Urteil des VGH Baden-Württemberg vom 09.03.2015

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VGH Baden-Württemberg Beschluß vom 9.3.2015, 9 S 412/15
Nachteilsausgleich bei Ärztlicher Prüfung
Leitsätze
1. Nachteilsausgleich kann nicht verlangt werden für ein Leiden, das als generelle
Einschränkung der Leistungsfähigkeit das normale und reguläre Leistungsbild des
Prüflings bestimmt.
2. Das Bestehen eines Dauerleidens schließt einen Nachteilsausgleich nicht aus.
3. Der Nachteilsausgleich ist vom Rücktritt von der Prüfung wegen
Prüfungsunfähigkeit zu trennen.
Tenor
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts
Stuttgart vom 2. März 2015 - 12 K 857/15 - geändert. Dem Antragsgegner wird im
Wege der einstweiligen Anordnung aufgegeben, dem Antragsteller beim schriftlichen
Teil des Ersten Abschnitts der Ärztlichen Prüfung am 10.03.2015 und am 11.03.2015
einen Nachteilsausgleich in der Form zu gewähren, dass es dem Antragsteller
ermöglicht wird, die schriftliche Prüfung in einem separaten Raum bei leiser
Hintergrundmusik abzulegen.
Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen tragen der Antragsteller zu 1/4 und
der Antragsgegner zu 3/4.
Der Streitwert des Verfahrens wird unter Änderung der Streitwertfestsetzung des
Verwaltungsgerichts für beide Rechtszüge auf jeweils 5.000,-- EUR festgesetzt.
Gründe
1 Die gemäß § 146 Abs. 1 VwGO statthafte sowie fristgerecht eingelegte (§ 147 Abs.
1 VwGO) und begründete (§ 146 Abs. 4 Satz 1 und 2 VwGO) Beschwerde des
Antragsgegners hat in der Sache wie aus dem Tenor ersichtlich Erfolg.
2 Das Verwaltungsgericht hat dem Antragsgegner im Wege der einstweiligen
Anordnung aufgegeben, dem Antragsteller bei dem schriftlichen Teil des Ersten
Abschnitts der Ärztlichen Prüfung am 10.03.2015 und am 11.03.2015 einen
Nachteilsausgleich in der Form von drei Pausen von jeweils 15 Minuten Dauer
nach dem Ablauf von je 60 Prüfungszeitminuten zu gewähren. Entgegen der
Auffassung des Antragsgegners ist die Gewährung von Nachteilsausgleich im
Grundsatz nicht zu beanstanden; mit Erfolg rügt er indes die vom
Verwaltungsgericht konkret festgesetzte Art und Weise.
3 Für sein Begehren auf Nachteilsausgleich wegen akuter Beeinträchtigungen
aufgrund eines Tinnitus hat der Antragsteller sowohl einen Anordnungsgrund als
auch einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht (§ 123 Abs. 1 Satz 2 und
Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO). Mit Blick auf die Gewährleistung des Art.
19 Abs. 4 GG steht dem § 44a VwGO ebenso wenig entgegen wie das
grundsätzliche Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache (vgl. auch
Senatsbeschluss vom 26.08.1993 - 9 S 2023/93 -, NVwZ 1994, 598).
4 Nach § 10 Abs. 7 Satz 3 ÄApprO in der Fassung vom 27.06.2002 (BGBl. I S. 2405)
mit nachfolgenden Änderungen sind die besonderen Belange behinderter
Prüflinge zur Wahrung ihrer Chancengleichheit bei der Durchführung der
Prüfungen zu berücksichtigen. Der durch Art. 3 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich
verbürgte Grundsatz der Chancengleichheit gebietet, Behinderungen eines
Prüflings, die außerhalb der in der Prüfung zu ermittelnden wissenschaftlichen
Leistungsfähigkeit liegen, in der Prüfung nach Möglichkeit - ggf. auch durch die
Einräumung besonderer Prüfungsbedingungen - auszugleichen (BVerwG, Urteil
vom 30.08.1977 - VII C 50.76 -, Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 85 m.w.N.;
Niehues/Fischer/Jeremias, Prüfungsrecht, 6. Aufl. 2014, Rn. 249).
