Urteil des VGH Baden-Württemberg vom 04.11.2009

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VGH Baden-Württemberg Urteil vom 4.11.2009, 11 S 2472/08
Verlust eines unbefristeten Aufenthaltsrechts durch nicht lediglich formell rechtswidrige Ausweisung kann bei Wirkungslosigkeit einer
Befristung einen Anspruch auf Rücknahme der Ausweisung begründen
Leitsätze
1. Begehrt ein Ausländer der zweiten Generation, der ein unbefristetes Aufenthaltsrecht erworben hatte und bei dem die Befristung der Wirkungen
der Ausweisung mangels Rückkehrrecht ohne praktische Wirkung bleibt, die Rücknahme der ihm gegenüber erlassenen, nicht lediglich formell
rechtswidrigen Ausweisung, so ist unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls sorgfältig zu prüfen, ob die Aufrechterhaltung der
Ausweisung schlechthin unerträglich und das Rücknahmeermessen auf Null reduziert ist.
2. Bei dieser Prüfung sind auch die aktuellen Lebensumstände des Ausländers mit in den Blick zu nehmen, soweit noch ein
Ursachenzusammenhang mit der Ausweisung besteht.
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 13. Juni 2008 - 5 K 1766/06 - geändert. Der Beklagte wird unter
Aufhebung des Bescheides des Regierungspräsidiums Freiburg vom 27. September 2006 verpflichtet, dessen Ausweisung in Nr. I der Verfügung
vom 12. November 1998 zurückzunehmen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
1
Der Kläger begehrt die Rücknahme seiner 1998 verfügten Ausweisung.
2
Der am … 1977 in ... als Kind eines türkischen Arbeitnehmers geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger. Seine Mutter starb kurz nach
seiner Geburt. Er wuchs zusammen mit seinen zwei älteren Geschwistern im Haushalt seines Vaters, der 1978 ein zweites Mal heiratete, auf.
1993 erlangte er den Hauptschulabschluss. Eine Berufsausbildung absolvierte er nicht. Er arbeitete gelegentlich jeweils für wenige Monate bei
unterschiedlichen Arbeitgebern, unterbrochen von Zeiten der Arbeitslosigkeit. Bis zum 30.08.1997 war er im Besitz einer befristeten
Aufenthaltserlaubnis, deren Verlängerung er am 27.08.1997 beantragt hatte.
3
Strafrechtlich trat der Kläger wie folgt in Erscheinung:
4
1. Amtsgericht ..., Urteil vom 22.06.1994: Hehlerei, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit Bedrohung und
Hausfriedensbruch.
Schuldspruch nach § 27 JGG, zwei Jahre Bewährungszeit.
Datum der letzten Tat: 25.12.1993
2. Amtsgericht ..., Urteil vom 08.03.1995: Diebstahl, Hehlerei, Sachbeschädigung.
Ein Jahr Jugendstrafe unter Einbeziehung von Nr. 1.
Datum der letzten Tat: 11.10.1994
3. Amtsgericht ..., Urteil vom 08.07.1998: Hausfriedensbruch in zwei Fällen, versuchter Diebstahl.
Ein Jahr und neun Monate Jugendstrafe unter Einbeziehung von 2.
Zur Finanzierung seiner Drogensucht hatte der Kläger in einer Gaststätte mit einer Nagelfeile die Tür zu einer Geldkassette an einem
Tischfußballgerät geöffnet, um sich das darin befindliche Bargeld anzueignen. Dies wurde durch eine Überwachungskamera beobachtet
und der Kläger wurde sofort zur Rede gestellt. Das daraufhin durch den Inhaber der Gaststätte ausgesprochene Hausverbot ignorierte er.
Datum der letzten Tat: 16.01.1998
5
Vom 03.04.1995 bis 01.12.1995 sowie vom 23.07.1998 bis zu seiner Abschiebung am 22.02.1999 befand sich der Kläger in Strafhaft. Mit
Beschluss vom 22.12.2005 wurde ihm nach Ablauf der Bewährungsfrist die zuvor bereits zur Bewährung ausgesetzte Restjugendstrafe aus dem
Urteil des Amtsgerichts ... vom 08.07.1998 erlassen.
6
Jedenfalls seit 1997 war der Kläger von harten Drogen abhängig. Im Juni 1998 unterzog er sich einer stationären Drogenentgiftung.
