Urteil des VGH Baden-Württemberg vom 27.04.2015

aufschiebende wirkung, bebauungsplan, gemeinderat, satzung

VGH Baden-Württemberg Urteil vom 27.4.2015, 8 S 2515/13
Festsetzung eines Mischgebiets bei gleichzeitiger Erteilung des Einvernehmens
zur Erteilung von Baugenehmigungen für die Errichtung nur von Wohnhäusern
auf allen Baugrundstücken im Mischgebiet
Leitsätze
Die Festsetzung eines Mischgebiets (§ 6 BauNVO) in einem Bebauungsplan verstößt
gegen § 1 Abs. 3 Satz 1 BauGB, wenn die Gemeinde ihr insoweit verfolgtes
städtebauliches Konzept bereits während der Planaufstellung dadurch aufgibt, dass
sie ihr Einvernehmen zur Erteilung von Baugenehmigungen für die Errichtung nur von
Wohnhäusern auf allen Baugrundstücken im Mischgebiet erteilt.
Tenor
Der Bebauungsplan "Obsteig, 1. Änderung“ der Gemeinde Dornstadt vom 25. Oktober
2012 wird für unwirksam erklärt.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
1 Die Antragsteller wenden sich gegen eine Änderung des Bebauungsplans
"Obsteig" vom 05.02.1987.
2 Der Bebauungsplan "Obsteig" vom 05.02.1987 setzt im Ortsteil Bollingen der
Antragsgegnerin auf Flächen westlich der Fasanenstraße ein eingeschränktes
Gewerbegebiet und ein Mischgebiet sowie Verkehrsflächen fest, insbesondere für
den am Südrand des Plangebiets von der Fasanenstraße abzweigenden 5 m
breiten Spatzenweg. Mit Satzung vom 01.10.1992 wurden für Flächen im
Nordwesten des Plangebiets die Art der baulichen Nutzung in ein allgemeines
Wohngebiet geändert und ein Zufahrtsverbot aufgehoben.
3 Die Antragsteller sind Eigentümer der im Mischgebiet des Bebauungsplans
"Obsteig" vom 05.02.1987 gelegenen und mit gewerblichen Betriebsgebäuden
bebauten Grundstücke Flst. Nr. 186/2 und 186/4. Beide Grundstücke werden über
ein südlich angrenzendes Wegegrundstück Flst. Nr. 185/3 der Antragsteller, das
zum Spatzenweg führt, erschlossen.
4 Der von den Antragstellern angegriffene Bebauungsplan "Obsteig, 1. Änderung"
vom 25.10.2012 ändert die Festsetzungen für die östlich der Grundstücke der
Antragsteller gelegenen Flächen des Gewerbegebiets (Flst. Nr. 185/1, 185/4) und
für den Spatzenweg. Er setzt anstelle des Gewerbegebiets ein Mischgebiet unter
Ausschluss verschiedener Nutzungsarten und für den Spatzenweg eine 5 m breite
Verkehrsfläche mit der Zweckbestimmung "verkehrsberuhigter Bereich" fest:
5 Der Gemeinderat der Antragsgegnerin fasste den Aufstellungsbeschluss für die
Planänderung im beschleunigten Verfahren am 27.10.2011. Der Beschluss wurde
am 04.11.2011 öffentlich bekannt gemacht. Während der öffentlichen Auslegung
eines ersten Planentwurfs, der den Spatzenweg noch nicht einbezog, rügten die
Antragsteller, Wohnnutzung anstelle gewerblicher Nutzung führe wegen zu
geringer Breite des Spatzenwegs zu Konflikten mit gewerblichem Anliegerverkehr
aus dem Mischgebiet, insbesondere von ihren Grundstücken. Am 15.02.2012
beschloss der Gemeinderat, den Spatzenweg in die Planänderung einzubeziehen.
