Urteil des OVG Berlin-Brandenburg vom 13.03.2017

OVG Berlin-Brandenburg: aufschiebende wirkung, psychologische begutachtung, psychologisches gutachten, alkoholmissbrauch, inhaber, gutachter, fahrrad, zustand, fahreignung, verordnung

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Gericht:
Oberverwaltungsgericht
Berlin-Brandenburg 5.
Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
OVG 5 S 9.07
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 46 Abs 1 FeV, § 46 Abs 3 FeV,
§ 13 Nr 2c FeV, § 13 Nr 2e FeV,
Anl 4 Nr 8 FeV
Entziehung der Fahrerlaubnis bei Trunkenheitsfahrt mit dem
Fahrrad mit 1,6 Promille und mehr nach Aufforderung zur
Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens
Leitsatz
1. Für die Beurteilung, ob der Inhaber einer Fahrerlaubnis übermäßigen Alkoholkonsum und
die Teilnahme am Straßenverkehr hinreichend sicher zu trennen vermag, ist es unerheblich,
ob er beim Führen eines Kraftfahrzeuges oder eines anderen Fahrzeuges auffällig geworden
ist.
2. Auch die erstmals anlässlich einer Fahrradfahrt mit einer BAK von 1,6 Promille (oder mehr)
aufgetretene Alkoholauffälligkeit im Straßenverkehr vermag die Annahme von
Alkoholmissbrauch zu begründen (a.A. die st. Rspr. des VG Potsdam, Beschluss vom 8. Juli
2005 - 10 L 279/05 - NZV 2006, S. 331).
3. Ein zur Klärung von Eignungszweifeln beigebrachtes medizinisch-psychologisches
Gutachten, das sich in diesen Fällen an der Frage nach einer Änderung des Trinkverhaltens
des Betreffenden ausrichtet, ist nicht unbrauchbar.
Tenor
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts
Potsdam vom 23. Juni 2006 mit Ausnahme der Streitwertfestsetzung geändert.
Der Antrag des Antragstellers, die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid
des Antragsgegners vom 14. Februar 2005 in der Gestalt des Widerspruchbescheides
vom 12. April 2006 wiederherzustellen, wird abgelehnt.
Die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge trägt der Antragsteller.
Der Wert des Beschwerdegegenstandes wird auf 6.250 € festgesetzt.
Gründe
Die Beschwerde ist begründet. Aus den vom Antragsgegner dargelegten Gründen (§ 146
Abs. 4 Satz 6 VwGO) ergeben sich durchgreifende Zweifel an der Richtigkeit der
angegriffenen Entscheidung. Nach den Prüfungsmaßstäben des vorläufigen
Rechtsschutzverfahrens erweist sich die Entziehungsverfügung entgegen der Auffassung
des Verwaltungsgerichts als rechtmäßig.
Das Verwaltungsgericht hat angenommen, dass die Maßstäbe, anhand derer die
Kraftfahreignung des Antragstellers zu beurteilen sei, sich aus § 46 Abs. 1 Satz 2 der
Fahrerlaubnis-Verordnung (FeV) in Verbindung mit Nr. 8 der Anlage 4 zu den §§ 11, 13
und 14 FeV ergäben. Da der Antragsgegner einerseits keine hinreichenden
Anhaltspunkte für eine Alkoholabhängigkeit im Sinne von Nr. 8.3 der Anlage 4 bei dem
Antragsteller sehe, ein Missbrauch nach Nr. 8.1 andererseits voraussetze, dass ein
Kraftfahrzeug unter Alkoholeinfluss geführt worden sei, könne dem Antragsteller
hinsichtlich der Fähigkeit, den Genuss von Alkohol und das Führen eines Kraftfahrzeuges
hinreichend sicher trennen zu können, (noch) kein Versagen vorgehalten werden, weil er
lediglich als Führer eines Fahrrades alkoholauffällig geworden sei. Zwar könne eine
Trunkenheitsfahrt mit dem Fahrrad Ausdruck eines Steuerungsverlustes sein, der sich
auch auf eine Verkehrsteilnahme mit einem Kraftfahrzeug auswirken könne. Ob es sich
so verhalte oder ob die Benutzung nicht vielmehr Bestandteil einer
Vermeidungsstrategie sei, müsse aber vom Gutachter erst ermittelt werden. Das
aufgrund der erneuten Aufforderung des Antragsgegners beigebrachte Gutachten der
TÜV Kraftfahrt GmbH vom 20. Februar 2006 habe diese rechtlichen Maßstäbe
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TÜV Kraftfahrt GmbH vom 20. Februar 2006 habe diese rechtlichen Maßstäbe
missachtet, indem es eine für den Antragsteller positive Einschätzung seines
Trennvermögens von der Beendigung des Alkoholmissbrauchs durch stabilen Verzicht
abhängig gemacht habe, der zudem nach Nr. 8.4 der Anlage 4 nur bei
Alkoholabhängigkeit zu fordern sei. Das Gutachten sei daher insgesamt unbrauchbar.
