Urteil des OVG Berlin-Brandenburg vom 28.07.2010

OVG Berlin-Brandenburg: verlängerung der frist, gewöhnlicher aufenthalt, aufschiebende wirkung, staatsangehörigkeit, geburt, wiedereinreise, einbürgerung, sammlung, quelle, integration

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Gericht:
Oberverwaltungsgericht
Berlin-Brandenburg 2.
Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
OVG 2 S 63.10
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 80 Abs 5 S 1 VwGO, § 58 Abs
1 AufenthG, § 59 Abs 1
AufenthG, § 3 Abs 1 Nr 1
RuStAG, § 3 Abs 1 Nr 5 RuStAG
Ausländerrecht: Aussetzung einer Ausweisungsanordnung im
einstweiligen Rechtsschutzverfahren bei Streit um einen
Anspruch auf Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit
Tenor
Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts
Berlin vom 28. Juli 2010 wird zurückgewiesen.
Die Kosten der Beschwerde trägt die Antragsgegner.
Der Wert des Beschwerdegegenstandes wird auf 1250 EUR festgesetzt.
Gründe
Die Beschwerde des Antragsgegners hat keinen Erfolg. Der angefochtene Beschluss, mit
dem das Verwaltungsgericht die aufschiebende Wirkung der gegen den Bescheid des
Antragsgegners vom 9. Juni 2010 erhobenen Klage des Antragstellers zu 2. bezüglich
der Abschiebungsandrohung angeordnet hat, ist im Ergebnis nicht aus den vom
Antragsgegner dargelegten Gründen, auf deren Prüfung das Oberverwaltungsgericht
gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, zu beanstanden.
Nach Auffassung des Verwaltungsgerichts bestehen Bedenken gegen die
Rechtmäßigkeit der auf § 59 Abs. 1, § 58 Abs. 1 und 3 Nr. 2 AufenthG gestützten
Abschiebungsandrohung, weil die Annahme des Antragsgegners, der Antragsteller zu 2.
habe durch seine Geburt in Berlin nicht nach § 4 Abs. 3 Satz 1 StAG die deutsche
Staatsangehörigkeit erlangt und sei deshalb ausreisepflichtig, bei summarischer Prüfung
zweifelhaft erscheine. Mit seiner Beschwerde macht der Antragsgegner geltend, dass
der Vater des Antragstellers zu 2. unabhängig von der - vom Verwaltungsgericht letztlich
offen gelassenen - Frage des Bestehens eines unbefristeten Aufenthaltsrechts gemäß
Art. 7 ARB 1/80 jedenfalls nicht die nach § 4 Abs. 3 Satz 1 StAG erforderliche
Aufenthaltszeit von acht Jahren zum Zeitpunkt der Geburt des Antragstellers zu 2. am
30. November 2009 erfüllt habe, denn er habe sich in der Zeit vom 16. November 2006
bis zum 14. Januar 2008 in den Niederlanden in Haft befunden und sich somit länger als
sechs Monate nicht im Bundesgebiet aufgehalten. Eine längere Frist zur Wiedereinreise
sei weder beantragt noch durch den Antragsgegner bestimmt worden. Mithin sei im
Umkehrschluss der gewöhnliche Aufenthalt des Vaters des Antragstellers zu 2. im Inland
gemäß § 12b Abs. 1 StAG unterbrochen gewesen. Die vom Verwaltungsgericht
herangezogene Regelung in § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I sei im Rahmen der Bewertung der
Frage, ob der gewöhnliche Aufenthalt im Bundesgebiet durch den Haftaufenthalt in den
Niederlanden unterbrochen wurde, in Anbetracht der in Bezug auf die Bewertung der
Unterbrechung des tatsächlichen Aufenthalts im Bundesgebiet eindeutigen
Spezialregelung des § 12b StAG nicht einschlägig.
Mit diesem Vortrag legt der Antragsgegner nicht überzeugend dar, dass die Frage der
Fortdauer des gewöhnlichen Aufenthalts des Vaters des Antragstellers zu 2. während
des haftbedingten Auslandsaufenthalts und damit die Frage des Erwerbs der deutschen
Staatsangehörigkeit des Antragstellers zu 2. nach § 4 Abs. 3 Satz 1 StAG bereits bei
summarischer Prüfung offensichtlich zu verneinen und das Verwaltungsgericht daher zu
Unrecht von der Klärungsbedürftigkeit im Hauptsacheverfahren ausgegangen ist.