5 Schriftliche Prüfungen dienen dem Nachweis von Kenntnissen und Fähigkeiten
der Prüflinge. Ihr Ergebnis wird bestimmt von deren geistiger Leistungsfähigkeit.
Der Prüfling steht dabei im Wettbewerb mit anderen Prüflingen. Das
Prüfungsverfahren muss deshalb gewährleisten, dass die geistige
Leistungsfähigkeit der Prüflinge unter gleichen Bedingungen zum Ausdruck
kommen kann. Liegt bei einem Prüfling eine dauerhafte krankheitsbedingte
Einschränkung der geistigen Leistungsfähigkeit vor, so ist dieser Umstand
Bestandteil seines durch die Prüfung zu belegenden Leistungsbildes. Wenn sich
eine persönlichkeitsbedingte generelle Einschränkung der psychischen
Leistungsfähigkeit im Prüfungsergebnis negativ niederschlägt, so wird dadurch
dessen Aussagewert nicht verfälscht, sondern in besonderer Weise bekräftigt
(BVerwG, Beschluss vom 13.12.1985 - 7 B 210.85 -, Buchholz 421.0
Prüfungswesen Nr. 223; Senatsbeschluss vom 02.04.2009 - 9 S 502/09 -, juris;
Niehues/Fischer/Jeremias, a.a.O., Rn. 258). Ist ein Prüfling etwa aus psychischen
Gründen nicht in der Lage, dem Zeitdruck in einer schriftlichen Prüfung
standzuhalten, so ist es mit der Chancengleichheit aller Prüflinge nicht zu
vereinbaren, ihm dafür einen Ausgleich in Form einer Prüfungszeitverlängerung zu
gewähren. Dadurch würde das Leistungsbild des Prüflings zu seinen Gunsten und
zu Lasten der im Wettbewerb stehenden Mitprüflinge verfälscht. Ist hingegen das
Unvermögen, innerhalb der festgesetzten Prüfungszeit oder unter regulären
Prüfungsbedingungen die gestellte Aufgabe zu bewältigen, nicht in der geistigen
Leistungs(un)fähigkeit des Prüflings begründet, sondern hat dies körperliche
Ursachen, so hat der Prüfling grundsätzlich Anspruch auf Ausgleich dieses
Nachteils (Bayr. VGH, Beschluss vom 03.12.1997 - 7 B 95.2853 -, BeckRS 1997,
19384). Insoweit sind regelmäßig Behinderungen der Darstellungsfähigkeit
gegeben, die dem Prüfling lediglich den Nachweis der möglicherweise durchaus
vorhandenen Befähigung erschweren und deren Auswirkungen auch im späteren
Berufsleben ausgeglichen werden können (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom
30.08.1977 und Senatsbeschluss vom 26.08.1993, jeweils a.a.O.). Typische Fälle
hierfür sind etwa Sehbehinderungen, Knochenbrüche oder Lähmungen bzw.
Fehlbildungen von Gliedmaßen. In diesen Fälle gebieten es das Grundrecht der
Berufsfreiheit des Prüflings und der Grundsatz der Chancengleichheit, den
Nachteil der Darstellungsfähigkeit insoweit auszugeichen, dass die
Prüfungsbedingungen des Prüflings denen nicht behinderter Mitprüflinge
entsprechen, er mithin in der Lage ist, seine geistige Leistungsfähigkeit so wie
diese darzulegen (Bayr. VGH, Beschluss vom 03.12.1997, a.a.O.).
6 Dabei ist es für die Frage des Nachteilsausgleichs nicht von entscheidender
Bedeutung, ob es sich um ein Dauerleiden handelt, also um eine erhebliche
Beeinträchtigung des Gesundheitszustands, die die Einschränkung der
Leistungsfähigkeit trotz ärztlicher Hilfe bzw. des Einsatzes medizinisch-technischer
Hilfsmittel nicht nur vorübergehend, sondern dauerhaft bedingt. Der
Nachteilsausgleich ist vom Rücktritt von der Prüfung wegen Prüfungsunfähigkeit
zu trennen. Im Zusammenhang mit dem Rücktritt von der Prüfung kann
grundsätzlich nur die zeitweise Beeinträchtigung des physischen und psychischen
Zustands eines Prüflings und nicht etwa ein Dauerleiden zur Anerkennung einer
Prüfungsunfähigkeit im Rechtssinne führen (BVerwG, Beschluss vom 03.07.1995 -
6 B 34.95 -, Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 352). Demgegenüber sind auch
wesentliche dauerhafte Behinderungen des Prüflings, die auf gesundheitlichen
Störungen oder körperlichen Gebrechen beruhen, in der Prüfung nach Möglichkeit
auszugleichen (Niehues/Fischer/Jeremias, a.a.O. Rn. 249). Dies erhellt auch der
Umstand, dass es allgemein anerkannt ist, dass etwa Schreibzeitverlängerungen
angemessenen Umfangs auch bei dauerhaften schweren körperlichen
Behinderungen zu gewähren sind (vgl. dazu Hessischer VGH, Beschluss vom
03.01.2006 - 8 TG 3292/05 -, juris m.w.N.).