Der Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts zu den Maßstäben, anhand derer die
Eignung eines alkoholauffällig gewordenen Inhabers einer Fahrerlaubnis zu beurteilen ist,
kann nicht gefolgt werden. Abgesehen davon, dass sich nach § 46 Abs. 1 Satz 2 FeV als
ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen auch erweist, wer - wie der Antragsteller -
im Zustand starker Alkoholisierung mit einem Fahrrad am Straßenverkehr teilnimmt und
damit erheblich gegen eine Strafvorschrift verstößt (§ 316 StGB), greift das der
Entscheidung zugrunde liegende, ausschließlich an Nr. 8.1 und 8.2 der Anlage 4 FeV
orientierte Verständnis von der Beeinträchtigung der Fahreignung im Falle von
Alkoholmissbrauch deutlich zu kurz. Das ergibt sich aus folgendem:
Gemäß § 46 Abs. 1 Satz 2 FeV nehmen die in der Anlage 4 aufgelisteten Bewertungen
an der Verbindlichkeit teil, die den Rechtsvorschriften der Fahrerlaubnis-Verordnung
selbst zukommt. Mit ihnen zeichnet der Verordnungsgeber für den Regelfall die auf
wissenschaftlicher Grundlage gewonnenen und zunächst in den Begutachtungs-Leitlinien
„Krankheit und Kraftverkehr“, nunmehr in den Leitlinien zur „Kraftfahrereignung“ des
Gemeinsamen Beirats für Verkehrsmedizin zusammengefassten Erkenntnisse und
Erfahrungen nach (vgl. Hamburgisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 24.
Februar 2002 - 3 Bs 19.02 - NordÖR 2003, 123). Entsprechend der Bewertung in Nr. 8.1
der Anlage 4 schließt Alkoholmissbrauch die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen
aus. Ob - wie das Verwaltungsgericht meint - aus dem Klammerzusatz „Das Führen von
Kraftfahrzeugen und ein die Fahrsicherheit beeinträchtigender Alkoholkonsum kann nicht
hinreichend sicher getrennt werden“ zu folgern ist, dass dem Inhaber einer Fahrerlaubnis
erst und nur dann „Missbrauch“ als Eignungsmangel vorgehalten werden kann, wenn er
in alkoholisiertem Zustand ein Kraftfahrzeug geführt hat, erscheint schon mit Blick auf
die Erläuterungen in Kapitel 3.11.1 der Leitlinien zweifelhaft, zumal es der Sache nach
keinen essentiellen Unterschied macht, ob der Betreffende sein fehlendes
Trennvermögen anlässlich einer Fahrt mit einem Kraftfahrzeug oder einer Fahrradfahrt
unter Beweis gestellt hat. Allein aus dem Klammerzusatz herzuleiten, der
Verordnungsgeber nehme die Risiken für den Straßenverkehr, die aus einer zwar
dauerhaft ausgeprägten, aber noch unterhalb der Schwelle der Abhängigkeit liegenden
Alkoholproblematik eines Kraftfahrers resultieren, solange ausdrücklich hin, als es noch
nicht zu einer Fahrt mit dem Kraftfahrzeug gekommen ist, und er verlange dem Inhaber
einer Fahrerlaubnis - mangels Missbrauchs im Sinne von Nr. 8.1 der Anlage 4 - selbst
dann keine Änderung des Trinkverhaltens oder gar einen stabilen Verzicht ab, wenn
dieser als Radfahrer mit einer Blutalkoholkonzentration von 1,6 ‰ oder mehr auffällig
geworden ist, ist jedenfalls unter Verkehrssicherheitsaspekten nicht vertretbar und aus
Rechtsgründen auch nicht haltbar.
