Urteil des VGH Baden-Württemberg vom 22.02.2017

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VGH Baden-Württemberg Beschluß vom 22.2.2017, 11 S 447/17
Durchführung der Abschiebung bei Suizidalität des Ausländers
Leitsätze
1. Die grund- und menschenrechtliche Verpflichtungen aus Art. 2 Abs. 2 GG und Art. 3 EMRK umfassen im Fall
einer Abschiebung deren Durchführung einschließlich einer - in Einzelfällen - erforderlichen Übergabe an
medizinisch hinreichend qualifiziertes Personal im Zielstaat der Abschiebung.
2. Es ist mindestens in jedem Fall, in dem eine Übergabe an medizinisches Personal im Zielstaat der Abschiebung
rechtlich erforderlich ist, eine kurze nicht automatisierte, zustimmende Antwort der Behörden des Zielstaats
notwendig, damit die deutschen Behörden davon ausgehen dürfen, alles Erforderliche in die Wege geleitet zu
haben. Es gilt der Grundsatz, dass rein abstrakte und pauschale Zusagen regelmäßig unzureichend sind, wenn
im Falle einer fehlenden Übergabe an medizinisches Personal oder nicht hinreichend qualifiziertes medizinisches
Personal die tatsächliche Gefahr einer lebensbedrohlichen Situation unmittelbar besteht.
Tenor
Auf die Beschwerde der Antragsteller wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 3. Februar
2017 - 10 K 7668/16 - geändert, soweit er die Anträge auf vorläufigen Rechtsschutz ablehnt.
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, die Abschiebung der Antragsteller
bis zum 15. März 2017 auszusetzen.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.
Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 10.000,- EUR festgesetzt.
Gründe
1 Die zulässige Beschwerde, über die der Senat aufgrund der Eilbedürftigkeit der Sache nach nur mündlicher
Anhörung des Antragsgegners entscheidet, ist begründet.
2 Zutreffend rügt die Beschwerde, dass „der Vortrag zur Übergabe an die mazedonischen Behörden dünn und
unsubstantiiert“ bleibe. Mit diesem Vorbringen ziehen die Antragsteller die Richtigkeit des angegriffenen
Beschlusses erfolgreich in Zweifel. Das Verwaltungsgericht ist der Auffassung, dass es in tatsächlicher
Hinsicht ausreichend sei, wenn es keine konkreten Anhaltspunkte dafür gebe, dass die mazedonischen
Behörden auf die erfolgte Information durch den Antragsgegner nicht reagierten. Solche Anhaltspunkte
konnte das Verwaltungsgericht nicht feststellen. Weder dieser Ansatz noch der von dem Antragsgegner
beschrittene Weg der Kommunikation mit den mazedonischen Behörden wird aber den aus Art. 2 Abs. 2 GG
und Art. 2 und 3 EMRK folgenden grundrechtlichen Verpflichtungen gerecht.
3 Den Antragstellern kommt entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts der erforderliche
Anordnungsanspruch zu.
4 Ein Anspruch auf Aussetzung der Abschiebung wegen rechtlicher Unmöglichkeit der Abschiebung (§ 60a Abs.
2 Satz 1 AufenthG) ist unter anderem gegeben, wenn die konkrete Gefahr besteht, dass sich der
Gesundheitszustand des Ausländers durch die Abschiebung selbst wesentlich oder gar lebensbedrohlich
verschlechtert, und wenn diese Gefahr nicht durch bestimmte Vorkehrungen ausgeschlossen oder gemindert
werden kann (VGH Bad.-Württ, Beschluss vom 06.02.2008 - 11 S 2439/07 -, InfAuslR 2008, 213 m.w.N.;
Hmb.OVG , Beschluss vom 13.01.2015 - 1 Bs 211/14). Diese Voraussetzungen können nicht nur erfüllt sein,
wenn und solange der Ausländer ohne Gefährdung seiner Gesundheit nicht transportfähig ist
(Reiseunfähigkeit im engeren Sinn), sondern auch, wenn die Abschiebung als solche - außerhalb des
Transportvorgangs - eine erhebliche konkrete Gesundheitsgefahr für den Ausländer bewirkt
(Reiseunfähigkeit im weiteren Sinn). Das dabei in den Blick zu nehmende Geschehen beginnt regelmäßig
bereits mit der Mitteilung einer beabsichtigten Abschiebung gegenüber dem Ausländer. Besondere
Bedeutung kommt sodann denjenigen Verfahrensabschnitten zu, in denen der Ausländer dem tatsächlichen
Zugriff und damit auch der Obhut staatlicher deutscher Stellen unterliegt. Hierzu gehören das Aufsuchen
und Abholen in der Wohnung, das Verbringen zum Abschiebeort sowie eine etwaige Abschiebungshaft
ebenso wie der Zeitraum nach Ankunft am Zielort bis zur Übergabe des Ausländers an die Behörden des
Zielstaats (BVerfG, Kammerbeschluss vom 17.09.2014 - 2 BvR 939/14 -, NVwZ 2014, 1511 Rn. 13; VGH
Bad.-Württ., Beschluss vom 06.02.2008 - 11 S 2439/07 -, InfAuslR 2008, 213).
