Urteil des OVG Berlin-Brandenburg vom 27.03.2008

OVG Berlin-Brandenburg: tod, unverzüglich, belastung, prüfungsbehörde, auflage, beweisantrag, hinderungsgrund, sammlung, beweisergebnis, beweismittel

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Gericht:
Oberverwaltungsgericht
Berlin-Brandenburg 10.
Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
OVG 10 N 57.08
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
Art 12 Abs 1 GG, § 21 Abs 2
WiPrPrüfV
Rücktritt von der Wirtschaftsprüferprüfung bei Tod der Mutter
27 Tage vor der Prüfung
Tenor
Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des
Verwaltungsgerichts Berlin vom 27. März 2008 wird abgelehnt.
Die Kosten des Berufungszulassungsverfahrens trägt die Beklagte.
Der Streitwert wird für die zweite Rechtsstufe auf 15.000 EUR festgesetzt.
Gründe
Der auf ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) sowie
das Vorliegen eines Verfahrensmangels (§ 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO) gestützte Antrag auf
Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Das Vorbringen der Beklagten, das den
Prüfungsumfang für das Oberverwaltungsgericht bestimmt (§ 124 a Abs. 4 Satz 4
VwGO), rechtfertigt die Zulassung der Berufung nicht.
1. Gemessen an den Einwendungen der Beklagten bestehen keine ernstlichen Zweifel an
der Richtigkeit des Urteils, mit dem das Verwaltungsgericht der Klage stattgegeben und
den Bescheid der Beklagten über das Nichtbestehen der Prüfung zum Wirtschaftsprüfer
aufgehoben hat. In diesem Bescheid hatte die Beklagte die Wirtschaftsprüferprüfung des
Klägers im ersten Wiederholungsversuch für insgesamt nicht bestanden erklärt, weil der
Kläger an der mündlichen Ergänzungsprüfung nicht teilgenommen hat (§ 21 Abs. 1 der
Wirtschaftsprüferprüfungsverordnung vom 20. Juli 2004 - WiPrPrüfV -). Das
Verwaltungsgericht ist demgegenüber davon ausgegangen, dass das Versäumen der
mündlichen Prüfung gemäß § 21 Abs. 2 WiPrPrüfV folgenlos geblieben sei, weil ein
triftiger Grund für die Nichtteilnahme vorgelegen und der Kläger diesen unverzüglich
schriftlich mitgeteilt habe. Die dagegen erhobenen Bedenken der Beklagten greifen nicht
durch.
a) Soweit die Beklagte bereits das Vorliegen eines triftigen Grundes verneint, vermögen
ihre Ausführungen nicht zu überzeugen. Fraglich mag bereits sein, ob die Beklagte
insoweit von einem zutreffenden Maßstab ausgeht. Es spricht einiges dafür, an das
Vorliegen eines „triftigen“ Grundes geringere Anforderungen als an das eines
„wichtigen“ Grundes zu stellen und insoweit jeden „vernünftigen“ Grund für die
Nichtteilnahme an der Prüfung ausreichen zu lassen (vgl. hierzu Zimmerling/Brehm,
Prüfungsrecht, 3. Auflage 2007, Rn. 440). Zudem ist zu berücksichtigen, dass es hier um
einen bereits vor der Prüfung geltend gemachten Hinderungsgrund geht und der Kläger
nicht die „Annullierung“ einer teilweise oder vollständig erbrachten Prüfungsleistung
begehrt. Unter dem Gesichtspunkt einer möglichen Verletzung der Chancengleichheit
aller Prüflinge ist bei dieser Fallkonstellation nicht abzuwägen, ob der Prüfling nochmals
die konkrete Prüfungsleistung erbringen darf, sondern ob ihm noch eine weitere
Gelegenheit zur Prüfungsvorbereitung einzuräumen oder ihm die Prüfungsteilnahme
zumutbar ist (vgl. etwa VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 15. September 1987 - 9 S
1168/87 -, Leitsatz 1 zitiert nach juris). Auch dies spricht dafür, an das Vorliegen eines
triftigen Grundes i.S.d. § 21 Abs. 2 WiPrPrüfV geringere Anforderungen zu stellen als
etwa bei der nachträglichen Geltendmachung von Beeinträchtigungen bezüglich einer
schon absolvierten Prüfung (vgl. hierzu Zimmerling/Brehm, a.a.O., Rn. 500 ff.; zum
strengen Maßstab bei einem nachträglichen „Rücktritt“ etwa BVerwG, Urteil vom 7.
