Urteil des VGH Baden-Württemberg vom 01.12.2015

treu und glauben, markt, einkauf, befreiung

VGH Baden-Württemberg Urteil vom 1.12.2015, 8 S 210/13
Zur Berechnung der Verkaufsfläche eines Lebensmittelmarktes
Leitsätze
Bei der Berechnung der Verkaufsfläche eines Lebensmittelmarktes sind weder die
Verkaufsfläche eines baulich und funktionell eigenständigen Backshops noch die
außerhalb der Verkaufsstätte liegende überdachte Abstellfläche für Einkaufswagen zu
berücksichtigen.
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Sigmaringen vom
22. November 2012 - 8 K 3360/10 - wird zurückgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Berufungsverfahrens mit Ausnahme der
außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
1 Die Klägerin begehrt die Erteilung einer Baugenehmigung für die Erweiterung ihres
Lebensmitteldiscountmarktes.
2 Die Klägerin ist Eigentümerin der Grundstücke Flst.Nrn. ..., ..., ..., ... und ..., ...
Straße ... in Gomaringen. Die Grundstücke befinden sich im unbeplanten
Innenbereich der Gemeinde und sind mit dem Lebensmittelmarkt der Klägerin,
einem Drogeriemarkt, einem Textilmarkt sowie einem Backshop bebaut. Am
24.11.2006 erteilte das Landratsamt Tübingen der Klägerin die Baugenehmigung
für die Errichtung eines Lebensmittelmarktes und eines Fachmarkts mit
zentrenrelevantem Sortiment. Nach den Bauvorlagen betrug die Verkaufsfläche
des Lebensmittelmarktes 799,89 m². Unter Nr. 59 der Nebenbestimmungen zur
Baugenehmigung wurde die Verkaufsfläche des Lebensmittelmarktes auf max.
800 m² begrenzt. Aufgrund einer Änderungsbaugenehmigung vom 29.04.2008
wurde u.a. ein Pfandraum eingerichtet; hierdurch ergab sich eine Reduzierung der
Verkaufsfläche auf 799,44 m². Gegenstand der Änderungsbaugenehmigung war
des Weiteren die Errichtung des freistehenden Backshops südwestlich des
Lebensmittelmittelmarktes mit einer Verkaufsfläche von 68,26 m² sowie die
Aufteilung des bereits genehmigten Fachmarktes in zwei Fachmärkte (Textil- und
Drogeriemarkt). Nach der Nebenbestimmung Nr. 26 zur
Änderungsbaugenehmigung wurde die Verkaufsfläche des Lebensmittelmarktes
erneut auf max. 800 m², des Drogeriemarktes auf maximal 588 m² und des
Textilmarktes auf 532,8 m² beschränkt.
3 Mit Bauantrag vom 10.09.2009 beantragte die Klägerin die Erteilung einer
Baugenehmigung zur Erweiterung der Verkaufsfläche ihres Lebensmittelmarktes
um 220 m². Vorgesehen ist eine Nutzungsänderung von Teilen des Non-Food-
Lagers. Das Landratsamt Tübingen lehnte den Antrag mit Bescheid vom
23.04.2010 ab. Zur Begründung führte es aus, das Vorhaben sei nach § 34 Abs. 2
BauGB i.V.m. § 6 BauNVO planungsrechtlich unzulässig. Die maßgebliche
Umgebungsbebauung entspreche einem faktischen Mischgebiet. Der
Lebensmittelmarkt sei in den bisherigen Ausmaßen kein großflächiger
Einzelhandelsbetrieb, da die Verkaufsfläche 800 m² nicht überschreite. Der
Backshop sei als selbständiger Betrieb zu qualifizieren, dessen Verkaufsfläche
nicht zum Lebensmittelmarkt der Klägerin hinzuaddiert werden könne. Mit der
geplanten Erweiterung der Verkaufsfläche würde die Grenze zur Großflächigkeit
überschritten. In einem Mischgebiet seien großflächige Einzelhandelsbetriebe
unzulässig.
4 Den hiergegen erhobenen Widerspruch der Klägerin vom 30.04.2010 wies das
Regierungspräsidium Tübingen mit Widerspruchsbescheid vom 18.01.2011 als
unbegründet zurück.