Während der öffentlichen Auslegung des zweiten Planentwurfs wiederholten und
vertieften die Antragsteller ihre Einwendungen. Am 25.10.2012 beschloss der
Gemeinderat den Bebauungsplan "Obsteig 1. Änderung" nebst örtlichen
Bauvorschriften als Satzung. In der zugleich beschlossenen Begründung zum
Bebauungsplan wird zu "Anlass und Ziel der Planung, Planerfordernis" u.a.
dargelegt (Nr. 2):
6
"Das Flurstück Nr. 185/1 Gemarkung Bollingen ist mit einer gewerblichen
Produktionshalle (ehemaliges U. Backhaus) bebaut und steht bereits seit einigen
Jahren leer. Die Umnutzung des ungenutzten Grundstücks soll als gemischte
Bebauung mit Wohn-und Gewerbegebäuden erfolgen. ... Zur Arrondierung des
teilweise gewerblichen Standortes sollen innerhalb der Mischgebietsfläche neben
Wohngebäuden auch nicht störende Gewerbebetriebe sowie Geschäfts-und
Bürogebäude zulässig sein. Die vorgesehene Entwicklung mit einer gemischten
Wohn-und Gewerbebebauung ist aufgrund der Festsetzungen im rechtsgültigen
Bebauungsplan "Obsteig" nicht zulässig. Daher ist eine Bebauungsplanänderung
zur Ermöglichung der beabsichtigten städtebaulichen Entwicklung erforderlich..."
7 Der Satzungsbeschluss wurde in den "Dornstadter Nachrichten" vom 07.12.2012
öffentlich bekannt gemacht.
8 Bereits am 30./31.07.2012 hatte das Landratsamt Alb-Donaukreis
Baugenehmigungen zur Errichtung von acht Wohnhäusern - zwei Doppelhäuser
und vier Reihenhäuser - auf allen Baugrundstücken im Gebiet der Planänderung
nach § 33 BauGB erteilt. Die Antragsgegnerin hatte ihr Einvernehmen zu diesem
Vorhaben erteilt (Beschluss des Ausschusses für Bau, Umwelt und Technik des
Gemeinderats vom 29.03.2012):
9 Der Eigentümer einer landwirtschaftlichen Hofstelle südlich des Plangebiets erhob
gegen die Baugenehmigungen Widersprüche. Auf seinen Antrag ordnete das
Verwaltungsgericht Sigmaringen Ende September 2013 die aufschiebende
Wirkung der Widersprüche u.a. mit der Begründung an, die Baugenehmigungen
könnten das Gebot der Rücksichtnahme verletzen, weil das Mischgebiet "kippe".
Das Landratsamt legte Beschwerde ein, hob auf Anträge des Bauherrn zwei
Baugenehmigungen auf und änderte eine dritte Baugenehmigung. Mit Beschluss
vom 23.06.2014 - 8 S 2208/13 - stellte der erkennende Senat das
Beschwerdeverfahren teilweise ein, änderte den Beschluss des
Verwaltungsgerichts im Übrigen und lehnte den Antrag auf Gewährung vorläufigen
Rechtsschutzes insoweit ab.
10 Mit Schriftsatz an die Antragsgegnerin vom 02.12.2013, eingegangen am
04.12.2013, machten die Antragsteller Abwägungsmängel beim Erlass des
Bebauungsplans "Obsteig, 1. Änderung" geltend und rügten, die Festsetzung des
Mischgebiets sei ein Etikettenschwindel, da die Antragsgegnerin ihr Einvernehmen
zu Baugenehmigungen nur für Wohnhäuser erteilt habe.
11 Am 05.12.2013 haben die Antragsteller Normenkontrollanträge gestellt, zu deren
Begründung sie ihre Einwendungen wiederholen und vertiefen. Sie seien
antragsbefugt, da die Festsetzung des Spatzenweges als "Spielstraße" den
Verkehr von und zu ihren gewerblich genutzten Grundstücken erheblich
beeinträchtige und die Vermietbarkeit ihrer Anwesen erschwere. Dies verletze ihre
Rechte aus Art. 14 Abs. 1 GG. Die durch die Einbeziehung des Spatzenweges und
dessen Festsetzung als "Spielstraße" verschärften Konflikte seien planerisch
ungelöst. In der mündlichen Verhandlung hat der Antragsteller zu 1 angegeben, er
sei Alleineigentümer des Flst. Nr. 186/4 (Spatzenweg …), die Antragstellerin zu 2
sei Alleineigentümerin des Flst. Nr. 186/2 (Spatzenweg …) und das Flst. Nr. 185/3
gehöre beiden Antragstellern gemeinsam.
12 Die Antragsteller beantragen,
13 den Bebauungsplan "Obsteig, 1. Änderung" der Antragsgegnerin vom 25.10.2012
für unwirksam zu erklären.
14 Die Antragsgegnerin beantragt,
15 die Anträge abzuweisen.