7
Mit Bescheid vom 12.11.1998 wies das Regierungspräsidium Freiburg den Kläger aus dem Bundesgebiet aus (I.), lehnte die Verlängerung der
Aufenthaltserlaubnis ab (II.) und drohte ihm die Abschiebung in die Türkei an (III.). Zur Begründung wurde ausgeführt, die Voraussetzungen einer
Ausweisung nach §§ 45, 46 Nr. 2 AuslG lägen vor und der Kläger genieße keinen besonderen Ausweisungsschutz nach § 48 AuslG. Über die
Ausweisung sei nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden. Das öffentliche Interesse an der Ausweisung und Entfernung aus dem
Bundesgebiet überwiege, weil die weitere Anwesenheit des Klägers eine erhebliche Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung
darstelle. Durch sein Verhalten habe er gezeigt, dass er nicht bereit sei, das geltende Recht zu beachten. Im Alter von siebzehn Jahren sei er
erstmals wegen Hehlerei, Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit Bedrohung und Hausfriedensbruchs strafrechtlich zur
Verantwortung gezogen worden. In der Folgezeit sei er wegen weiterer Eigentumsdelikte in Form von Einbruchsdiebstählen straffällig geworden.
Die Erlöse habe er mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Erwerb von Drogen verwendet, da er seit Jahren auch harte Drogen konsumiere. Zwar
hätten zerrüttete Familienverhältnisse zu der Drogensucht geführt, in der Vergangenheit seien jedoch weder die Unterstützung durch
Bewährungshelfer noch Therapieangebote wahrgenommen worden. Daher sei davon auszugehen, dass er aufgrund seiner Drogenabhängigkeit
auch weiterhin Straftaten begehen werde. Die Häufigkeit der im Wege der Beschaffungskriminalität begangenen Straftaten zeige auch, dass die
strafrechtlichen Sanktionen keinerlei Eindruck hinterlassen hätten. Die Ausweisung sei auch nicht unverhältnismäßig. Die Eltern des Klägers
seien erst im Alter von 30 Jahren in das Bundesgebiet eingereist. Der Vater sei laut den Feststellungen des Amtsgerichts Rottweil überzeugter
Moslem. Mit hoher Wahrscheinlichkeit sei davon auszugehen, dass der Kläger und seine Geschwister im moslemischen Glauben und in
türkischer Sprache erzogen worden seien. Selbst wenn der Kläger noch nicht in der Türkei gewesen sei, sei es ihm zuzumuten, sich dort
einzugliedern. Aufgrund der zerrütteten Familienverhältnisse, die mitursächlich für seine Straffälligkeit seien, bestehe keine Aussicht auf seine
Wiedereingliederung in die deutsche Gesellschaft. Da der Kläger selbst noch keine eigenen gefestigten Beziehungen aufgebaut habe, könne bei
ihm nicht von einer günstigen Zukunftsprognose ausgegangen werden. Neben spezialpräventiven Erwägungen sprächen auch
generalpräventive Gesichtspunkte für die Ausweisung. Art. 6 GG und Art. 8 EMRK stünden der Ausweisung nicht entgegen. Die Ausweisung
verstoße auch nicht gegen Gemeinschaftsrecht. Ein besonderer Ausweisungsschutz nach Art. 14 ARB 1/80 bestehe nicht.
8
Der mit einer ordnungsgemäßen Rechtsbehelfsbelehrung versehene Bescheid wurde von dem Kläger nicht angefochten.
9
Am 22.02.1999 wurde der Kläger in die Türkei abgeschoben, wo er zunächst den Wehrdienst absolvierte.
10 Mit Bescheid vom 09.07.2002 befristete das Regierungspräsidium Freiburg nach Vorlage eines türkischen Strafregisterauszugs und Begleichung
der Abschiebungskosten in Höhe von 1.904,24 EUR die Wirkungen der am 12.11.1998 verfügten Ausweisung und der am 22.02.1999 erfolgten
Abschiebung auf sofort.
11 Am 20.06.2003 stellte der Kläger bei der Deutschen Botschaft in Ankara einen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 16 AuslG (§
37 AufenthG). Nach der Ablehnung dieses Antrags erhob er Klage vor dem Verwaltungsgericht Berlin, nahm diese jedoch nach einem Hinweis
des Gerichts zu den fehlenden Erfolgsaussichten in der mündlichen Verhandlung vom 02.06.2005 zurück.
12 Mit Schreiben vom 24.10.2005 beantragte der Kläger beim Regierungspräsidium Freiburg die Rücknahme der Ausweisungsverfügung vom
12.11.1998, hilfsweise das Wiederaufgreifen des Ausweisungsverfahrens. Zwar sei die Sperrwirkung befristet worden, er habe jedoch ein
Interesse an der Rücknahme der materiell rechtswidrigen Entscheidung, da ihm sonst eine dauerhafte Rückkehr versagt sei.