5 Bereits am 18.11.2010 hat die Klägerin Untätigkeitsklage beim Verwaltungsgericht
Sigmaringen erhoben und zuletzt beantragt, den Bescheid des Landratsamts
Tübingen vom 23.04.2010 und den Widerspruchsbescheid des
Regierungspräsidiums Tübingen vom 18.01.2011 aufzuheben und den Beklagten
zu verpflichten, die Baugenehmigung für die beantragte Erweiterung des
Lebensmittelmarktes zu erteilen. Zur Begründung hat sie im Wesentlichen geltend
gemacht, das Bauvorhaben sei nach § 34 Abs. 1 BauGB zu beurteilen und danach
zulässig, da es sich auch mit der vergrößerten Verkaufsfläche in die maßgebliche
nähere Umgebungsbebauung einfüge. Die Umgebungsbebauung sei nicht als
Mischgebiet zu qualifizieren, denn der bereits vorhandene Lebensmittelmarkt mit
einer Verkaufsfläche von ca. 893 m² stelle einen großflächigen
Einzelhandelsbetrieb dar, der in einem Mischgebiet unzulässig sei. Teil der
Verkaufsfläche sei auch die 33 m² große Abstellfläche für Einkaufswagen und die
ca. 60 m² große Verkaufsfläche des Backshops, der als untergeordneter
Nebenbetrieb des Lebensmittelmarktes zu qualifizieren sei. Zudem seien auch der
großflächige ...-Markt im nordwestlich gelegenen Gewerbegebiet und eine
Spedition nördlich der ... Straße für das Baugrundstück und seine Umgebung
prägend. Die Nutzungen wirkten sich wechselseitig aus, in dem Umfeld füge sich
die beantragte Erweiterung der Verkaufsfläche ein.
6 Der Beklagte hat Klagabweisung beantragt und erwidert: Das Vorhaben richte sich
nach § 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 6 BauNVO und sei unzulässig, da es die
Errichtung eines großflächigen Einzelhandelsbetriebes zum Gegenstand habe.
Der ...-Markt und die Spedition seien für das Baugrundstück nicht prägend. Der
bisherige Markt der Klägerin weise lediglich eine Verkaufsfläche von 799,44 m²
auf. Die Abstellfläche für Einkaufswagen könne schon deshalb nicht
hinzugerechnet werden, weil sie außerhalb des Gebäudes liege und nicht dem
Warenangebot diene. Dies habe die Klägerin nach ihren eigenen
Verkaufsflächenberechnungen in den Bauvorlagen bislang selbst so gesehen. Die
Klägerin handle daher rechtsmissbräuchlich, wenn sie sich jetzt darauf berufe,
bislang bereits einen großflächigen Einzelhandelsbetrieb zu betreiben.
7 Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.
8 Das Verwaltungsgericht hat nach Einnahme eines Augenscheins die Klage mit
Urteil vom 22.11.2012 abgewiesen und zur Begründung ausgeführt: Nach dem
Augenschein entspreche die Eigenart der näheren Umgebung des
Baugrundstücks einem Mischgebiet gem. § 6 BauNVO. Diese werde durch die
bereits vorhandene Bebauung mit Einzelhandelsmärkten auf dem Baugrundstück
selbst und durch die im Norden angrenzende Wohnbebauung geprägt, nicht
jedoch durch das Speditionsgebäude nördlich des Baugrundstücks und den vom
Baugrundstück aus nicht zu sehenden ...-Markt. Der vorhandene
Lebensmittelmarkt sei im bestehenden Zustand nicht bereits ein großflächiger
Einzelhandelsbetrieb. Dessen Verkaufsfläche betrage nach der
Änderungsbaugenehmigung 799,44 m² und liege damit knapp unter der Schwelle
der Großflächigkeit. Die Verkaufsfläche des Backshops sei nicht hinzuzurechnen,
da es sich bei dem Shop um einen eigenständigen Einzelhandelsbetrieb handele.
Die Verkaufsflächen baulich und funktionell eigenständiger Betriebe könnten nach
der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts grundsätzlich nicht
zusammengerechnet werden. Der Backshop sei nach dem Ergebnis des
Augenscheins weder baulich integriert noch optisch in die Verkaufsräume des
Lebensmittel-Marktes einbezogen. Es werde dort auch keine untergeordnete
Nebenleistung zu einem Hauptbetrieb angeboten. Dagegen spreche schon, dass
im Lebensmarkt der Klägerin selbst frisch vor Ort gebackene Brotwaren angeboten
würden. Die Klägerin trete daher sogar als Wettbewerber zum Kernsortiment des
Backshops auf. Zudem richte sich der Backshop mit seinem Angebot in gleicher
Weise an die Kunden des Drogerie- und Textilmarktes wie an sonstige Kundschaft,
die in keinem der Märkte einkaufen würde. Auch die überdachte Abstellfläche für
Einkaufswagen zähle nicht zur Verkaufsfläche. Dies könne letztlich dahingestellt
bleiben, da sich die Klägerin jedenfalls nicht darauf berufen könne, dass
tatsächlich bereits eine Verkaufsfläche von mehr als 800 m² genehmigt worden
sei. In den Baugenehmigungen sei zwar die Abstellfläche zeichnerisch dargestellt.
