Urteil des OVG Berlin-Brandenburg vom 07.08.2008

OVG Berlin-Brandenburg: aufschiebende wirkung, gemeinde, grundstück, leistungsurteil, aufrechnung, beitragspflicht, aufwand, ermessen, vollstreckungsverfahren, ausnahme

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Gericht:
Oberverwaltungsgericht
Berlin-Brandenburg 9.
Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
OVG 9 S 1.09
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 133 Abs 3 S 1 BauGB, § 38
InsO
Vorausleistung auf den Erschließungsbeitrag als
Insolvenzforderung
Leitsatz
Rosenkranz, Rüdersdorf, Herzfelde
Tenor
Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Frankfurt (Oder) vom 7. August 2008 wird mit
Ausnahme der Streitwertfestsetzung geändert. Der Antrag auf Anordnung der
aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen die Bescheide vom 24. August 2006
wird abgelehnt.
Die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge trägt der Antragsteller.
Der Wert des Beschwerdegegenstandes wird auf 362.443,22 Euro festgesetzt.
Gründe
I.
Der Antragsteller ist Insolvenzverwalter eines Erschließungsträgers, der im Jahre 1994 in
einem mit der Gemeinde Herzfelde (Rechtsvorgängerin der Gemeinde Rüdersdorf)
geschlossenen Erschließungs- und Finanzierungsvertrag mit der Erschließung eines
Industrie- und Gewerbegebietes in Herzfelde beauftragt worden war. Der
Erschließungsträger ist Eigentümer von Grundstücken im Erschließungsgebiet; u.a. für
diese Grundstücke regelte der Vertrag auch die „Ablösung“ der Erschließungsbeiträge.
Im Oktober 1995 erließ die Amtsdirektorin des Amtes Rüdersdorf verschiedene
Vorausleistungsbescheide gegen den Erschließungsträger sowie „Fremdanlieger“ im
Erschließungsgebiet. Die Abnahme der vereinbarungsgemäß erbrachten
Erschließungsleistungen erfolgte Ende 1996. Über die Abrechnung kam es zum Streit.
Auf die Klage des Erschließungsträgers hin hat das Verwaltungsgericht Frankfurt (Oder)
im September 2002 die Nichtigkeit des Erschließungs- und Finanzierungsvertrages
wegen Verstoßes gegen das sog. Koppelungsverbot festgestellt und die Gemeinde zur
Zahlung von rund 3,18 Millionen DM (umgerechnet rund 1,6 Millionen Euro) zuzüglich
Prozesszinsen verurteilt, und zwar als Erstattung für die vom Erschließungsträger
erbrachten Erschließungsleistungen. Das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg
hat die Berufung der Gemeinde im Dezember 2006 zurückgewiesen (Urteil vom 13.
Dezember 2006 – OVG 10 B 13.05). Die dagegen erhobene Nichtzulassungsbeschwerde
blieb vor dem Bundesverwaltungsgericht ebenfalls ohne Erfolg (Beschluss vom 16.
November 2007 – BVerwG 9 B 36. 07).
Noch während des laufenden Verwaltungsrechtsstreits wurde über das Vermögen des
Erschließungsträgers durch Beschluss des Amtsgerichts Hamburg vom 4. Mai 2006 das
Insolvenzverfahren eröffnet und der Antragsteller als Insolvenzverwalter eingesetzt.
Mit elf Vorausleistungsbescheiden vom 24. August 2006 setzte der Antragsgegner
gegenüber dem Antragsteller Vorausleistungen für die Herstellung von
Erschließungsanlagen in Höhe von insgesamt 1.449.772,90 Euro fest und forderte die
Zahlung des Betrages bis zum 30. September 2006. Über den dagegen eingelegten
Widerspruch ist noch nicht entschieden.
Mit Schreiben vom 10. Januar 2008 forderte der Antragsgegner den Antragsteller zur
Zahlung von nunmehr 1.696.797,19 € auf (Festsetzungsbeträge, Säumniszuschläge und
Mahnkosten). Unter dem 31. Januar 2008 erklärte der Antragsgegner gemäß § 226 Abs.
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Mahnkosten). Unter dem 31. Januar 2008 erklärte der Antragsgegner gemäß § 226 Abs.