Wenn § 46 Abs. 1 Satz 2 FeV auf Mängel u.a. nach der Anlage 4 verweist, folgt daraus
zunächst nur, dass bei demjenigen, der ein Kraftfahrzeug entweder wiederholt unter
unzulässig hoher Alkoholwirkung oder einmalig unter hoher Alkoholkonzentration ohne
weitere Anzeichen einer Alkoholwirkung geführt hat oder bei dem es nachweislich in der
Vergangenheit im Zusammenhang mit der Verkehrsteilnahme zu einem Verlust der
Kontrolle des Alkoholkonsums gekommen ist, die Nichteignung zum Führen von
Kraftfahrzeugen als erwiesen anzusehen ist. Das bedeutet jedoch nicht, dass der
Verordnungsgeber in den Fällen, in denen der Inhaber einer Fahrerlaubnis zwar in
gleicher Weise im Straßenverkehr auffällig geworden ist, dabei jedoch kein Kraftfahrzeug,
sondern ein anderes Fahrzeug geführt hat, keinen die Fahreignung ausschließenden
Missbrauch im Sinne des Klammerzusatzes in Nr. 8.1 der Anlage 4 annehmen wollte.
Vielmehr sieht er, wie sich aus § 46 Abs. 3 FeV und der Verweisung auf § 13 ergibt, das
in Fällen dieser Art gleichermaßen zum Ausdruck gebrachte mangelnde Trennvermögen
zwischen dem missbräuchlichen Konsum von Alkohol und der Teilnahme am
Straßenverkehr lediglich als noch nicht abschließend geklärt an. Dementsprechend
unterscheiden die Begutachtungs-Leitlinien in Kapitel 3.11.1 auch nicht zwischen dem
Führen von Kraftfahrzeugen und dem Führen anderer Fahrzeuge, wenn es darum geht,
wann von Alkoholmissbrauch auszugehen ist. Dass der Verordnungsgeber zur
Vermeidung der nahe liegenden Gefahr, dass der Betreffende infolge seines
Kontrollverlustes in Zukunft auch ein Kraftfahrzeug im Zustand unzulässig starker
Alkoholisierung führen könnte, an einen durch die - aus eben diesem Grund obligatorisch
anzuordnende - medizinisch-psychologische Begutachtung aufgedeckten
Alkoholmissbrauch die gleichen Konsequenzen gezogen sehen will, wie sie nach Nr. 8.2
der Anlage 4 im Falle des erwiesenen Missbrauchs zu ziehen sind, lässt sich - falls man
dies nicht als ohnehin auf der Hand liegend ansehen will - unschwer den Leitsätzen in
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dies nicht als ohnehin auf der Hand liegend ansehen will - unschwer den Leitsätzen in
Kapitel 3.11.1 der Leitlinien und § 13 Nr. 2 Buchst. e) FeV entnehmen. Entgegen der
Auffassung des Verwaltungsgerichts hatte sich das Gutachten deshalb insbesondere mit
der Frage zu befassen, ob sich bei dem Betroffenen ein grundlegender Wandel in der
Einstellung und im Verhalten beim Umgang mit Alkohol vollzogen hat und ob davon
auszugehen ist, dass dieser Wandel hinreichend stabil und motivational gefestigt ist. Nur
und erst dann sind aus Sicht des Verordnungsgebers die Voraussetzungen erfüllt, unter
denen die Eignung zum Führen (auch) von Kraftfahrzeugen als wiederhergestellt
angesehen werden kann. Diesen Maßstäben genügt nicht nur das Gutachten des TÜV
Kraftfahrt GmbH vom 20. Februar 2006, sondern haben nebenbei bemerkt auch schon
die zuvor erstatteten Gutachten bzw. ergänzenden gutachtlichen Stellungnahmen vom
Dezember 2003, März 2004 sowie - insoweit allerdings erst im Rahmen des vorliegenden
Verfahrens vorgelegt - vom September 2005 entsprochen.