Die Klägerin habe jedoch selbst in der Nutzflächenberechnung vom 25.01.2008
die Verkaufsfläche mit 799,44 m² angegeben. In der Aufstellung hierzu sei die
Abstellfläche für Einkaufswagen nicht eingerechnet worden. Zudem sei mit der
Auflage Nr. 26 die Verkaufsfläche auf max. 800 m² begrenzt worden. Die
Baugenehmigung sei insoweit auch nicht widersprüchlich und unwirksam. Bei
Widersprüchen zwischen den Bauvorlagen und der Baugenehmigung sei allein die
schriftliche Baugenehmigung maßgeblich. Die Klägerin könne daher auch auf der
Grundlage der von ihr vertretenen Rechtsauffassung nicht geltend machen, dass
die Abstellfläche quasi stillschweigend als zusätzliche Verkaufsfläche über die in
der Baugenehmigung als Obergrenze festgelegten maximal 800 m² genehmigt
worden wäre. Schließlich sei die Klägerin auch nach Treu und Glauben unter dem
Gesichtspunkt des Rechtsmissbrauchs gehindert, sich darauf zu berufen, dass sie
schon jetzt großflächigen Einzelhandel betriebe. Sie habe selbst in den
vorangegangenen Baugenehmigungsverfahren stets dargelegt, einen nicht
großflächigen Einzelhandelsbetrieb errichten und betreiben zu wollen. Die
geplante Erweiterung der Verkaufsfläche sei danach nach § 34 Abs. 2 BauGB
i.V.m. § 6 BauNVO unzulässig. Es würde ein großflächiger Einzelhandelsbetrieb
entstehen, der nach § 11 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO grundsätzlich nur in einem Kern-
oder Sondergebiet zulässig wäre. Die Vermutung des § 11 Abs. 3 Satz 3 BauNVO
sei durch die Klägerin nicht widerlegt worden. Auch eine Befreiung nach §§ 34
Abs. 2 Hs. 2, 31 Abs. 2 BauGB komme nicht in Betracht.
9 Am 18.01.2013 hat die Klägerin die vom Verwaltungsgericht zugelassene
Berufung eingelegt und diese nach - entsprechender Fristverlängerung - am
18.03.2013 begründet. Die Klägerin macht geltend: Die Einordnung der
maßgeblichen Umgebungsbebauung als faktisches Mischgebiet nach § 6
BauNVO sei unzutreffend. Die Fläche der überdachten Abstellfläche für
Einkaufswagen sei zu der Verkaufsfläche hinzuzurechnen, es bestehe deshalb
bereits ein großflächiger Einzelhandelsbetrieb. Diese Abstellfläche präge die
Attraktivität und Wettbewerbsfähigkeit eines Einzelhandelbetriebs. Für die Kunden
sei das Angebot von Einkaufswagen neben dem Eingang von Vorteil. Hierdurch
werde der Einkauf erleichtert. Die Zweckbestimmung der Einkaufswagen liege
gerade in der Förderung des Einkaufsvorganges, Einkaufswagen seien zum
Einkauf notwendig, so dass sie zur Verkaufsfläche zu rechnen seien. Diese
Abstellfläche sei auch baurechtlich bereits genehmigt worden. Ein Widerspruch zur
Auflage Nr. 26 der Änderungsbaugenehmigung liege nicht vor. Denn der Auflage
sei die insoweit irrige Rechtsauffassung zugrunde gelegen, dass die
Einkaufwagenfläche nicht zur Verkaufsfläche zähle. Eine ausdrückliche
Genehmigung als Verkaufsfläche sei nicht notwendig gewesen, es genüge, dass
die Funktion als Abstellfläche genehmigt worden sei. Entgegen der Ansicht der
Beklagten könne deshalb auch kein Rückbau verlangt werden, noch sei sie, die
Klägerin, nach Treu und Glauben gehindert, sich auf die bereits bestehende
Großflächigkeit zu berufen. Insoweit mangele es bereits an einem rechts- oder
pflichtwidrigen Verhalten. Im Übrigen werde die Schwelle zur Großflächigkeit
bereits durch den Backshop überschritten. Dessen Verkaufsfläche zähle zur
Gesamtverkaufsfläche des Lebensmittelmarktes, da dieser nur mit einer
Nebenleistung zu ihrem Markt hinzutrete, die in einem inneren Zusammenhang mit
der Hauptleistung stehe. Der Backshop ergänze lediglich das Angebot an
Lebensmitteln in ihrem Markt und sei auch räumlich nur ihrem Markt und nicht den
dem Drogeriefachmarkt oder dem Textilmarkt zugeordnet. Da sich die
planungsrechtliche Zulässigkeit danach nach § 34 Abs. 1 BauGB bestimme, sei
das Bauvorhaben zulässig.