1 AO die Aufrechnung dieser Gesamtsumme mit dem verbliebenen Zahlungsanspruch
des Antragstellers aus dem rechtskräftig gewordenen Leistungsurteil des
Verwaltungsgerichts Frankfurt (Oder) vom September 2002. Am 13. Februar 2008 erhielt
das Amtsgericht Hamburg die Anzeige des Antragstellers, dass Masseunzulänglichkeit
vorliege. Mit Schriftsatz vom selben Tag beantragte der Antragsteller bei dem
Verwaltungsgericht, die Vollziehung der Vorausleistungsbescheide im Wege vorläufigen
Rechtsschutzes auszusetzen. In diesem Zeitraum betrieb er zugleich ein
Vollstreckungsverfahren nach § 170 Abs. 1 VwGO gegen den Antragsgegner aus dem
rechtskräftig gewordenen Leistungsurteil. Der Antragsgegner ist dem
Vollstreckungsbegehren ohne Erfolg u.a. mit dem Argument entgegengetreten,
inzwischen die Aufrechnung mit der Zahlungsforderung erklärt zu haben. Seine
Beschwerde gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Frankfurt (Oder) vom 29.
Februar 2008 (7 M 13.08) hat das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg durch
Beschluss vom 18. Juni 2008 (OVG 10 L 31.08) mit der Begründung zurückgewiesen, bei
der Aufrechnung handele es sich um eine materiellrechtliche Einwendung, die im
Vollstreckungsverfahren grundsätzlich nicht zu prüfen sei.
Durch Beschluss vom 7. August 2008 hat das Verwaltungsgericht Frankfurt (Oder) die
aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen die
Vorausleistungsbescheide angeordnet und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt:
Ob es sich bei den Vorausleistungsforderungen um Masseforderungen oder lediglich
einfache Insolvenzforderungen handele, sei nicht derart offensichtlich, dass bereits die
Zulässigkeit des Antrags entfalle. Ebenso wenig führe die Aufrechnungserklärung zum
Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses. In der Sache unterliege die Rechtmäßigkeit der
angegriffenen Bescheide ernstlichen Zweifeln. Bei summarischer Prüfung handele es
sich voraussichtlich um einfache Insolvenzforderungen, denn der Antragsgegner habe
„jedenfalls seit Mitte der 1990er Jahre“ jederzeit Vorausleistungen auf die künftigen
Erschließungsbeiträge erheben können. Nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens
könnten diese Forderungen nicht mehr durch Bescheide geltend gemacht werden.
Hiergegen richtet sich die Beschwerde des Antragsgegners, mit der er u.a. geltend
macht, dass es sich bei den Vorausleistungsforderungen nicht um einfache
Insolvenzforderungen, sondern um Masseverbindlichkeiten handele, die zutreffend
gegenüber dem Antragsteller festgesetzt worden seien.
II.
Die zulässige Beschwerde ist begründet. Mit Blick auf die von dem Antragsgegner
gemäß § 146 Abs. 4 VwGO fristgerecht dargelegten Beschwerdegründe, auf deren
Prüfung der Senat beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), ist der angefochtene
Beschluss mit Ausnahme der Streitwertfestsetzung abzuändern und der Antrag auf
Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs abzulehnen.
Es kann offen bleiben, ob dem Antragsteller das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis für
seinen Antrag fehlt und dieser deshalb als unzulässig zu verwerfen wäre. Denn jedenfalls
ist der Antrag unbegründet. Die aufschiebende Wirkung von Widerspruch oder Klage
gegen einen Abgabenbescheid ist nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1, § 80 Abs. 5 und § 80
Abs. 4 Satz 3 VwGO - vorbehaltlich des Vorliegens eines Härtefalls – nämlich nur
anzuordnen, wenn an der Rechtmäßigkeit des Bescheids ernstliche Zweifel bestehen,
d.h. der Bescheid bei summarischer Prüfung mit überwiegender Wahrscheinlichkeit
rechtswidrig ist. Das ist hier nicht der Fall.