Oktober 1988 - 7 C 8.88 - BVerwGE 80, 282, 285). Maßgeblich sind dabei immer die
Umstände des jeweiligen Einzelfalls (vgl. BVerwG, Urteil vom 6. September 1995 - 6 C
16.93 -, BVerwGE 99, 172, 181).
Der Ansatz der Beklagten, dass ein plötzlicher Schicksalsschlag nur dann als triftiger
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Der Ansatz der Beklagten, dass ein plötzlicher Schicksalsschlag nur dann als triftiger
Hinderungsgrund anzusehen ist, wenn er in nahem zeitlichen Zusammenhang mit der
Prüfung eingetreten ist, dürfte zwar zutreffen (vgl. Zimmerling/Brehm, a.a.O., Rn. 498).
Nicht nachvollziehbar ist jedoch die Einschätzung der Beklagten, bei dem vom Kläger
geltend gemachten Tod seiner Mutter 27 Tage vor der Prüfung fehle es an der
erforderlichen zeitlichen Nähe. Es entspricht bereits der allgemeinen Lebenserfahrung,
dass der Tod eines so nahen Angehörigen wie der eigenen Mutter eine psychische
Belastung darstellt, die nicht innerhalb weniger Tage bewältigt ist und ohne weiteres
auch noch einen Monat später fortwirkt. Zudem ist die Behauptung der Beklagten nicht
zutreffend, den Ausführungen des Klägers sei kein Hinweis auf seine besondere
emotionale Belastung während des Zeitraums bis zur Prüfung zu entnehmen. Der Kläger
hat mehrfach vorgetragen, der Tod seiner erst 66 Jahre alten Mutter sei völlig
überraschend eingetreten. Er habe die Ladung zur Prüfung, die er am Todestag selbst
erhalten habe, erst nach einigen Tagen zur Kenntnis nehmen können. Zudem habe er
sich um die Formalitäten und die Auflösung des Haushalts seiner Mutter im Heim
kümmern müssen. Aufgrund der psychischen und tatsächlichen Belastung sei er nicht in
der Lage gewesen, sich angemessen auf die Prüfung vorzubereiten (Schreiben an die
Beklagte vom 2., 5. und 18. Mai 2006, Klagebegründung vom 19. Juli 2007). Soweit die
Beklagte nähere Darlegungen dazu vermisst, warum der Kläger (wohl) weiterhin seiner
Berufstätigkeit nachgehen, nicht aber sich auf die anstehende Prüfung vorbereiten
konnte, verkennt sie, dass die routinemäßige Erfüllung beruflicher Pflichten nicht
vergleichbar ist mit der Vorbereitung auf eine wichtige und einmalige Prüfung, zumal
diese Prüfungsvorbereitung neben der Berufstätigkeit erfolgen musste und daher eine
zusätzliche Belastung darstellte. Auch der Hinweis der Beklagten darauf, dass der Kläger
eine Schwester habe, die sich möglicherweise ebenfalls um die Formalitäten nach dem
Tod der Mutter hätte kümmern können, führt zu keiner anderen Beurteilung. Maßgebend
ist, dass sich der Kläger nach seinem Vorbringen tatsächlich um die Abwicklung
gekümmert hat und kein Anlass besteht, hieran zu zweifeln. Die Mutter lebte in
derselben Stadt wie der Kläger und es gehört zu den typischen (rechtlichen und
moralischen) Aufgaben eines Kindes, sich nach dem Tod des letzten Elternteils um die
anfallenden Formalitäten zu kümmern. Der durch die Vorlage der Sterbeurkunde belegte
Tod der Mutter des Klägers am 11. April 2006 und die Erläuterungen des Klägers in der
anschließenden Korrespondenz mit der Beklagten sind daher ohne weiteres geeignet,
einen triftigen Grund für die Nichtteilnahme an der Prüfung am 8. Mai 2006 aufzuzeigen.
b) Auch die Einschätzung des Verwaltungsgerichts, dass der triftige Grund im Sinne des
§ 21 Abs. 2 Satz 2 WiPrPrüfV unverzüglich schriftlich mitgeteilt worden sei, begegnet
keinen ernsthaften Bedenken. Zutreffend hat das Verwaltungsgericht die Frage, ob die
Mitteilung der Gründe für die Nichtteilnahme an der Prüfung zum frühestmöglichen
Zeitpunkt erfolgt ist, zu dem sie zumutbarerweise hätte erwartet werden können (vgl.