10 Die Klägerin beantragt,
11 das Urteil des Verwaltungsgerichts Sigmaringen vom 22.11.2012 - 8 K 3360/10 -
zu ändern, den Bescheid des Landratsamts Tübingen vom 23.04.2010 und den
Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums Tübingen vom 18.01.2011
aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, ihr die Baugenehmigung für die
beantragte Erweiterung ihres Lebensmittelmarktes zu erteilen.
12 Der Beklagte beantragt,
13 die Berufung zurückzuweisen.
14 Er verteidigt das angefochtene Urteil und legt ergänzend dar, dass die Klägerin
nach ihrem Bauantrag selbst von einer Verkaufsfläche von 799,44 m² ausgehe,
also davon, dass weder die Verkaufsfläche des Backshops noch die Abstellfläche
für Einkaufswagen zur Verkaufsfläche zählten. Die Beteiligten seien im bisherigen
Genehmigungsverfahren stets davon ausgegangen, dass die Grenze zur
Großflächigkeit nicht überschritten werden dürfe und welche Bereiche im
Einzelnen zur Verkaufsfläche zählten. Bei dem Backshop handele es sich um
einen selbständigen Einzelhandelsbetrieb, dieser könne nicht der Verkaufsfläche
des Lebensmittelmarktes zugeschlagen werden.
15 Die Beigeladene hat sich nicht geäußert und hat auch keinen Antrag gestellt.
16 Dem Senat liegen die einschlägigen Bauakten des Landratsamtes Tübingen sowie
die Gerichtsakten vor. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt dieser
Unterlagen verwiesen.
Entscheidungsgründe
17 Die zulässige Berufung der Klägerin ist unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat
die Klage zu Recht abgewiesen. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Erteilung
einer Baugenehmigung für die Erweiterung der Verkaufsfläche ihres
Lebensmittelmarktes. Der ablehnende Bescheid des Landratsamts Tübingen vom
23.04.2010 und der Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums Tübingen
vom 18.01.2011 sind rechtmäßig und verletzen die Klägerin nicht in ihren Rechten
(§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Der beantragten Baugenehmigung stehen von der
Baurechtsbehörde zu prüfende öffentlich-rechtliche Vorschriften (§ 58 Abs. 1 LBO)
entgegen.
18 Die planungsrechtliche Zulässigkeit des Vorhabens der Klägerin richtet sich
hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung nach § 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 6
BauNVO (1.). Das Vorhaben ist danach unzulässig, da mit seiner Verwirklichung
erstmals ein großflächiger Einzelhandelsbetrieb entstehen würde, der nach § 11
Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 BauNVO außer in Kerngebieten nur in für sie festgesetzten
Sondergebieten zulässig ist; die Regelvermutung der negativen städtebaulichen
Auswirkungen im Sinne des § 11 Abs. 3 Satz 3 BauNVO wurde von der Klägerin
nicht widerlegt (2.). Die Erteilung einer Befreiung ist schon aus Rechtsgründen
nicht möglich (3).
19 1. Die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit des Vorhabens der Klägerin richtet sich
hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung nach § 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 6
BauNVO.
20 a) Zur Beurteilung, wie weit die nähere Umgebung im Sinne des § 34 Abs. 1
BauGB reicht, ist maßgebend darauf abzustellen, wie weit sich die Ausführung des
Vorhabens der Klägerin auf sie auswirken kann und wie weit die Umgebung den
bodenrechtlichen Charakter des Vorhabengrundstücks prägt oder doch beeinflusst
(vgl. u.a. BVerwG, Urteil vom 26.05.1978 - 4 C 9.77 -BVerwGE 55, 369). Gleiches
gilt für die Bestimmung ihrer Eigenart im Sinne des § 34 Abs. 2 BauGB.