7 Entscheidend ist dabei, ob das (Dauer-)leiden als generelle Einschränkung der
Leistungsfähigkeit das normale und reguläre Leistungsbild des Prüflings bestimmt.
Der prüfungsrechtliche Grundsatz der Chancengleichheit gebietet und rechtfertigt
die Rücksichtnahme auf persönliche Belastungen des Prüflings nicht, wenn der
Prüfling (auch) erweisen soll, dass er mit solchen Schwierigkeiten fertig wird und
mithin die Grundvoraussetzungen der durch die Prüfung zu ermittelnden Eignung
für einen bestimmten Beruf besitzt (Niehues/Fischer/Jeremias, a.a.O. Rn. 258).
Dementsprechend gehören Prüfungsstress und Examensängste, die zumeist in
den spezifischen Belastungen der Prüfungen wurzeln und denen jeder Kandidat je
nach Konstitution mehr oder weniger ausgesetzt ist, im Allgemeinen zum
Risikobereich des Prüflings (OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 05.06.2003 - 14
A 624/01 -, juris). Handelt es sich dagegen um - auch temporäre - Behinderungen,
die nicht die aktuell geprüften Befähigungen betreffen, sondern nur den Nachweis
der vorhandenen Befähigung erschweren und die durch Hilfsmittel ausgeglichen
werden können, ist dies in der Prüfung in Form eines Nachteilsausgleichs
angemessen zu berücksichtigen. Dabei sind die maßgeblichen Feststellungen
nicht nach allgemeinen Krankheitsbildern, sondern stets individuell zu treffen und
auf dieser Grundlage zu bewerten (Niehues/Fischer/Jeremias, a.a.O. Rn. 259).
8 Ausgehend von diesen Grundsätzen ist hier nicht in jeder Hinsicht zweifelsfrei, ob
bei dem Antragsteller derzeit eine körperliche Beeinträchtigung vorliegt, die einen
Nachteilsausgleich rechtfertigt. In der von ihm vorgelegten ärztlichen
Bescheinigung vom 19.01.2015 werden ein psychosomatischer
Symptomenkomplex, Innenohrschwerhörigkeit beidseitig und ein Tinnitus
diagnostiziert. Der Antragsteller sei in neurologischer Behandlung (Antidepressiva),
darunter sei der Tinnitus zurzeit ausreichend kompensiert. Ungeachtet dessen hat
das Gesundheitsamt der Stadt D. in der Stellungnahme vom 25.02.2015 eine
erhebliche Beeinträchtigung des Antragstellers durch Ohrgeräusche festgestellt
und ausgeführt, dass die Ohrgeräusche in der Stille der Prüfungssituation störten
und insbesondere die Konzentration und Leistungsfähigkeit beeinträchtigten.