5 Die mit der Abschiebung betraute Behörde hat die aus Art. 2 Abs. 2 GG erwachsende Pflicht, durch eine
hinreichende Ausgestaltung der tatsächlichen Durchführung der Abschiebung erhebliche Gefahren für Leib
und Leben des Betroffenen abzuwenden (BVerfG, Kammerbeschluss vom 17.09.2014 - 2 BvR 939/14 -,
NVwZ 2014, 1511 Rn. 10). Die grund- und menschenrechtliche Verpflichtungen deutscher Behörden
umfassen im Fall einer Abschiebung deren Durchführung einschließlich einer - in Einzelfällen - erforderlichen
Übergabe an medizinisch hinreichend qualifiziertes Personal im Zielstaat der Abschiebung (BVerfG,
Kammerbeschluss vom 17.09.2014 - 2 BvR 939/14 -, NVwZ 2014, 1511 Rn. 14; vgl. auch EGMR (GK), Urteil
vom 13.12.2016 - 41738/10 - < Paposhvili > Rn. 205). Aus der zitierten, neuesten Rechtsprechung des
Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Verfahren Paposhvili gegen Belgien geht überdies hervor,
dass Art. 3 EMRK vor einer Abschiebung, die zu einer ernsthaften, schnellen und irreversiblen
Verschlechterung des Gesundheitszustands, die zu schwerem Leiden oder einer erheblichen Verringerung
der Lebenserwartung führt, schützt (EGMR (GK), Urteil vom 13.12.2016 - 41738/10 - < Paposhvili > Rn.
183 unter teilweise Aufgabe anderslautender Rechtsprechung). Bei ernstlichen Zweifeln daran, ob eine
hinreichende Versorgung im Zielstaat der Abschiebung sichergestellt ist, ist der abschiebende Staat
gehalten, eine individuelle und hinreichende Zusicherung des Zielstaats einzuholen, um das Seinige getan
zu haben, sicherzustellen, dass die von der Abschiebung betroffene Person sich nicht in Umständen
wiederfindet, die mit den Vorgaben von Art. 3 EMRK nicht zu vereinbaren sind (EGMR (GK), Urteil vom
13.12.2016 - 41738/10 - < Paposhvili > Rn. 191).
6 Ausgehend hiervon ist die Abschiebung der Antragstellerin zu 1 derzeit deshalb rechtlich unmöglich, weil ihr
im Falle der Abschiebung eine konkrete und erhebliche Gesundheitsgefahr droht und es an hinreichenden
Vorkehrungen zur Minimierung etwaiger Gesundheitsgefahren fehlt.
7 Ausweislich des formularmäßigen Vermerks des Antragsgegners von 3. November 2016 „muss sichergestellt
werden, dass [die Antragstellerin zu 1] durch entsprechende Überwachung nicht in der Lage ist, sich
umzubringen“. Es soll bei den mazedonischen Behörden angemeldet werden, dass die Antragstellerin zu 1
suizidgefährdet sei und ärztlich in Empfang genommen werde. Zur Umsetzung dieser vom Antragsgegner -
unter Zugrundelegung der in den Behördenakten vorhandenen ärztlichen Stellungnahmen zu Recht - für
erforderlich gehaltenen Maßnahmen hat dieser mit E-Mail vom 23. Januar 2017 an zwei Empfänger bei den
zuständigen Behörden Mazedoniens die Diagnosen der Antragstellerin zu 1 mit der Bitte, „sicherzustellen,
dass die Person nach Ankunft am Flughafen Skopje von einem Arzt in Empfang genommen wird“, übersandt.