21 Nach Ansicht des Verwaltungsgerichts umfasst die nähere Umgebung der
Grundstücke der Klägerin jedenfalls die Bebauung zwischen der ... Straße (L 230)
und der ... Straße, die aus den Einzelhandelsbetrieben auf den Grundstücken der
Klägerin sowie der nach Norden angrenzenden Wohnbebauung bestehe. Ob zu
der näheren Umgebung auch die Bebauung südlich der ... Straße zählt, hat das
Verwaltungsgericht offen gelassen, da diese ebenfalls aus Wohnbebauung
bestehe. Nicht zur näheren Umgebung gehöre aber die nördlich der ... Straße
gelegene Bebauung, da diese im Bereich nördlich und nordöstlich der
Baugrundstücke mit randständigen Bäumen, breiten Grünstreifen und
beiderseitigen Rad- und Fußwegen sowie dem dreispurigen Ausbau mit
Abbiegespuren bis in den Kreuzungsbereich wenigstens 15 m breit sei und damit
als deutliche Zäsur wirke. Einwendungen hiergegen werden von der Klägerin nicht
erhoben. Auf der Grundlage der verschiedenen in den Bauakten enthaltenen
Pläne, der Anlage zur Niederschrift über die Sitzung des Verwaltungsgerichts und
der dabei gefertigten Fotografien bestehen gegen die Auffassung auch nach
Ansicht des Senats keine Bedenken.
22 b) Die Eigenart der näheren Umgebung der Baugrundstücke entspricht hiervon
ausgehend einem Mischgebiet im Sinne von § 6 BauNVO, da sie ungefähr
gleichgewichtig von den Einzelhandelsbetrieben auf den Grundstücken der
Klägerin sowie der angrenzenden Wohnbebauung geprägt ist. Der großflächige ...-
Markt an der ...Straße sowie das nördlich der Baugrundstücke liegende
Speditionsgebäude der Firma ..., bleiben außer Betracht, da sie jeweils nördlich der
... Straße liegen und damit nicht zu der beschriebenen Umgebung zählen.
23 Der Lebensmittelmarkt der Klägerin steht der Einordnung als faktisches
Mischgebiet i.S.d. § 6 BauNVO nicht entgegen. Mit einer Verkaufsfläche von
derzeit 799,44 m² ist der Lebensmittelmarkt nach der Art der baulichen Nutzung als
Einzelhandelsbetrieb in einem Mischgebiet nach § 6 Abs. 2 Nr. 3 BauNVO
allgemein zulässig. Unzulässig ist ein Einzelhandelsbetrieb in einem Mischgebiet
grundsätzlich erst dann, wenn er die Grenze zur Großflächigkeit überschritten hat.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts wird dieses
Merkmal mit Hilfe der Größe der Verkaufsfläche bestimmt (u.a. Urteil vom
22.05.1987 - 4 C 19.85 - NVwZ 1987, 1076). Einzelhandelsbetriebe sind danach
großflächig, wenn sie eine Verkaufsfläche von 800 m² überschreiten (BVerwG, u.a.
Urteil vom 24.11.2005 - 4 C 10.04 -BVerwG 124, 376 = juris Rn. 12). Großflächige
Einzelhandelsbetriebe sind nach § 11 Abs. 3 BauNVO, der auch im Rahmen von §
34 Abs. 2 BauGB uneingeschränkt zu berücksichtigen ist (vgl. BVerwG, Beschluss
vom 17.02.2009 - 4 B 4.09 - juris Rn. 9), nur in Kerngebieten und sonstigen
Sondergebieten zulässig.
24 Der danach maßgebliche Schwellenwert von 800 m² wird nicht bereits durch die
Verkaufsfläche des genehmigten Lebensmittelmarktes der Klägerin überschritten.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts gehören zur
Verkaufsfläche neben dem eigentlichen Verkaufsraum, der Kassenvorraum, die
Thekenbereiche, die von Kunden betreten werden dürfen und auch der Windfang
(u.a. Urteil vom 24.11.2005 - 4 C 10.04 - a.a.O.). Die Addition dieser Flächen ergibt
nach der Bauflächenberechnung der Klägerin vom 31.01.2008, die Bestandteil der
Änderungsbaugenehmigung vom 29.04.2008 ist, den Wert von 799,44 m².
Entgegen der Ansicht der Klägerin sind weder die Verkaufsfläche des Backshops
von 68,26 m² (aa), noch die Abstellfläche für die Einkaufswagen von 33 m² (bb)
dieser Verkaufsfläche hinzuzuaddieren.