16 Sie verweist auf die Behandlung der Einwendungen in einem vom Gemeinderat
beschlossenen Abwägungsvorschlag, auf die Planbegründung und den
Senatsbeschluss vom 23.06.2014 - 8 S 2208/13 -. Der Gemeinderat habe sich mit
dem Verkehrsaufkommen auf dem Spatzenweg hinreichend auseinandergesetzt.
Die Antragsgegnerin hat zu Fragen des Straßenbaus und der Verkehrsbelange
Stellungnahmen des Dipl. Ing. Z. vom 09.01.2015 und des Landratsamts Alb-
Donau-Kreis vom 29.01.2015 vorgelegt.
17 Dem Senat liegen die Verfahrensakten zur Aufstellung des angegriffenen
Bebauungsplans, zwei Ausfertigungen des Bebauungsplans "Obsteig" sowie die
Gerichtsakten im Beschwerdeverfahren 8 S 2208/13 vor. Wegen der Einzelheiten
wird auf diese Unterlagen und die Gerichtsakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
A.
18 Die Normenkontrollanträge sind zulässig (I.) und begründet (II.).
I.
19 Die Normenkontrollanträge sind nach § 47 Abs. 1 Nr. 1 VwGO statthaft und auch
sonst zulässig. Sie wurden innerhalb eines Jahres nach öffentlicher
Bekanntmachung des angegriffenen Bebauungsplans gestellt (§ 47 Abs. 2 Satz 1
Halbsatz 2 VwGO) und sind nicht nach § 47 Abs. 2a VwGO unzulässig. Schließlich
sind die Antragsteller i. S. des § 47 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 1 VwGO antragsbefugt.
Sie machen - sinngemäß - Verletzungen ihrer Rechte auf gerechte Abwägung
eigener (Anlieger-)Belange nach § 1 Abs. 7 BauGB (vgl. BVerwG, Urteil vom
24.09.1998 - 4 CN 2.98 - BVerwGE 107, 215, juris Rn. 15 ff.) geltend und solche
Rechtsverletzungen erscheinen jedenfalls nicht offensichtlich und eindeutig
ausgeschlossen. Offen bleiben kann daher, ob auch die unter Hinweis auf die
Rechtsstellungen als Eigentümer von Anliegergrundstücken des Spatzenwegs
behaupteten Verletzungen des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG möglich erscheinen (vgl.
dazu BVerwG, Beschluss vom 11.05.1999 - 4 VR 7.99 - NVwZ 1999, 41, juris Rn.
5 ff.; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 11.02.2000 - 3 S 422/99 - juris Rn. 17
m.w.N.).
20 Antragsbefugt im Sinne des § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO ist, wer durch den
angegriffenen Bebauungsplan oder dessen Anwendung in einem eigenen Belang
negativ betroffen wird, der bei der planerischen Abwägung gemäß § 1 Abs. 7
BauGB zu berücksichtigen war (st. Rspr., BVerwG, Beschluss vom 21.12.2010 - 4
BN 44.10 - juris Rn. 8 m.w.N.). Die Beantwortung der Frage, ob ein Belang zum
notwendigen Abwägungsmaterial (§ 2 Abs. 3 BauGB) gehört, richtet sich nach den
Umständen des Einzelfalls. Macht ein Antragsteller eine Verletzung des
Abwägungsgebots geltend, so muss er einen eigenen Belang als verletzt
benennen, der in der Abwägung zu beachten war. Nicht jeder private Belang ist in
der Abwägung zu berücksichtigen, sondern nur solche, die in der konkreten
Planungssituation einen städtebaulich relevanten Bezug haben. Nicht
abwägungsbeachtlich sind geringwertige Interessen sowie solche, auf deren
Beachtung kein schutzwürdiges Vertrauen besteht, oder solche, die für die
Gemeinde bei der Entscheidung über den Plan nicht erkennbar waren. Welche
Belange eines außerhalb des räumlichen Geltungsbereichs eines
Bebauungsplans gelegenen Grundstücks "nach Lage der Dinge" zum
notwendigen Abwägungsmaterial gehören, lässt sich nicht grundsätzlich, sondern
nur unter Berücksichtigung der jeweiligen konkreten Situation und des von der
Planung verfolgten konkreten Ziels beantworten (vgl. BVerwG, Beschluss vom
21.07.1989 - 4 NB 18.88 - NVwZ 1990, 256, juris Rn 4).