Sodann findet sich in den Akten eine automatisch generierte Antwort folgenden Inhalts:
8
„Die Zustellung an diese Empfänger oder Gruppen ist abgeschlossen. Vom Zielserver wurde keine
Zustellungsbenachrichtigung gesendet [zwei E-Mail-Adressen des mazedonischen Innenministeriums]“
9 Diese automatisierte Antwort ist angesichts des auch vom Antragsgegner angenommenen Risikos bei der
Abschiebung für die Antragstellerin zu 1 auf keinen Fall geeignet, eine hinreichende Ausgestaltung der
tatsächlichen Durchführung der Abschiebung zur Vermeidung erheblicher Gefahren für Leib und Leben des
Betroffenen zu belegen. Denn dieses - vom Antragsgegner nach eigenem Vorbringen regelmäßig
angewandtes - System kennt keine Vorkehrungen gegen technische Pannen oder menschliches Versagen,
die dazu führen könnten, dass die Ankündigung nicht oder nur unzureichend wahrgenommen oder den
Aufforderungen nachgekommen wird. Weder ist sichergestellt, dass die Nachricht tatsächlich gelesen wird
und nicht aus Versehen durch einen spam-Filter aussortiert wird, noch ist gewährleistet, dass die Nachricht
tatsächlich gelesen und verarbeitet und nicht etwa versehentlich durch den Bearbeiter in Mazedonien
gelöscht wird. Deshalb ist mindestens in jedem Fall, in dem eine Übergabe an medizinisches Personal im
Zielstaat der Abschiebung rechtlich erforderlich ist, eine kurze nicht automatisierte, zustimmende Antwort
der Behörden des Zielstaats notwendig, damit die deutschen Behörden davon ausgehen dürfen, alles
Erforderliche in die Wege geleitet zu haben. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass es nach dem
Vortrag des Antragsgegners bislang keine Probleme mit dem praktizierten gemeinsamen Verfahren mit
Mazedonien gegeben habe. Denn die Anwendung eines solchen Erfahrungssatz allein wird mit Blick auf die
offenkundig fehlenden Vorkehrungen gegen technische Pannen oder menschliches Versagen dem gebotenen
Schutz des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit nicht gerecht. Ein Vertrauen in ein
regelmäßiges Funktionieren der Kooperation reicht nicht aus. Es ist das Funktionieren der Kooperation in
jedem Einzelfall sicherzustellen, um das Leben und die körperliche Unversehrtheit des Betroffenen
bestmöglich zu schützen.
10 Ob und wann über ein kurze zustimmende Antwort hinaus konkrete, einzelfallbezogene Zusicherungen
erforderlich sind, bedarf hier keiner Entscheidung. Allerdings gilt der Grundsatz, dass rein abstrakte und
pauschale Zusagen regelmäßig dann unzureichend sind, wenn die tatsächliche Gefahr einer
lebensbedrohlichen Situation im Falle einer fehlenden Übergabe an medizinisches Personal oder nicht
hinreichend qualifiziertes medizinisches Personal unmittelbar besteht (vgl. OVG LSA, Beschluss vom
21.06.2016 - 2 M 16/16 -, Asylmagazin 2016, 437).
11 Zur hinreichenden Sicherstellung und Dokumentation (vgl. zur Bedeutung der Dokumentation als
verfahrensbegleitende und grundrechtssichernde Maßnahme BVerfG, Kammerbeschluss vom 09.07.2007 - 2
BvR 206/07 -, NVwZ 2007, 1178) ist nach Auffassung des Senats voraussichtlich eine Aussetzung der
Abschiebung bis zum 15. März 2017 ausreichend. Zur Vorbeugung von Missverständnissen weist der Senat
aber darauf hin, dass auch nach Ablauf des 15. März 2017 eine Abschiebung nur dann rechtlich zulässig sein
kann, wenn sie den oben aufgeführten Maßstäben gerecht wird.
12 Eine weitergehende Aussetzung der Abschiebung ist - auch mit Blick auf den Gesundheitszustand der
Antragstellerin zu 1 - derzeit rechtlich nicht geboten. Insbesondere sind die von der Antragstellerin zu 1
vorgelegten ärztlichen Stellungnahmen auch nach Auffassung des Senats nicht geeignet, die Auffassung der
Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie des Fachbereichs Gesundheit der Stadt Mannheim in Zweifel zu
ziehen. Allerdings weist der Senat hier darauf hin, dass - je nach Zeitablauf - für den Fall eines erneuten
Abschiebungsversuchs eine zeitlich aktuelle Stellungnahme einzuholen sein kann.
13 Für die Antragsteller zu 2 bis zu 4 ergibt sich die Unmöglichkeit ihrer Abschiebung aus Art. 6 Abs. 1 GG.
14 Die Kostenfolge ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO, die Streitwertfestsetzung aus den §§ 47, 53 Abs. 2 Nr.
1, 52 Abs. 1 GKG.
15 Der Beschluss ist unanfechtbar.