BVerwG, Urteil vom 7. Oktober 1988, a.a.O., S. 286; Urteil vom 13. Mai 1998 - 6 C 12.98
-, BVerwGE 106, 369, 373), am Maßstab des Art. 12 Abs. 1 GG gemessen und dabei die
Gründe in den Blick genommen, die die Verpflichtung des Prüflings zur unverzüglichen
Mitteilung von Hinderungsgründen rechtfertigen können. Soweit die Beklagte in diesem
Zusammenhang meint, das Verwaltungsgericht habe zu Unrecht „keine zu hohen
Anforderungen“ an die Unverzüglichkeit gestellt, weil der drohende Verlust eines
Prüfungsversuchs jedem Prüfungsverfahren immanent sei, verkennt sie, dass in jedem
Prüfungsverfahren, das berufseröffnende Prüfungen betrifft und in dem es nur eine
begrenzte Anzahl von Prüfungsversuchen gibt, alle einschränkende Regelungen zum
Bestehen der Prüfung und zum Prüfungsverfahren stets am Maßstab des Art. 12 Abs. 1
GG zu messen sind (vgl. BVerfG, Beschluss vom 17. April 1991 - 1 BvR 419/81 und
213/83 -, BVerfGE 84, 34, 45 f.). Die in den jeweiligen Prüfungsordnungen normierte
allgemeine Pflicht des Prüflings, einen - tatsächlich vorliegenden - Grund für das
Versäumen eines Prüfungstermins oder die Nichtbewertung einer Prüfung unverzüglich
schriftlich mitzuteilen, ist nach der gefestigten verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung
durch zwei selbständig nebeneinander stehende Gesichtspunkte gerechtfertigt. Zum
einen soll verhindert werden, dass sich ein Prüfling in Kenntnis eines Hinderungsgrundes
gleichwohl der Prüfung unterzieht und nachträglich entscheiden kann, ob er eine im
Verhältnis zu anderen Prüflingen zusätzliche Prüfungschance in Anspruch nehmen will.
Zum anderen soll der Prüfungsbehörde eine eigene, möglichst zeitnahe Überprüfung
des Sachverhalts und ggf. eine rechtzeitige Abhilfe ermöglicht werden (vgl. BVerwG,
Urteil vom 22. Juni 1994 - 6 C 37.92 -, BVerwGE 96, 126, 129 f.). Beide Gesichtspunkte
gebieten vorliegend keinen besonders strengen Maßstab bezüglich der
„Unverzüglichkeit“, weil es weder um die nachträgliche Geltendmachung von
Hinderungsgründen geht noch Beweis- und Aufklärungsschwierigkeiten drohen. Das
Verwaltungsgericht hat daher im Einklang mit der Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts keine zu hohen Anforderungen an die Unverzüglichkeit
gestellt (vgl. BVerwG, Urteil vom 13. Mai 1998, a.a.O., S. 372 f.).
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Auch die konkrete Bewertung des zeitlichen Ablaufs als noch unverzüglich ist nicht zu
beanstanden. Entgegen der Ansicht der Beklagten ist es ohne weiteres nachvollziehbar,
dass der Kläger sich erst am 2. Mai 2006 zur schriftlichen Mitteilung, dass er den
Prüfungstermin nicht wahrnehmen könne, in der Lage sah. Der Kläger hat die Ladung zu
der knapp vier Wochen später am Montag, den 8. Mai 2006 anberaumten Prüfung am
Dienstag, den 11. April 2006 erhalten; an diesem Tag starb seine Mutter. In der Folgezeit
hatte sich der Kläger um die unmittelbar mit dem Todesfall zusammenhängenden
Abwicklungsformalitäten zu kümmern und die Beerdigung am 21. April 2006 zu
organisieren. Am Montag, den 24. April 2006 hat er anlässlich eines von der Beklagten
initiierten Telefonats die Prüfungsbehörde mündlich von dem Todesfall unterrichtet. Dass
er dann erst mit Schreiben vom 2. Mai 2006 und damit drei Wochen nach Zugang der
Ladung zusammen mit der gerade erhaltenen Sterbeurkunde die Beklagte schriftlich
informiert und (erstmals) um einen neuen Prüfungstermin gebeten hat, ist bei
Gesamtwürdigung aller Umstände als noch im Rahmen der dem Kläger zuzubilligen
Handlungsfrist und damit noch als unverzüglich anzusehen. Dabei ist es unerheblich, ob
dem Kläger eine frühere schriftliche Mitteilung objektiv möglich gewesen wäre, denn
maßgebend ist, welches Handeln ihm zumutbar war.