13 Mit Bescheid vom 27.09.2006 lehnte das Regierungspräsidium Freiburg die Anträge auf Rücknahme der Ausweisungsverfügung und
Wiederaufgreifen des Verfahrens ab und führte zur Begründung unter anderem aus, ein Anspruch auf Rücknahme sei nur bei einer
Ermessensreduzierung auf Null gegeben, die hier nicht vorliege. Im Hinblick auf das Gebot der materiellen Gerechtigkeit bestehe nur dann ein
Anspruch auf Rücknahme eines bestandskräftigen Bescheids, wenn dessen Aufrechterhaltung „schlechthin unerträglich“ sei. Dies hänge von
den Umständen des Einzelfalls ab. Auch das Gemeinschaftsrecht verlange grundsätzlich nicht die Rücknahme. Die Verpflichtung, einen
bestandskräftigen Verwaltungsakt erneut zu überprüfen, könne bestehen, wenn sich zwischenzeitlich seine Unvereinbarkeit mit
Gemeinschaftsrecht herausgestellt habe, sofern der Betroffene den Verwaltungsakt unter Berufung auf das Gemeinschaftsrecht angefochten
habe, das Gericht die Klage aber - ohne die Herbeiführung einer nach Art. 234 EG gebotenen Vorabentscheidung - abgewiesen habe. Dies habe
der Kläger versäumt, so dass auch gemeinschaftsrechtlich kein Rücknahmeanspruch bestehe. Auch bei der Ausübung des Ermessens nach § 48
LVwVfG sei zu berücksichtigen, dass der Kläger die Ausweisungsverfügung nicht mit Rechtsbehelfen angegriffen und sie so der Überprüfung
einer Vereinbarkeit mit Gemeinschaftsrecht zugeführt habe. Demnach bestehe keine Veranlassung, die Ausweisungsentscheidung
zurückzunehmen.
14 Am 11 10.2008 hat der Kläger Klage erhoben mit dem Antrag, den Beklagten unter Aufhebung seiner Verfügung vom 27.09.2006 zu verpflichten,
die Ausweisungsverfügung vom 12.11.1998 zurückzunehmen, hilfsweise den Beklagten zu verpflichten, das Ausweisungsverfahren wieder
aufzugreifen und hierüber unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.
15 Der Beklagte ist der Klage entgegengetreten und hat seine Ermessenserwägungen ergänzt. Er führt aus, es könne unterstellt werden, dass dem
Kläger als Kind eines türkischen Arbeitnehmers ein besonderer Ausweisungsschutz zugestanden habe, so dass seine hilfsweise Ausweisung
aus generalpräventiven Gründen unter Zugrundelegung der heutigen höchstrichterlichen Rechtsprechung als materiell rechtswidrig anzusehen
sei. Eine formelle Rechtswidrigkeit liege hingegen nicht vor. Der Umstand, dass der Kläger trotz Befristung der Sperrwirkungen der Ausweisung
und Abschiebung nur noch zu Besuchszwecken einreisen dürfe, könne zu keinem anderen Ergebnis führen. Insoweit sei zu berücksichtigen,
dass die Rechte aus Art. 6, 7 ARB 1/80 bei längerfristiger Ausreise erlöschen könnten. Es werde nicht verkannt, dass der in Deutschland
geborene und aufgewachsene Kläger auch im Hinblick auf seine familiären Bindungen ein besonderes persönliches Interesse daran habe, sich
dauerhaft hier aufhalten zu können. Entscheidend gegen eine Rücknahme spreche aber, dass die Ausweisungsentscheidung nicht offensichtlich
rechtswidrig gewesen sei und dass selbst unter Anwendung der heutigen Maßstäbe der höchstrichterlichen Rechtsprechung eine fehlerfreie
Ausweisung aus spezialpräventiven Gründen möglich gewesen wäre. Der Kläger habe über mehrere Jahre Straftaten von erheblicher Schwere
begangen und sich frühere Verurteilungen nicht als Warnung dienen lassen. Die Straftaten könnten auch nicht als jugendliche Verfehlungen
gesehen werden, zumal sie vor dem Hintergrund einer nicht unerheblichen langjährigen Drogenabhängigkeit zu sehen seien, so dass man im
Ausweisungszeitpunkt von einer gesteigerten Wiederholungsgefahr habe ausgehen dürfen. Der Kläger sei damals bereits 21 Jahre alt gewesen
und habe über keine besonderen Bindungen verfügt. Die Drogensucht und die Straffälligkeit des Klägers belegten seine fehlende Integration.