21 Gemessen daran gehören die von den Antragstellern vorgebrachten (Anlieger-
)Belange als Eigentümer von Grundstücken, die zwar außerhalb des Gebiets der
angegriffenen Planänderung liegen, aber durch den in diesem Gebiet liegenden
Spatzenweg erschlossen werden, zum Abwägungsmaterial. Diese Belange haben
in der konkreten Planänderungs-Situation einen städtebaulich relevanten Bezug
und sind schutzwürdig. Wenn Ziel einer Planänderung auch eine veränderte
verkehrsrechtliche Situation ist - hier durch Festsetzung der besonderen
Zweckbestimmung "verkehrsberuhigter Bereich" für den Spatzenweg ,- so ist eine
Beschränkung der verkehrlichen Erreichbarkeit von Anliegergrundstücken
grundsätzlich abwägungserheblich (BVerwG, Beschluss vom 09.07.1992 - 4 NB
39.91 - NVwZ 1993, 470, juris Rn. 14; OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 04.12.2014
- 1 C 11164.13 - BauR 2015, 616, juris Rn. 19). Der Umstand, dass die
Grundstücke der Antragsteller nicht im Gebiet der Planänderung liegen, ist insoweit
unerheblich. Der Spatzenweg diente und dient nicht allein der Erschließung von
Grundstücken im Gebiet der Planänderung, sondern auch weiterer Grundstücke im
Gebiet des Bebauungsplans "Obsteig" vom 05.02.1987. Die von den
Antragstellern geltend gemachten Anlieger-Belange sind auch nicht nur
geringfügig oder unwesentlich betroffen. Zwar sind die Grundstücke der
Antragsteller auch nach der Planänderung rechtlich wie tatsächlich über den
Spatzenweg erschlossen und insbesondere mit Kraftfahrzeugen erreichbar und
befahrbar. Auch bleibt die Breite der öffentlichen Verkehrsfläche des Spatzenwegs
im Gebiet der Planänderung unverändert bei 5 m. Die neu hinzu kommende
besondere Zweckbestimmung "verkehrsberuhigter Bereich" bewirkt indes eine für
die gewerbliche Nutzung der Grundstücke der Antragsteller nachteilige und nicht
nur geringfügige Änderung der Widmung (vgl. § 5 Abs. 6 StrG). Denn damit sind
zwangsläufig verkehrsrechtliche Einschränkungen (Schrittgeschwindigkeit,
zusätzliche Rücksichtnahmepflichten, vgl. die Ge-/Verbote zu Zeichen 325.1 in Nr.
12 der Anlage 3 zur StVO) verbunden. Zwar dürfte die Benutzung der Zufahrten
und Zugänge der Grundstücke der Antragsteller dadurch nicht i. S. des § 15 Abs. 2
Satz 1 StrG "erheblich erschwert" werden. Die verkehrlichen Einschränkungen
sind für den gewerblichen Anliegerverkehr von und zu den Grundstücken der
Antragsteller aber jedenfalls ein mehr als geringfügiger Nachteil und daher
abwägungsbeachtlich (vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 11.05.1999, a.a.O. Rn.
8).
II.
22 Die Normenkontrollanträge sind begründet. Der Bebauungsplan "Obsteig, 1.
Änderung" vom 25.10.2012 ist unwirksam. Die Festsetzung des Mischgebiets auf
den Flächen des bisherigen Gewerbegebiets (Flst. Nrn. 185/1 und 185/4) verstößt
gegen § 1 Abs. 3 Satz 1 BauGB, da sie nicht i. S. dieser Vorschrift für die
städtebauliche Entwicklung und Ordnung erforderlich ist (1.). Dieser Rechtsverstoß
führt zur Unwirksamkeit des gesamten Bebauungsplans (2.). Keiner Entscheidung
bedarf daher, ob weitere zur Unwirksamkeit des Bebauungsplans führende
Rechtsverstöße vorliegen, insbesondere was die Nutzungsausschlüsse im
Mischgebiet nach Nr. 1.1.3 der textlichen Festsetzungen und was die Abwägung
der öffentlichen und privaten Belange bei der Festsetzung des Spatzenwegs als
Verkehrsfläche mit der besonderen Zweckbestimmung "verkehrsberuhigter
Bereich" (vgl. dazu u.a. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 11.02.2000, a.a.O.)
angeht.