Der Gutachter hat aus der festgestellten hohen Blutalkoholkonzentration von 2,05 ‰
und den Angaben des Antragstellers zu seinen früheren Trinkgewohnheiten schlüssig
hergeleitet, dass dieser in der Zeit bis zu dem in Rede stehenden Vorfall eine
chronische, von gelegentlichen „Filmrissen“ begleitete Alkoholproblematik entwickelt
habe, und hat sich deshalb zu Recht mit der Frage befasst, ob - entgegen der
Regelerwartung - die aus der Exploration gewonnenen Anhaltspunkte für eine positive
Verkehrsprognose als überwiegend angesehen werden könnten. Dabei hat er dem
Antragsteller zwar bescheinigt, dass er sich im Gegensatz zu den Vorbegutachtungen
offener und kooperativer gezeigt habe, und hat deshalb keine Veranlassung gesehen,
die Glaubhaftigkeit seiner Angaben generell in Zweifel zu ziehen. Gleichwohl hat der
Gutachter aus diesen Angaben die für die Eignungsbeurteilung negative Erkenntnis
gewonnen, dass der Antragsteller seinen Alkoholkonsum trotz kritischer Anmerkungen
aus seinem sozialen Umfeld niemals selbst als problematisch erlebt oder als
überdurchschnittlich empfunden habe. Insbesondere habe er weder ein
nachvollziehbares Trinkmotiv angeben können - der Hinweis auf gesellige Anlässe sei
angesichts der erreichten hohen Trinkfestigkeit nicht schlüssig - noch lasse sich die für
eine Veränderung des Trinkverhaltens genannte Motivation in einen stimmigen
Zusammenhang mit den Ursachen und Hintergründen des früheren problematischen
Umgangs mit Alkohol bringen. Die negative Eignungsprognose des Gutachters ist vor
dem dargestellten Hintergrund nicht zu beanstanden. Das gilt übrigens auch, soweit er
im Hinblick auf die chronische Alkoholproblematik des Antragstellers eine Änderung des
Trinkverhaltens in Gestalt eines stabilen Alkoholverzichts für erforderlich hält (vgl. Kapitel
3.11.1 der Begutachtungs-Leitlinien), den dieser, wie seinen Äußerungen im
Erörterungstermin vor der Kammer vom 22. Juni 2006 zu entnehmen ist, allerdings
weiterhin nicht übt.
Der Entzug der Fahrerlaubnis erweist sich mithin aller Voraussicht nach als rechtmäßig.
Aber auch unabhängig von den Erfolgsaussichten der Klage müsste die Abwägung der
widerstreitenden Interessen zu Lasten des Antragstellers ausgehen, weil die
alkoholbedingten Zweifel an seiner Fahreignung nicht ausgeräumt sind. Denn die
Vermeidung von Gefahren, die durch die Teilnahme von ungeeigneten Personen am
motorisierten Straßenverkehr entstehen, ist ein vorrangiges öffentliches Anliegen, hinter
dem die privaten Interesse eines Betroffenen in aller Regel - und so auch hier -
zurückzustehen haben.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht
auf § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 3 Nr. 2, § 52 Abs. 1 und 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66
Abs. 3 Satz 3 GKG).
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