25 aa) Der Lebensmittelmarkt der Klägerin und der Backshop stellen keinen
(einheitlichen) großflächigen Einzelhandelsbetrieb dar; ihre Verkaufsflächen sind
nicht zusammenzurechnen.
26 Der Backshop bildet bereits keine betriebliche Einheit mit dem
Lebensmitteldiscountmarkt der Klägerin. Es handelt sich vielmehr um einen
selbständigen Einzelhandelsbetrieb. Verkaufsflächen baulich und funktionell
eigenständiger Betriebe können grundsätzlich nicht zusammengerechnet werden
(vgl. BVerwG, Urteil vom 24.11.2005 - 4 C 8.05 - juris Rn. 10). Ob es sich in diesem
Sinne um einen einzigen oder um mehrere Betriebe handelt, bestimmt sich nach
baulichen und betrieblich-funktionellen Gesichtspunkten. Der Backshop erscheint
bereits aufgrund seiner Entfernung von ca. 35 m vom Lebensmittelmarkt der
Klägerin als selbständiger Einzelhandelsbetrieb. Nach den genehmigten
Bauvorlagen vom 28.04.2008 befinden sich in dem Backshop sowohl eigene
Kunden-Toiletten als auch ein Personalumkleideraum und eigene WC-
Personalräume. Der Backshop kann danach sowohl baulich als auch funktionell
völlig unabhängig vom Markt der Klägerin genutzt werden und wäre danach auch
baurechtlich als eigenständiges Vorhaben genehmigungsfähig gewesen.
27 Der Backshop wird zudem nicht von der Klägerin, sondern von einem
selbständigen Filialbäcker betrieben. Für die Prüfung einer Funktionseinheit unter
den Gesichtspunkten eines gemeinsamen Nutzungskonzepts oder etwa der
Ergänzung der Sortimente ist bei selbständigen Einzelhandelsbetrieben
regelmäßig kein Raum (BVerwG, Urteile vom 24.11.2005 - 4 C 14.04 - BVerwGE
124, 376 = juris Rn. 21 und vom 24.11.2005 - 4 C 8.05 - ZfBR 2006, 253 = juris Rn.
10; OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 03.02.2011 - 2 A 1416/09 -BauR 2011,
1631 = juris Rn. 99). Da sich der Backshop und der Lebensmittelmarkt der Klägerin
auch nicht im selben Gebäude befinden, erübrigen sich weitere Ausführungen zur
Frage, unter welchen Voraussetzungen ausnahmsweise in
einem
Gebäude
liegende baulich abgetrennte und selbständig nutzbare Einheiten gleichwohl als
Haupt- und Nebenbetrieb einen Einzelhandelsbetrieb im Sinne des § 11 Abs. 3
BauNVO bilden können (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 24.11.2005 - 4 C 14.04 -
juris Rn. 21).
28 bb) Die außerhalb der Verkaufsstätte liegende überdachte Abstellfläche für
Einkaufswagen zählt ebenfalls nicht zur Verkaufsfläche des bestehenden
Lebensmittelmarktes.
29 Zwar rechnen nach den Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil
vom 27.04.1990- 4 C 36.87 - NVwZ 1990, 1071; Urteil vom 24.11.2005 - 4 C 10.04
- BVerwGE 124, 364) zur Verkaufsfläche eines Selbstbedienungsgeschäfts außer
dem Teil der Geschäftsfläche, auf dem üblicherweise die Verkäufe abgewickelt
werden (einschließlich Kassenzone, Gänge, Schaufenster und Stellflächen für
Einrichtungsgegenstände sowie innerhalb der Verkaufsräume befindliche und
diese miteinander verbindende Treppen und Aufzüge) auch die Flächen des
Windfangs und des Kassenvorraums (einschließlich eines Bereichs zum
Einpacken der Ware und Entsorgen des Verpackungsmaterials), da auch sie in
städtebaulicher Hinsicht die Attraktivität und Wettbewerbsfähigkeit des Betriebs
prägten. Deutlich werde dies, wenn man die Verkaufsform der Selbstbedienung
und die der Bedienung durch Personal (sowie die hierzu bestehenden
Mischformen) vergleichend betrachte. Denn insbesondere der räumliche Bereich
vor der Zugangsschranke und hinter den Kassen erscheine beim System der
Selbstbedienung nur wegen der Besonderheiten dieser Verkaufsform als
abtrennbar. Der Kunde gehe durch eine Schranke, um den
Selbstbedienungsbereich betreten zu können. Nachdem er bezahlt und den
Kassenbereich durchschritten habe, betrete er eine Fläche, in der er die Waren
einpacken, Verpackungsmaterial entsorgen und sich zum Ausgang begeben
könne. In einem Laden, in dem er herkömmlich bedient werde, bestehe eine
derartige räumliche Abtrennung nicht (BVerwG, Urteil vom 24.11.2005 - 4 C 10.04 -
a.a.O).