23 1. a) Nach § 1 Abs. 3 Satz 1 BauGB haben die Gemeinden Bauleitpläne
aufzustellen, sobald und soweit es für die städtebauliche Entwicklung und
Ordnung erforderlich ist. Dieses Gebot gilt nicht nur für Anlass und Zeitpunkt der
Planung, sondern auch für jede einzelne Festsetzung (BVerwG, Beschluss vom
16.12.1988 - 4 NB 1.88 - NVwZ 1989, 664, juris Rn. 54, und Urteile vom
25.11.1999 - 4 CN 17.98 - NVwZ 2000, 183, juris Rn. 31, sowie vom 26.03.2009 - 4
C 21.01 -BVerwGE 133, 310, juris Rn. 17). Was i. S. des § 1 Abs. 3 Satz 1 BauGB
"erforderlich" ist, bestimmt sich nach der planerischen Konzeption der Gemeinde.
Denn welche städtebaulichen Ziele sie sich setzt, liegt grundsätzlich in ihrem
planerischen Ermessen. Der Gesetzgeber ermächtigt die Gemeinden, diejenige
"Städtebaupolitik" zu betreiben, die ihren städtebaulichen Ordnungsvorstellungen
entspricht (st. Rspr., vgl. BVerwG, Urteil vom 26.03.2009, a.a.O. m.w.N.). Das gilt
auch für Gebiete, die bereits bebaut sind oder in anderer Weise konkret genutzt
werden (BVerwG, Beschluss vom 06.06.1997 - 4 NB 6.97 - NVwZ-RR 1998, 415,
juris Rn. 11). Nicht erforderlich sind Bauleitpläne oder Festsetzungen ohne positive
Planungskonzeption im Sinne eines groben und einigermaßen offensichtlichen
Missgriffs (BVerwG, Urteile vom 14.07.1972 - IV C 8.70 - BVerwGE 40, 258, vom
16.12.1988 - 4 C 48.86 - NVwZ 1989, 655 und vom 22.01.1993 - 8 C 46.91 -
BVerwGE 92, 8). Das gilt etwa für Festsetzungen die nicht dem "wahren" Willen
der Gemeinde entsprechen, weil sie in ihrer eigentlichen gleichsam positiven
Zielsetzung nicht gewollt und erforderlich sind (vgl. BVerwG, Urteil vom 14.07.1972
- IV C 8.70 - BVerwGE 40, 258 <262>, juris Rn. 29). Insoweit setzt § 1 Abs. 3 Satz
1 BauGB eine strikt bindende Schranke, die grobe und einigermaßen
offensichtliche Missgriffe ausschließt. Sie betrifft die generelle Erforderlichkeit der
Planung oder einzelner Festsetzungen, nicht aber Einzelheiten einer konkreten
planerischen Lösung; dafür ist das Abwägungsgebot maßgeblich (BVerwG, Urteil
vom 27.03.2013 - 4 C 13.11 -BVerwGE 146, 137, juris Rn. 9 m.w.N.).
24 Spätester Zeitpunkt für die Beurteilung der Erforderlichkeit i. S. des § 1 Abs. 3 Satz
1 BauGB ist das Inkrafttreten des Bebauungsplans durch ortsübliche
Bekanntmachung (§ 10 Abs. 3 Satz 1 BauGB). Verstößt eine Festsetzung in
diesem Zeitpunkt gegen § 1 Abs. 3 Satz 1 BauGB, ist sie von Anfang an
unwirksam. Denn Planerhaltungsvorschriften kommen insoweit nicht in Betracht
und auch eine spätere Änderung der Sach- oder Rechtslage kann die Festsetzung
nicht wieder "zum Leben erwecken" (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.03.2014 - 4 CN
3.13 - BVerwGE 149, 229, juris Rn. 27 und 33).
25 b) Gemessen daran ist die Festsetzung des Mischgebiets im angegriffenen
Bebauungsplan nicht i. S. des § 1 Abs. 3 Satz 1 BauGB erforderlich. Sie findet
zwar formal ihre Grundlage in § 9 Abs. 1 Nr. 1 BauGB i.V.m. § 1 Abs. 3 Satz 1 und
§ 6 BauNVO. Sie wird jedoch durch diese Vorschriften nicht auch materiell
gedeckt, weil sie ihrem Inhalt nach bei Inkrafttreten der Satzung durch ortsübliche
Bekanntmachung am 07.12.2012 offensichtlich nicht dem "wahren" planerischen
Willen der Antragsgegnerin entsprach und sich daher als grober planerischer
Missgriff erweist. Denn sie war in ihrer eigentlichen gleichsam positiven Zielsetzung
nach der planerischen Konzeption der Antragsgegnerin zur städtebaulichen
Entwicklung und Ordnung der betreffenden Flächen des Plangebiets tatsächlich
nicht - mehr - "gewollt".