Die entfallene Wiederholungsgefahr sei bereits im Rahmen der Befristungsentscheidung berücksichtigt worden. Das Festhalten an der
Bestandskraft der Ausweisung sei auch unter Berücksichtigung der persönlichen Situation des Klägers mit Art. 8 EMRK vereinbar.
16 Das Verwaltungsgericht Freiburg hat die Klage mit Urteil vom 13.06.2008 als unbegründet abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen
ausgeführt: Der Kläger habe weder einen Anspruch auf Rücknahme der Ausweisungsverfügung vom 12.11.1998, noch auf Neubescheidung
seines Rücknahmebegehrens. Die Ausweisungsverfügung sei zwar zum Zeitpunkt ihres Erlasses materiell rechtswidrig gewesen, weil das
Regierungspräsidium Freiburg zu Unrecht davon ausgegangen sei, das der Kläger wegen seiner Inhaftierung nicht mehr über die zuvor
bestehende Rechtsposition aus Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 verfügt habe, weshalb kein besonderer Ausweisungsschutz nach Art. 14 ARB 1/80
angenommen und die Ausweisung auch generalpräventiv begründet worden sei. Nach der neueren Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts und des EuGH berühre indes auch eine längere Strafhaft die Rechte aus Art. 6 und 7 ARB 1/80 nicht, zudem lasse
das Gemeinschaftsrecht nur eine Ausweisung aus spezialpräventiven Gründen zu. Aus der Rechtswidrigkeit der Ausgangsverfügung folge
jedoch kein Anspruch auf deren Rücknahme. Der Behörde sei insoweit Ermessen eingeräumt. Ein Anspruch bestehe nur bei einer
Ermessensreduzierung auf Null, die hier nicht gegeben sei. Der Kläger habe auch keinen Anspruch auf Neubescheidung seines Antrags auf
Rücknahme der Ausweisungsentscheidung. Ermessensfehler seien nicht ersichtlich.
17 Auf Antrag des Klägers hat der Senat mit Beschluss vom 01.09.2008 die Berufung zugelassen. Zur Begründung der Berufung trägt der Kläger im
Wesentlichen vor: Nach der Rechtsprechung des EGMR seien die seiner Ausweisung zugrunde liegenden Straftaten nicht als so gewichtig
anzusehen, dass sie bei einem in Deutschland geborenen und bis zur Ausweisung in Deutschland aufgewachsenen jungen Erwachsenen als
Grundlage für die Ausweisung herangezogen werden dürften. Die Drogenabhängigkeit sei nach Auffassung des EGMR vorrangig durch
Therapie und nicht durch Ausweisung zu bekämpfen. Neben der formellen und materiellen Rechtswidrigkeit sei auch die dauerhafte Wirkung der
Ausweisungsverfügung zu berücksichtigen. Diese stelle sich für ihn als eine lebenslängliche Entfernung aus dem als Heimat empfundenen Land
dar. Die Befristung verhelfe ihm allenfalls zu Besuchsvisa, eine dauerhafte Rückkehr sei ihm verwehrt. Diese Aspekte machten das Ergebnis der
angefochtenen Ermessensentscheidung schlechthin unerträglich. Sein Wohnort in der Türkei sei ein kleines Dorf, welches etwa 30 km von der
Kreisstadt Pazarcik entfernt liege. Als Wohnraum stehe ihm ein Zimmer zur Verfügung. Er lebe allein. Nähere Familienangehörige habe er in der
Türkei nicht. Nach seiner Abschiebung habe er zunächst den Wehrdienst absolviert. Danach sei er bis 2003 als Tagelöhner in der
Landwirtschaft, auf Baustellen und für eine Saison auch als Kellner in einem der Touristikzentren beschäftigt gewesen. Krankenversichert sei er
seit Oktober 2004, als er als Saisonarbeiter in einer Baumwollfabrik beschäftigt wurde. Arbeit in dieser Fabrik gebe es zwar nur für ein bis drei
Monate im Jahr; die damit verbundene Krankenversicherung sei jedoch das ganze Jahr über gültig. In den übrigen Zeiten verdinge er sich
weiterhin als Tagelöhner in der Landwirtschaft. Sein Einkommen genüge für eine sehr bescheidene Existenz. Unterstützt werde er zusätzlich
durch gelegentliche Geldüberweisungen seines in Deutschland lebenden Bruders ... .... Er habe sich trotz seines inzwischen zehnjährigen
Aufenthaltes in der Türkei nicht einleben können. Er denke und fühle wie seine in Deutschland verbliebenen Geschwister deutsch. Die türkische
Kultur sei ihm fremd. Seine Grundstimmung sei depressiv. Drei Versuche, ein Besuchervisum zu erhalten, seien erfolglos geblieben. Aus Sicht
der deutschen Auslandsvertretung habe wegen seiner fehlenden Verwurzelung in der Türkei keine hinreichende Rückkehrbereitschaft
bestanden. Geschmerzt habe ihn insbesondere, dass er seinen Vater vor dessen Tod im Mai 2008 nicht mehr habe besuchen können.