30 Auf die Abstellfläche für die von einem Selbstbedienungsgeschäft zur Verfügung
gestellten Einkaufswagen lässt sich dies nicht übertragen. Eine solche Fläche
steht mit der Abwicklung des eigentlichen Ein- bzw. Verkaufsvorgangs nicht in dem
erforderlichen Zusammenhang und vermag auch in städtebaulicher Hinsicht die
Wettbewerbsfähigkeit des betreffenden Betriebs nicht zu prägen. Das Herausholen
eines Einkaufswagens aus der Abstellfläche kann allenfalls als eine Art
Vorbereitungshandlung für den nachfolgenden Kaufvorgang gewertet werden, er
wird damit jedoch noch nicht dessen notwendiger Bestandteil. Der Verkaufs- bzw.
Kaufvorgang beginnt vielmehr erst mit dem Betreten des Gebäudes. Eine
außerhalb der Verkaufsstätte gelegene Abstellfläche für Einkaufswagen zählt
daher auch dann nicht zur Verkaufsfläche, wenn sie sich - wie hier - direkt neben
dem Eingang der Verkaufsstätte befindet (ebenso OVG Schleswig-Holstein,
Beschluss vom 28.09.2010 - 1 MB 22/10 - juris Rn. 2; OVG Nordrhein-Westfalen,
Urteil vom 29.05.2013 - 10 A 1144/11 - juris; a. A. Bayerischer VGH, Urteil vom
05.02.2007 - 2 BV 05.1571 - juris Rn. 21; VG Frankfurt, Beschluss vom 18.05.2000
- 8 G 1443/00 - NVwZ-RR 2000, 584 und VG München, Urteil vom 16.06.2008 -
MrK07.3916 - juris Rn. 37). Wollte man dies anders sehen, so müssten
konsequenterweise auch die Fläche von Einkaufswagen-Unterständen, die sich
nicht im überdachten Eingangsbereich des Geschäftsgebäudes, sondern
irgendwo auf dem an das Gebäude angrenzenden Parkplatz befinden, als Teil der
Verkaufsfläche zu behandeln sein, obwohl in diesen Fällen das Fehlen des
erforderlichen engen Zusammenhang mit dem eigentlichen Ein-bzw.
Verkaufsvorgangs offen zu Tage tritt.
31 Die außerhalb des Ladens liegende Abstellfläche für Einkaufswagen ist auch nicht
unter dem Gesichtspunkt zur Verkaufsfläche zu zählen, dass die Wagen von den
Betrieben zum Einkaufen für erforderlich gehalten werden (so aber Ziegler in
Brügelmann, BauGB, § 11 BauNVO Rn. 85). Lebensmittelbetriebe halten sicherlich
auch Parkplätze zum Einkaufen für erforderlich, ohne dass vertreten wird, diese
Flächen müssten deshalb zur Verkaufsfläche hinzugerechnet werden. Die
unbestrittene Nützlichkeit des Einkaufswagens für einen Einkauf genügt für den
danach erforderlichen engen Zusammenhang mit der Abwicklung des eigentlichen
Einkaufvorganges nicht.
32 Entgegen der Ansicht der Klägerin erfordert auch nicht jeder Einkauf zwangsläufig
die Benutzung eines Einkaufswagens. Es bleibt dem jeweiligen Kunden
überlassen, ob er das entsprechende Angebot des Betreibers nutzt und seine
Einkäufe mit Einkaufswagen erledigt oder - da er etwa nur einen „kleinen“ Einkauf
tätigen will - keinen Einkaufswagen benutzt oder den Einkauf in einer
mitgebrachten Tasche oder einem anderen Behältnis zum Kassenbereich
transportiert. Dagegen wird von jedem Kunden, der einen Lebensmittelmarkt
betreten will, unabhängig davon, ob er einen Einkaufswagen benutzt oder nicht,
sowohl die Fläche des Windfangs als auch der Kassenvorraum betreten, gerade
aus diesem Grund sind diese Flächen daher nach der angeführten
Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgericht Teil der Verkaufsfläche. Hierin
liegt der wesentliche Unterschied zur Abstellfläche für Einkaufswagen außerhalb
der Verkaufsstätte, der eine abweichende Beurteilung erfordert.