26 Mischgebiete dienen dem Wohnen und der Unterbringung von Gewerbebetrieben,
die das Wohnen nicht wesentlich stören (§ 6 Abs. 1 BauNVO). In der sowohl
qualitativ als auch quantitativ zu verstehenden Durchmischung der zwei
Hauptnutzungsarten "Wohnen" und "Gewerbebetriebe, die das Wohnen nicht
wesentlich stören" liegt die in § 6 Abs. 1 BauNVO normativ bestimmte besondere
Funktion des Mischgebiets, die sich gerade dadurch von den anderen
Baugebietstypen der Baunutzungsverordnung unterscheidet (vgl. BVerwG, Urteil
vom 04.05.1988 - 4 C 34.86 - BVerwGE 79, 309 <311>, juris Rn. 128 und
Beschluss vom 11.04.1996 - 4 B 51.96 - NVwZ-RR 1997, 463, juris Rn. 5 f.
m.w.N.). Die Festsetzung eines solchen Gebietstyps ist zur städtebaulichen
Entwicklung und Ordnung mithin nicht erforderlich, wenn die Gemeinde ihr insoweit
verfolgtes städtebauliches Konzept bereits während der Planaufstellung dadurch
aufgibt, dass sie in Wahrnehmung ihrer Planungshoheit (§ 36 Abs. 1 Satz 1
BauGB) das Einvernehmen zur Erteilung von Baugenehmigungen für die
Errichtung nur von Wohnhäusern auf allen Baugrundstücken im Mischgebiet erteilt.
Das ist hier der Fall. Die Begründung zum Bebauungsplan "Obsteig, 1. Änderung"
deutet zwar auf eine positive städtebauliche Planungskonzeption im Sinne des § 6
Abs. 1 BauNVO, soweit es darin heißt, die Umnutzung der Flächen des bisherigen
Gewerbegebiets solle "als gemischte Bebauung mit Wohn-und Gewerbegebäuden
erfolgen" und es sollten dort "neben Wohngebäuden auch nicht störende
Gewerbebetriebe sowie Geschäfts-und Bürogebäude zulässig sein". Diese
ursprünglich verfolgte städtebauliche Konzeption hatte die Antragsgegnerin jedoch
schon während des Verfahrens zur Aufstellung des Bebauungsplans aufgegeben
und daran hatte sich auch bis zur Beschlussfassung über den Bebauungsplan
nichts mehr geändert. Denn die Antragsgegnerin hatte mit der Erteilung ihres
Einvernehmens für die Errichtung von acht Wohnhäusern auf allen
Baugrundstücken im Gebiet der Planänderung in Wahrnehmung ihrer
Planungshoheit (§ 36 Abs. 1 Satz 1 BauGB) verbindlich dokumentiert, dass sie die
für ein Mischgebiet typische Durchmischung der zwei Hauptnutzungsarten
"Wohnen" und "Gewerbebetriebe, die das Wohnen nicht wesentlich stören", in
Wahrheit nicht - mehr - anstrebt. An dieser Sachlage hatte sich auch bis zum
Inkrafttreten des Bebauungsplans nichts mehr geändert. Vielmehr wurde in der
Beschlussvorlage Nr. 67/2012 für die Gemeinderatssitzung am 25.10.2012, in
welcher der Bebauungsplan "Obsteig, 1. Änderung" beschlossen wurde, in der
einleitenden "Sachdarstellung" ausdrücklich auf die Erteilung der
Baugenehmigungen für die Wohnhäuser im Einvernehmen mit der
Antragsgegnerin und darauf hingewiesen, dass die dagegen eingelegten
Widersprüche eines Dritten keine aufschiebende Wirkung hätten, weshalb mit den
Bauarbeiten begonnen werden könnte. Die in Kenntnis dieser Umstände
gleichwohl beschlossene Festsetzung eines Mischgebiets kann danach nur als
offensichtlicher grober planerischer Missgriff verstanden werden, weil die
Antragsgegnerin eine Durchmischung von Wohnnutzung mit gewerblicher Nutzung
im Gebiet der Planänderung danach erkennbar nicht - mehr - realisieren wollte. Bei
Verwirklichung der mit ihrem Einvernehmen genehmigten Bauvorhaben wäre das
Mischgebiet vielmehr in kürzester Zeit funktionslos geworden. Der Umstand, dass
es dazu nur deshalb nicht mehr kommen konnte, weil zwei Baugenehmigungen
auf Widersprüche eines Dritten aufgehoben worden sind, ändert an dem Verstoß
gegen § 1 Abs. 3 Satz 1 BauGB nichts. Zum einen lässt die Aufhebung von
Baugenehmigungen durch das Landratsamt keine Rückschlüsse auf - geänderte -
planerische Absichten der Antragsgegnerin zu. Zum anderen ist dies erst nach
dem für die gerichtliche Kontrolle der Gültigkeit des Bebauungsplans spätesten
Zeitpunkt des Inkrafttreten des Bebauungsplans geschehen, weshalb diese
spätere Änderung die Mischgebiets-Festsetzung nicht wieder "zum Leben
erwecken" kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.03.2014, a.a.O.).