18 Der Kläger beantragt,
19
das Urteil des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 13.06.2008 - 5 K 1766/06 - zu ändern und den Beklagten unter Aufhebung des
Bescheides des Regierungspräsidiums Freiburg vom 27.09.2006 zu verpflichten, dessen Ausweisungsverfügung vom 12.11.1998
zurückzunehmen;
20 Der Beklagte beantragt,
21
die Berufung des Klägers zurückzuweisen.
22 Zur Begründung verweist er auf die angefochtene Verfügung vom 27.09.2006, sein bisheriges Vorbringen sowie das angefochtene Urteil und
trägt ergänzend vor: Der Kläger sei nicht als Minderjähriger ausgewiesen und abgeschoben worden. Die letzte Verurteilung sei zwar nach
Jugendstrafrecht erfolgt, der Kläger sei zum damaligen Zeitpunkt aber bereits erwachsen gewesen.
23 Der Kläger ist in der Berufungsverhandlung angehört worden und hat ergänzend angegeben: Er lebe in der Türkei bei der Familie seines Onkels
mütterlicherseits, der letztes Jahr verstorben sei. Er habe diese Leute kaum gekannt, weil er lediglich als Kleinkind dreimal im Urlaub dort
gewesen sei. Sie hätten ihm in dem Dorf einen Abstellraum in einer Art Scheune als Schlafplatz zur Verfügung gestellt. Eine Freundin habe er
nicht. Er sei in dem Dorf ein Außenseiter, auch gegenüber den Verwandten komme er sich wie ein Bittsteller vor. Die engsten Kontakte unterhalte
er zu seinen älteren Brüdern, die in Deutschland lebten und zwischenzeitlich deutsche Staatsbürger seien. Nach dem Militärdienst sei er an
Gelbsucht erkrankt und habe nicht angemessen behandelt werden können, weil er damals nicht krankenversichert gewesen sei. Bei einer
Rückkehr nach Deutschland könne er bei seinem Bruder ... ... unterkommen. Er wolle sich auch Arbeit suchen, am liebsten in der
Metallverarbeitung. In dem Dorf, in dem er gelebt habe, habe es keine Möglichkeit gegeben, einen Beruf zu erlernen. Anderswo in der Türkei
habe er nicht Fuß fassen können. Er spreche neben deutsch einigermaßen kurdisch; sein türkisch sei nicht so gut. Für eine Saison sei er an der
Südküste im Raum Antalya gewesen, um im Tourismus zu arbeiten. Er sei jedoch mit dem Geschäftsgebaren in der Tourismusbranche, welches
nur darauf ausgerichtet sei, die Touristen zu übervorteilen und den größtmöglichen Profit zu erzielen, nicht zurechtgekommen. Dies habe ihn
abgestoßen, so dass er es vorgezogen habe, bei der Verwandtschaft auf dem Dorf zu bleiben.
24 Dem Senat liegen die einschlägigen Akten des Beklagten und des Verwaltungsgerichts Freiburg vor. Hierauf sowie auf die Gerichtsakten wird
wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
I.
25 Die Berufung ist nach Zulassung durch den Senat statthaft und auch sonst zulässig. Die Berufungsbegründungsschrift wurde form- und
fristgemäß beim Verwaltungsgerichtshof eingereicht (vgl. § 124 a Abs. 6 Satz 1 und 2 VwGO) und entspricht auch inhaltlich den gesetzlichen
Anforderungen (bestimmter Antrag, ausreichende Begründung; vgl. § 124 a Abs. 6 Satz 3 i.V.m. Abs. 3 Satz 4 VwGO). Gegenstand der
uneingeschränkt zugelassenen Berufung ist allein der in erster Instanz mit dem Hauptantrag verfolgte Anspruch auf Rücknahme der Ausweisung,
nachdem der Kläger in der Berufungsverhandlung klargestellt hat, das vor dem Verwaltungsgericht hilfsweise geltend gemachte Begehren auf
Wiederaufgreifen des Verfahrens nicht weiter zu verfolgen.