Diese amtsärztlichen Feststellungen sind mit der Beschwerde nicht erschüttert
worden, die auch nicht ergibt, dass die Ohrgeräusche als dem normalen
Leistungsbild des Antragstellers zugehörig unberücksichtigt zu lassen wären. Von
Konzentrationsstörungen, die auf mit der Prüfungssituation typischerweise
verbundenen Anspannungen und Belastungen beruhen und die grundsätzlich
hinzunehmen sind (vgl. dazu Niehurs/Fischer/Jeremias, a.a.O. Rn. 256 m.w.N.),
kann nicht die Rede sein. Der Senat geht im vorliegenden Verfahren des
vorläufigen Rechtsschutzes auf der Grundlage der amtsärztlichen Feststellungen
vielmehr davon aus, dass bei dem Antragsteller, der seit geraumer Zeit an einer
Innenohrschwerhörigkeit leidet, seit Sommer 2014 ein Tinnitus besteht und noch
keine hinreichende Gewöhnung eingetreten ist. Mit Blick darauf liegt bei ihm derzeit
eine körperliche Beeinträchtigung vor, die ihm den Nachweis seiner Befähigung
erschwert. Ob bzw. inwieweit die Ohrgeräusche daneben möglicherweise auch auf
in der Psyche des Antragstellers liegenden Ursachen beruhen, kann hier offen
bleiben. Dem Antragsteller kann auch nicht mit Erfolg entgegengehalten werden,
dass es sich hierbei um ein Dauerleiden handele. Ungeachtet des Umstands, dass
es, wie dargelegt, nicht zulässig ist, einen Nachteilsausgleich allein wegen der
Dauerhaftigkeit des Leidens zu versagen, bestehen auch keine hinreichenden
Anhaltspunkte dafür, dass der Antragsteller durch den Tinnitus auf Dauer in
Prüfungssituationen beeinträchtigt sein könnte. Das Verwaltungsgericht hat in nicht
zu beanstandender Weise darauf hingewiesen, dass der Antragsteller durch eine
ein- bis zweijährige Therapie lernen kann, den Tinnitus zu ignorieren. Danach
bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass die akut bei dem Antragsteller
vorliegenden Beeinträchtigungen ein auf unabsehbare Zeit andauerndes und nicht
oder nur ungenügend therapiefähiges Leiden darstellten. Nach alledem hat der
Antragsteller einen Anspruch auf Ausgleich des derzeit bestehenden Nachteils.
9 Mit Erfolg wendet sich der Antragsgegner indes gegen die vom Verwaltungsgericht
zuerkannte Art des Nachteilsausgleichs. Dieser darf nicht zu einer
Überkompensation führen, die ihrerseits wieder einen Verstoß gegen die
Chancengleichheit bedingen würde. Eine Überkompensation aber läge vor, wenn
dem Antragsteller zum Ausgleich der bestehenden Beeinträchtigung drei Pausen
von jeweils 15 Minuten Dauer gewährt würden. Eine derartige Verlängerung der
Bearbeitungszeit würde ihm einen Vorteil gegenüber den Mitprüflingen
verschaffen. Sie ist auch nicht erforderlich, da eine ausreichende Kompensation
nach der amtsärztlichen Stellungnahme vom 25.02.2015 auch dadurch erfolgen
kann, dass dem Antragsteller ermöglicht wird, die Prüfung in einem separaten
Raum mit leiser Hintergrundmusik zu absolvieren. Diese
Kompensationsmöglichkeit ist vor dem Hintergrund der prüfungsrechtlichen
Situation und des Beschwerdebilds des Antragstellers angemessen, ohne dass zu
befürchten steht, dass dadurch eine Verfälschung des durch die Prüfung zu
belegenden Leistungsbildes eintreten würde. Die Amtsärztin führt aus, dass in der
Atmosphäre eines separaten Raums mit Hintergrundmusik eine stetige Ablenkung
vom Ohrgeräusch gegeben und eine Schreibzeitverlängerung nicht erforderlich
wäre. Der Antragsteller hat erstinstanzlich eingeräumt, dass die Frage, welche
konkrete Lautstärke und ob eine bestimmte Art von Hintergrundmusik erforderlich
sei, durch eine vorherige Probe der Prüfungssituation vor Ort geklärt werden
könne. Der Senat teilt diese Auffassung zumal mit Blick darauf, dass der
Antragsgegner dem Antragsteller die Möglichkeit eröffnet, die Hintergrundmusik
selbst zu bestimmen.
10 Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
11 Die Streitwertfestsetzung und -änderung beruht auf § 63 Abs. 3, § 47 Abs. 1, § 53
Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 2 GKG. Unter Berücksichtigung des Umstands, dass die
Hauptsache weitgehend vorweggenommen wird, ist der Ansatz des vollen
Auffangstreitwerts angemessen (vgl. Nr. 1.5 der Empfehlungen des
Streitwertkatalogs 2013, VBlBW 2014, Sonderbeilage zu Heft 1).
12 Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO sowie § 68 Abs. 1 Satz 5
i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG hinsichtlich der Streitwertfestsetzung).