27 2. Der Verstoß gegen § 1 Abs. 3 BauGB führt zur Unwirksamkeit der Festsetzung
"Mischgebiet“ und damit zur Unwirksamkeit des ganzen Bebauungsplans
"Obsteig, 1. Änderung".
28 Mängel, die einzelnen Festsetzungen eines Bebauungsplans anhaften, führen nur
dann nicht zu dessen Gesamtunwirksamkeit, wenn - erstens - die übrigen
Regelungen, Maßnahmen oder Festsetzungen für sich betrachtet noch eine
sinnvolle städtebauliche Ordnung im Sinne des § 1 Abs. 3 Satz 1 BauGB bewirken
können und - zweitens - die Gemeinde nach ihrem im Planungsverfahren zum
Ausdruck gekommenen Willen im Zweifel auch eine Satzung dieses
eingeschränkten Inhalts beschlossen hätte (BVerwG, Urteil vom 11.09.2014 - 4 CN
3.14 - NVwZ 2015, 301, juris Rn. 26 m.w.N.; st. Rspr.). Hier ist bereits die erste
Voraussetzung nicht erfüllt. Der Bebauungsplan "Obsteig, 1. Änderung" kann ohne
die Mischgebiets-Festsetzung für sich betrachtet keine sinnvolle städtebauliche
Ordnung im Sinne des § 1 Abs. 3 Satz 1 BauGB bewirken. Denn mit der
Festsetzung einer Gebietsart trifft die Gemeinde eine planerische Grundaussage,
in welcher Weise sich die städtebauliche Entwicklung im Plangebiet vollziehen soll.
Festsetzungen über die Art der baulichen Nutzung gehen daher jedenfalls in - wir
hier - detaillierten Bebauungsplänen nach § 30 Abs. 1 BauGB allen anderen
Festsetzungen vor. Erweist sich damit die Gebietsfestsetzung als unwirksam, so
führt dies regelmäßig zur Gesamtunwirksamkeit des Bebauungsplans (BVerwG,
Urteil vom 11.09.2014, a.a.O. Rn. 27 m.w.N.). Das gilt auch im vorliegenden Fall.
Gesichtspunkte, die für ein Abweichen von dieser Regel streiten, haben weder die
Beteiligten benannt und sind auch sonst nicht ersichtlich.
B.
29 Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Revision ist nicht
zuzulassen, da die dafür erforderlichen Voraussetzungen nach § 132 Abs. 2
VwGO nicht erfüllt sind.
30
Beschluss vom 22. April 2015
31 Der Streitwert für das Verfahren wird nach §§ 39 Abs. 1, 52 Abs. 1 GKG endgültig
auf 60.000,00 Euro festgesetzt (30.000,00 Euro je Antragsteller im Hinblick auf ihr
Alleineigentum an je einem gewerblich genutzten Grundstück, in Anlehnung an
den Rahmen nach Nr. 9.8.1 des Streitwertkatalogs für die
Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 und unter
Berücksichtigung des jeweiligen gewerblichen Interesses).
32 Der Beschluss ist unanfechtbar.