1. Es ist entgegen der erstinstanzlichen Entscheidung zumindest offen, ob es sich bei
den geltend gemachten Vorausleistungen um einfache Insolvenzforderungen gemäß §
38 InsO oder um Masseforderungen handelt.
Dem Verwaltungsgericht ist im Ausgangspunkt darin zuzustimmen, dass für die
Abgrenzung, ob eine Forderung bereits vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens im Sinne
des § 38 InsO begründet war, danach zu treffen ist, ob das Schuldverhältnis schon vor
Verfahrenseröffnung bestand bzw. der Schuldrechtsorganismus, der die Grundlage der
Forderung bildet, bereits vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens geschaffen war. Hierfür
muss die Forderung nach überwiegender Auffassung nicht schon vollwirksam entstanden
und durchsetzbar gewesen sein. Es genügt vielmehr, wenn von ihrem
Entstehungstatbestand zum maßgeblichen Zeitpunkt bereits so viele Merkmale
verwirklicht waren, dass der Gläubiger eine gesicherte haftungsrechtliche Anwartschaft
am Vermögen des Schuldners erlangt hatte. Demgegenüber ist eine Forderung als
Masseverbindlichkeit im Sinne des § 55 InsO einzustufen, wenn sich ihre Begründung
erst nach Verfahrenseröffnung vollzogen hat. Von diesem rechtlichen Ansatz gehen im
Grunde auch die Verfahrensbeteiligten übereinstimmend aus.
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Nach Ansicht des Verwaltungsgerichts ist eine Vorausleistungsforderung im Sinne des §
38 InsO begründet, sobald die Voraussetzungen vorliegen, unter denen eine Gemeinde
Vorausleistungen erheben kann . Ob diese Auffassung zutrifft, ist indessen offen. Denn
es ist gleichermaßen denkbar, dass Vorausleistungsforderungen erst dann im Sinne des
§ 38 InsO begründet sind, wenn entsprechende Vorausleistungsbescheide ergangen
sind.
Rechtsgrundlage für die Erhebung von Vorausleistungen ist § 133 Abs. 3 Satz 1 BauGB.
Nach dieser Bestimmung können für ein Grundstück, für das eine Beitragspflicht noch
nicht oder nicht in vollem Umfang entstanden ist, Vorausleistungen auf den
Erschließungsbeitrag bis zur Höhe des voraussichtlichen endgültigen
Erschließungsbeitrags verlangt werden, wenn ein Bauvorhaben auf dem Grundstück
genehmigt wird oder wenn mit der Herstellung der Erschließungsanlagen begonnen
worden ist und die endgültige Herstellung der Erschließungsanlage innerhalb von vier
Jahren zu erwarten ist.
Die Erhebung von Vorausleistungen steht danach im Ermessen des Gläubigers. Der
Zeitpunkt, ab dem ein entsprechendes Ermessen eröffnet ist, markiert aber nicht den
Zeitpunkt, ab dem eine sachliche oder gar persönliche Vorausleistungspflicht
entstanden ist. Vielmehr wird die Vorausleistungspflicht als zeitlich vorgezogene
Erschließungsbeitragsleistung mangels gesetzlicher Entstehung erst mit dem Erlass des
Vorausleistungsbescheides begründet und ruht auch erst ab diesem Zeitpunkt als
öffentliche Last auf dem Grundstück (vgl. BVerwG, Urt. v. 31. Januar 1968 – IV C 29.67 –
juris; Driehaus, Erschließungs- und Ausbaubeiträge, 8. A. § 21 Rz. 32 m.w. N.) Hieran ist
auch für das Begründetsein im Sinne des § 38 InsO anzuknüpfen (vgl. Hasl-Kleiber,
KommunalPraxis BY, 2005, 328 ff, 372 ff. <373>). Die Anknüpfung an diese Kriterien ist
sachgerecht, denn das Entstehen der sachlichen Beitragspflicht und das Ruhen des
Beitrags als öffentliche Last auf dem Grundstück wird auch bei endgültigen
Erschließungsbeiträgen als „untere“ Grenze angesehen, ab der die
Erschließungsbeitragsforderung im Sinne des § 38 InsO frühestens begründet wird (vgl.
Vehslage, NVwZ 2003, 776 ff. <777> m.w.N.; andere verlangen sogar das Entstehen
der persönlichen Beitragspflicht, etwa Roßmann, LKV 2008, 213 ff. m.w.N.).