33 2. Betreibt die Klägerin derzeit keinen großflächigen Einzelhandelsbetrieb, würde
sich dies nach der geplanten Erweiterung der Verkaufsfläche um 220 m² ändern,
da die Gesamtverkaufsfläche dann 1019,44 m² betragen würde. Als großflächiger
Einzelhandelsbetrieb ist der Betrieb nach § 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 6 BauNVO in
einem faktischen Mischgebiet unzulässig, da er nicht zu den in solchen Gebiet
allgemein oder ausnahmsweise zulässigen Nutzungen gehört. Großfläche
Einzelhandelsbetriebe, die sich nach Art, Lage oder Umfang auf die Verwirklichung
der Ziele der Raumordnung und Landesplanung oder auf die städtebauliche
Entwicklung und Ordnung nicht nur unwesentlich auswirken können, sind vielmehr
nach § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 BauNVO nur in Kerngebieten sowie in für sie
festgesetzten Sondergebieten zulässig.
34 Nach der Vermutungsregel des § 11 Abs. 3 Satz 3 BauNVO sind diese
Auswirkungen bei großflächigen Einzelhandelsbetrieben in der Regel
anzunehmen, wenn die Geschossfläche 1.200 m² überschreitet. Das ist hier der
Fall. Damit die in § 11 Abs. 3 BauNVO genannten Rechtsfolgen eintreten, bedarf
es nicht der Feststellung, welche nachteiligen Wirkungen konkret zu erwarten sind.
Der Normgeber geht vielmehr davon aus, dass sich die in § 11 Abs. 3 Satz 2
BauNVO bezeichneten Auswirkungen bei großflächigen Einzelhandelsbetrieben
generell nicht ausschließen lassen (vgl. BVerwG, Urteil vom 01.08.2002 - 4 C 5.01
- juris Rn. 28). Die Regel gilt nach Satz 4 der Vorschrift allerdings nicht, wenn
Anhaltspunkte dafür bestehen, dass Auswirkungen bereits bei weniger als 1.200
m² Geschossfläche vorliegen oder bei mehr als 1.200 m² Geschossfläche nicht
vorliegen. Bei Betrieben oberhalb dieser Geschossfläche trägt der
Bauantragsteller, hier also die Klägerin, die Darlegungslast für das Fehlen solcher
Auswirkungen (vgl. BVerwG, Urteil vom 24. November 2005 - 4 C 10.04 - juris Rn.
24). Die Klägerin hat hierzu jedoch keine weiteren Ausführungen gemacht. Es
verbleibt danach bei der Vermutungsregelung des § 11 Abs. 3 Satz 4 BauNVO
und damit der bauplanungsrechtlichen Unzulässigkeit des Vorhabens.
35 3. Die Erteilung einer Befreiung nach §§ 34 Abs. 2, 31 Abs. 2 BauGB kommt
bereits aus Rechtsgründen nicht in Betracht, da von der Vorschrift des § 11 Abs. 3
BauNVO nicht befreit werden kann (BVerwG, Beschluss vom 29.11.2005 - 4 B
72.05 - NVwZ 2006, 340 = juris Rn. 6). § 11 Abs. 3 BauNVO enthält in seinem Satz
4 vielmehr für den vom Regelfall abweichenden Einzelfall eine eigene
Korrekturmöglichkeit.
36 Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 2, 162 Abs. 3 VwGO. Der Senat
sieht keinen Veranlassung, der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten der
Beigeladenen aufzuerlegen, da diese im Berufungsverfahren keinen Antrag
gestellt und damit kein Prozessrisiko auf sich genommen hat.
37 Die Entscheidung über die Zulassung der Revision beruht auf § 132 Abs. 2 Nr. 1
VwGO. Die sich bei der Berechnung der Verkaufsfläche von
Einzelhandelsbetrieben stellende Rechtsfrage, ob hierzu auch außerhalb des
Gebäudes liegende Abstellflächen für Einkaufswagen gehören, ist eine solche des
Bundesrechts, die fallübergreifend klärungsfähig und klärungsbedürftig erscheint,
da sie in der Rechtsprechung der Oberverwaltungsgerichte unterschiedlich
beantwortet wird.
38
Beschluss vom 25. November 2015
39 Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird gemäß § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Nr.
9.1.4 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit auf 33.000,- EUR
(je Quadratmeter zusätzlicher Verkaufsfläche 150,- Euro) festgesetzt.
40 Dieser Beschluss ist unanfechtbar.