaaten entwickelt. Die erste Stufe bildet das in Art. 6
Abs. 1 FreizügRL geregelte Recht auf Aufenthalt bis zu drei Monaten. Der Unionsbürger
benötigt hierfür allein ein gültiges Personaldokument. Die zweite Stufe stellt das
Aufenthaltsrecht für mehr als drei Monate nach Art. 7 FreizügRL dar, welches für
Arbeitnehmer und Selbständige unbedingt gilt und für in Ausbildung Stehende und
Erwerbslose an bestimmte Voraussetzungen geknüpft wird, nämlich für Erwerbslose u.a.
an die Sicherstellung ausreichender Existenzmittel. Es entfällt gemäß Art. 14 Abs. 2
Unterabsatz 1 FreizügRL, wenn diese Voraussetzung nicht mehr vorliegt. Die dritte
Stufe, auf der dem Unionsbürger die am stärksten gesicherte rechtliche Position
vermittelt wird, stellt das Daueraufenthaltsrecht dar. Für den
Daueraufenthaltsberechtigten gelten nicht (mehr) die Anforderungen des Art. 7
FreizügRL. Das Recht geht lediglich nach einer mehr als zweijährigen Abwesenheit (Art.
16 Abs. 4 FreizügRL) oder Ausweisung (Art. 27, 28 Abs. 2, 3 FreizügRL) verloren. Es
erscheint kaum systemgerecht, wenn das so gesicherte Aufenthaltsrecht von einem
Unionsbürger erlangt werden könnte, ohne dass zuvor die Anforderungen der zweiten
Stufe erfüllt wurden, und zwar, wie Art. 16 Abs. 1 FreizügRL zum Ausdruck bringt, fünf
Jahre lang ununterbrochen. Ohnehin erschiene es systemwidrig, wenn das stärkste
gemeinschaftsrechtliche Aufenthaltsrecht eines Unionsbürgers durch die Erfüllung von
aufenthaltsrechtlichen Tatbeständen des jeweiligen nationalen Rechts des
Mitgliedsstaats vermittelt werden könnte. Die Freizügigkeitsrichtlinie ist ein in sich
geschlossenes System (vgl. Harms in: Storr/Wenger/Eberle, a.a.O., Rz 6 a.E.), sodass es
klar zum Ausdruck kommen müsste, wenn sie die Normierung der Anforderungen für
ihren systematischen Kern, das Daueraufenthaltsrecht, an den nationalen Gesetzgeber
delegierte. Da Art. 16 Abs. 1 FreizügRL kein sonstiges Aufenthaltsrecht als maßgeblich
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delegierte. Da Art. 16 Abs. 1 FreizügRL kein sonstiges Aufenthaltsrecht als maßgeblich
nennt, kann sich das Rechtmäßigkeitserfordernis nur auf das aus der
Unionsbürgerschaft (Art. 18 Abs. 1 EGV) folgende Freizügigkeitsrecht beziehen (so auch
Kloesel/Christ/Häußer, a.a.O., Rz 85 a.E.).
Darüber hinaus stützt eine Berücksichtigung der Erwägungsgründe der Richtlinie diese
dem Regelungssystem entnommene Auslegung. Nach Erwägungsgrund 17 soll für alle
Unionsbürger, die sich „gemäß den in dieser Richtlinie festgelegten Bedingungen“ fünf
Jahr lang ununterbrochen in dem Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten haben und gegen
die keine Ausweisungsmaßnahme angeordnet wurde, ein Recht auf Daueraufenthalt
vorgesehen werden. Das auf diese Weise „einmal erlangte Recht auf Daueraufenthalt“
soll nach Erwägungsgrund 18 keinen Bedingungen unterworfen werden. Damit bringen
beide Erwägungsgründe klar zum Ausdruck, dass allein ein fünfjähriger Aufenthalt auf
der Grundlage des Freizügigkeitsrechts das Daueraufenthaltsrecht entstehen lässt und
erst nach der Entstehung die zuvor geltenden Bedingungen außer Betracht bleiben
sollen.
Auch mit Blick auf den Sinn und Zweck des Daueraufenthaltsrechts ist keine andere
Betrachtungsweise geboten. Zweck des Daueraufenthaltsrechts ist - wie dargestellt - die
Stärkung des Gefühls der Unionsbürgerschaft. Es soll zum sozialen Zusammenhalt
beitragen. Diese allgemein gehaltenen Ziele erfordern es nicht, jedem sich legal fünf
Jahre im Aufnahmestaat aufhaltenden Unionsbürger das Daueraufenthaltsrecht zu
gewähren. Vielmehr enthalten bereits die Erwägungsgründe, die die genannten Ziele
formulieren, auch den Hinweis auf das Erfordernis der in der Richtlinie festgelegten
Bedingungen, also mittelbar auch auf die wirtschaftlichen Voraussetzungen bei nicht
erwerbstätigen Unionsbürgern gemäß Art. 7 Abs. 1 Buchstabe b FreizügRL.
Nach alldem stellt Art. 16 Abs. 1 FreizügRL keine geringeren Anforderungen an das
Entstehen eines Daueraufenthaltsrechts als § 4a Abs. 1 FreizügG/EU. Beide Vorschriften
fordern einen fünfjährigen Aufenthalt auf der Grundlage des gemeinschaftsrechtlichen
Freizügigkeitsrechts und damit für Erwerbslose die durchgehende Sicherstellung
ausreichender Existenzmittel.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 2 VwGO. Die Entscheidung über die
vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr.
10, 711 ZPO.
Die Revision ist gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zuzulassen, weil die Rechtssache
grundsätzliche Bedeutung hat. Sie wirft die Rechtsfrage auf, ob der für den Erwerb eines
Daueraufenthaltsrechts nach § 4a Abs. 1 FreizügG/EU erforderliche fünfjährige
rechtmäßige Aufenthalt im Bundesgebiet voraussetzt, dass der Unionsbürger während
dieser Zeit gemeinschaftsrechtlich freizügigkeitsberechtigt im Sinne des § 2 Abs. 2
FreizügG/EU gewesen ist.
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