Vor diesem Hintergrund spricht entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts alles
dafür, dass eine Vorausleistungsforderung nicht bereits dann im Sinne des § 38 InsO
begründet gewesen ist, wenn die Gemeinde die Vorausleistung erheben kann, sondern
erst dann, wenn die Gemeinde die Vorausleistung durch einen Vorausleistungsbescheid
anfordert. Da die angegriffenen Bescheide erst nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens
am 4. Mai 2006 erlassen worden sind, sind die Vorausleistungen hier bei überschlägiger
Prüfung eher als Masseforderungen denn als Insolvenzforderungen zu qualifizieren.
2. Ob die Vorausleistungsbescheide mit Blick auf die im Jahre 1995 gegenüber dem
Erschließungsträger ergangenen Vorausleistungsbescheide unter dem Gesichtspunkt
der „Doppelerhebung“ als (teil)rechtswidrig zu beurteilen sind, ist eine schwierige Frage,
deren Beantwortung dem Hauptsacheverfahren nach entsprechender Sachaufklärung
vorbehalten bleiben muss. Der Antragsgegner hat vorgetragen, dass diese Bescheide
nach Widerspruchseinlegung aufgehoben worden seien; der Antragsteller hat dies zwar
nicht bestätigen können, sich aber auch nicht substantiiert darauf berufen, dass die
Vorausleistungsbescheide von 1995 den hier angegriffenen Vorausleistungsbescheiden
entgegenstehen. Zudem erscheint nicht ausgeschlossen, dass beide Seiten den
Bescheiden aus dem Jahre 1995 nur Informationscharakter über die vorläufige Höhe der
Ablösebeträge beigemessen haben (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 13.
Dezember 2006 – OVG 10 B 13.05 -, UA S. 8, 15).
3. Dass die angefochtenen Vorausleistungsbescheide aus sonstigen Gründen mit
überwiegender Wahrscheinlichkeit rechtswidrig sind, ist ebenfalls nicht ersichtlich.
Insbesondere bestehen keine ernstlichen Zweifel hinsichtlich der Höhe der geforderten
Vorausleistung. Soweit der Antragsteller meint, der Antragsgegner müsse die bei ihm
anfallenden Erschließungskosten in besonderer Weise plausibel machen, soweit diese
Kosten den im Leistungsurteil vom September 2002 ausgeworfenen Betrag und
bestimmte weitere Beträge übersteigen, ist darauf hinzuweisen, dass der Antragsgegner
mit Schriftsatz vom 23. Dezember 2008 eine Berechnung des Erschließungsaufwandes
und des daraus resultierenden beitragsfähigen Aufwandes vorgelegt hat, die die Höhe
der geforderten Vorausleistungen nach summarischer Prüfung als plausibel erscheinen
lässt. In diese Berechnung dürften die Fördermittelabzüge bereits eingeflossen sein.
Soweit die Verteilung der Kosten auf die einzelnen Straßen den Eindruck erweckt, der
Antragsgegner, habe nicht durchgängig den 10%-igen Gemeindeanteil von den
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Antragsgegner, habe nicht durchgängig den 10%-igen Gemeindeanteil von den
Erschließungskosten abgezogen, führt auch dies nicht zu ernstlichen Zweifeln an der
Rechtmäßigkeit der Vorausleistungsbescheide. Zwar enthalten die der Erläuterung
dienenden Anlagen zu den Vorausleistungsbescheiden für die Herstellung der
Erschließungsanlagen Ebereschen-, Eichen-, Kirschen- und Ulmenstraße jeweils insoweit
einen Fehler, als die Höhe des angegebenen beitragsfähigen Aufwandes trotz des
abzuziehenden 10%-igen Gemeindeanteils der Höhe des umlagefähigen Aufwandes zu
entsprechen scheint. Jedoch führt dies entgegen der Auffassung des Antragstellers nicht
zur Teilrechtswidrigkeit der Bescheide, denn der Schreibfehler bezieht sich offenkundig
auf den beitragsfähigen Aufwand, der bereits um 10% gemindert angegeben worden ist
und deshalb dem rechnerisch zutreffend ermittelten und hier entscheidungserheblichen
umlagefähigen Aufwand entspricht.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht
auf § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66
Abs. 3 Satz 3 GKG).
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