2. Soweit die Beklagte rügt, das Verwaltungsgericht sei seiner Pflicht zur Aufklärung des
Sachverhalts (§ 86 Abs. 1 VwGO) nicht hinreichend nachgekommen, ist der damit
geltend gemachte Verfahrensfehler nicht in einer den Anforderungen des § 124 a Abs. 4
Satz 4 VwGO genügenden Weise dargelegt worden. Hierzu gehört bei Erhebung einer
Aufklärungsrüge, dass nicht nur substantiiert erläutert wird, hinsichtlich welcher
tatsächlichen Umstände Aufklärungsbedarf bestanden habe, sondern auch, welche für
geeignet und erforderlich gehaltenen Aufklärungsmaßnahmen hierfür in Betracht
gekommen wären und welche tatsächlichen Feststellungen bei Durchführung der
unterbliebenen Sachverhaltsaufklärung voraussichtlich getroffen worden wären; ferner
muss dargelegt werden, dass bereits im Verfahrens vor dem Tatsachengericht auf die
Vornahme der Sachverhaltsaufklärung, deren Unterbleiben nunmehr gerügt wird,
hingewirkt worden ist oder dass sich dem Gericht die bezeichneten Ermittlungen von sich
aus hätten aufdrängen müssen (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 16. Auflage 2009, § 124 a
Rn. 56; zu entsprechenden Anforderungen im Rahmen des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO
etwa BVerwG, Beschluss vom 19. Oktober 2006 - 10 B 10.06 -, zitiert nach juris, Rn. 2
m.w.N. für die stRspr.). Diesem Erfordernis wird die Begründung des Zulassungsantrags
nicht gerecht. Die Beklagte beschränkt sich auf die Rüge, das Verwaltungsgericht hätte
aufklären müssen, welche konkreten Auswirkungen der Todesfall auf die
Prüfungsvorbereitung des Klägers gehabt habe, warum der Kläger gleichwohl seiner
Berufstätigkeit habe nachgehen können und warum nur er die Formalitäten nach dem
Tode seiner Mutter habe erledigen können oder müssen, obwohl er eine Schwester
habe; dieses Vorbringen geht weder auf etwaige Beweismittel noch auf das
voraussichtliche Beweisergebnis näher ein.
Eine mangelnde Sachaufklärung kann zudem grundsätzlich nicht mehr erfolgreich
geltend gemacht werden, wenn eine anwaltlich vertretene Partei keinen entsprechenden
Beweisantrag gestellt hat, es sei denn, dem Gericht musste sich eine weitere
Sachaufklärung offensichtlich aufdrängen (vgl. Kopp/Schenke, a.a.O., § 124 Rn. 13;
BVerwG, Urteil vom 29. Mai 2008 - 10 C 11.07 -, NVwZ 2008, 1246, zitiert nach juris, Rn.
13; Beschluss vom 19. Oktober 2006, a.a.O., Rn. 4). Entsprechendes gilt, wenn eine
fachkundig vertretene Behörde - hier die durch einen Rechtsanwalt vertretene Beklagte -
das Stellen eines Beweisantrages unterlassen hat. Im vorliegenden Verfahren hat die
Beklagte weder einen Beweisantrag gestellt noch überhaupt zu irgendeinem Zeitpunkt
im Verwaltungs- oder erstinstanzlichen Verfahren die nunmehr für klärungsbedürftig
erachteten Gesichtspunkte angesprochen und in Frage gestellt. Dass sich bei dieser
Sachlage weitere Ermittlungen dem Gericht hätten aufdrängen müssen, ist nicht einmal
ansatzweise dargetan.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht
auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG, wobei sich der Senat an der Empfehlung in Nr.
II.36.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (Fassung Juli 2004,
NVwZ 2004, 1327) orientiert hat.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66
Abs. 3 Satz 3 GKG).
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