Vielmehr ist die entscheidungserhebliche Rechtsfrage auch unter Berücksichtigung des
Beschwerdevorbingens als offen anzusehen. Im Staatsangehörigkeitsgesetz wird nicht
ausdrücklich definiert, was unter dem Begriff „gewöhnlicher Aufenthalt“ zu verstehen ist
(vgl. VGH Mannheim, Urteil vom 7. November 2003 - 13 S 122/03 -, juris Rn. 33;
Renner/Maaßen, in: Hailbronner/Renner/Maaßen, Staatsangehörigkeitsrecht, 5. Aufl.
2010, § 4 StAG Rn. 78). Soweit § 12b Abs. 1 StAG bestimmt, dass der gewöhnliche
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2010, § 4 StAG Rn. 78). Soweit § 12b Abs. 1 StAG bestimmt, dass der gewöhnliche
Aufenthalt im Inland durch Aufenthalte bis zu sechs Monaten im Ausland nicht
unterbrochen wird (Satz 1) und bei längeren Auslandsaufenthalten fortbesteht, wenn der
Ausländer innerhalb der von der Ausländerbehörde bestimmten Frist wieder eingereist
ist (Satz 2), bezieht sich dies - wie sich aus § 3 Abs. 1 Nr. 5 StAG und der
Gesetzessystematik ergibt - zunächst nur auf die Fälle des Erwerbs der
Staatsangehörigkeit durch Einbürgerung nach den §§ 8 bis 16, 40b und 40c StAG, nicht
jedoch auf die Voraussetzungen des gesetzlichen Erwerbs der Staatsangehörigkeit
durch Geburt gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 4 StAG (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.
November 2004 - 1 C 31.03 -, BVerwGE 122, 199, 204, zu § 12b Abs. 3 StAG). Ob die
Regelung des § 12b Abs. 1 Satz 2 StAG im Rahmen des gesetzlichen
Staatsangehörigkeitserwerbs nach § 4 Abs. 3 StAG entsprechend anzuwenden ist mit
der Folge, dass ein mehr als sechsmonatiger Auslandsaufenthalt des maßgeblichen
Elternteils grundsätzlich - ohne weitere Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles -
den rechtmäßigen gewöhnlichen Aufenthalt unterbricht, sofern der Elternteil nicht
rechtzeitig bei der Ausländerbehörde eine Verlängerung der Frist zur Wiedereinreise
beantragt hat und innerhalb der von der Ausländerbehörde bestimmten Frist wieder
nach Deutschland eingereist ist, lässt sich nicht bereits aufgrund einer summarischen
Prüfung entscheiden. Gegen eine entsprechende Anwendung könnte sprechen, dass der
Zweck des Erfordernisses eines achtjährigen rechtmäßigen Aufenthalts in § 4 Abs. 3
Satz 1 Nr. 1 StAG, auf der Grundlage der gelungenen Integration des maßgeblichen
Elternteils die Integrationschancen seines im Inland geborenen Kindes zu verbessern
(vgl. BVerwG, a.a.O., S. 205), nicht bereits dann verfehlt wird, wenn der Elternteil es im
Fall eines Auslandsaufenthalts versäumt hat, rechtzeitig bei der Ausländerbehörde eine
Verlängerung der sechsmonatigen Frist zur Wiedereinreise zu beantragen, sofern im
Übrigen die nach § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I und der hierzu ergangenen Rechtsprechung
maßgeblichen Umstände - wie etwa soziale und familiäre Bindungen im Inland - für einen
Fortbestand des „gewöhnlichen Aufenthalts“ sprechen.
Sind mithin, wie das Verwaltungsgericht zutreffend angenommen hat, die
Erfolgsaussichten des Klageverfahrens offen, bedarf es im Rahmen des § 80 Abs. 5 Satz
1 VwGO einer Abwägung des öffentlichen Vollzugsinteresses mit den
entgegenstehenden privaten Interessen des Antragstellers zu 2. Die hierbei erforderliche
Folgenabwägung geht zu Gunsten des Antragstellers zu 2. aus; denn sein Interesse an
einem Verbleib im Bundesgebiet bis zur Klärung der Frage, ob er durch Geburt die
deutsche Staatsangehörigkeit erworben hat, wiegt schwerer als das öffentliche Interesse
an einer sofortigen Aufenthaltsbeendigung.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht
auf § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 und 2 GKG. Da Gegenstand der
Beschwerde nur noch die sofortige Vollziehbarkeit der in dem angefochtenen Bescheid
des Antragsgegners vom 9. Juni 2010 enthaltenen Abschiebungsandrohung in Bezug auf
den Antragsteller zu 2. ist, hat der Senat ein Viertel des Auffangstreitwerts festgesetzt.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66
Abs. 3 Satz 3 GKG).
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