II.
26 Die Berufung ist auch begründet. Über die zulässige Verpflichtungsklage, für die dem Kläger ein Rechtsschutzbedürfnis zur Seite steht (unten 1.),
ist unter Zugrundelegung der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung bzw., soweit es um die Frage der
Rechtswidrigkeit der Ausweisung geht, unter Zugrundelegung der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt des Erlasses der Ausweisungsverfügung
zu entscheiden (unten 2.). Die Ausweisung erweist sich als rechtswidrig, so dass das Rücknahmeermessen nach § 48 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG
eröffnet ist (unten 3.). Der Kläger hat einen Anspruch auf Verpflichtung des Beklagten zur Rücknahme der Ausweisung, weil deren
Aufrechterhaltung ihn schwer und unerträglich hart trifft und daher das Rücknahmeermessen auf Null reduziert ist (vgl. § 113 Abs. 5 Satz 1
VwGO; unten 4.).
27 1. Die Klage ist als Verpflichtungsklage zulässig. Insbesondere besteht das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis, weil die Ausweisung trotz der
bereits 2002 erfolgten Befristung ihrer gesetzlichen Wirkungen in Bezug auf das Recht des Klägers, in das Bundesgebiet einzureisen und sich
darin aufzuhalten, weiterhin belastende Regelungswirkungen entfaltet. Wird sie rückwirkend aufgehoben, lebt die Rechtsstellung des Klägers
aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 wieder auf und ihm ist auf entsprechenden Antrag eine Aufenthaltserlaubnis nach § 4 Abs. 5 AufenthG auszustellen.
Der Vater des Klägers hat dem regulären Arbeitsmarkt angehört. Der in Deutschland geborene Kläger, der bis zum 30.08.1997 im Besitz einer
Aufenthaltserlaubnis war, deren Verlängerung er rechtzeitig beantragt hatte, hat mit seinem Vater mehr als fünf Jahre in häuslicher Gemeinschaft
gelebt, so dass die Voraussetzungen des Art. 7 Satz 1 2. Spiegelstrich ARB 1/80 erfüllt sind (vgl. zur Geltung des Art. 7 Satz 1 ARB 1/80
entsprechend für ein Kind, das im Mitgliedstaat geboren ist und stets dort gewohnt hat: EuGH, Urt. v. 11.11.2004 - C-467/02 - [Cetinkaya] - Slg.
2004, I-10895 = InfAuslR 2005, 13). Seine Volljährigkeit im Zeitpunkt der Ausweisung änderte an der unmittelbar aus dem ARB 1/80 folgenden
Rechtsposition ebenso wenig etwas, wie die ab 23.07.1998 erfolgte Verbüßung von Strafhaft (zu diesen Einzelheiten des Aufenthaltsrechts nach
Art. 7 ARB 1/80 vgl. EuGH, Urt. v. 07.07.2005 - C-373/03 [Aydinli] - Slg. 2005, I-6181 = InfAuslR 2005, 352; ferner EuGH, Urt. v. 16.01.2006 - C-
502/04 [Torun] - Slg. 2006, I-1563 = InfAuslR 2006, 209). Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 vermittelt im Ergebnis ein Daueraufenthaltsrecht, da die
Rechtsposition nach dieser Vorschrift nach der mittlerweile gefestigten Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften nur
unter zwei Voraussetzungen beschränkt werden darf: Entweder stellt die Anwesenheit des Assoziationsberechtigten im Hoheitsgebiet des
Aufnahmemitgliedstaates wegen seines persönlichen Verhaltens eine tatsächliche und schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung,
Sicherheit oder Gesundheit im Sinne von Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 dar, oder der Betroffene hat das Hoheitsgebiet dieses Staates für einen nicht
unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe verlassen (vgl. EuGH, Urt. v. 16.03.2000 - C-329/97 [Ergat] - Slg. 2000, I-1487 Rn. 45, 46 und
48 und Urt. v. 18.12.2008 - C-337/07 [Altun] - NVwZ 2009, 235 Rn. 62). Dabei ist grundsätzlich vom abschließenden Charakter der beiden
genannten Verlustgründe auszugehen (BVerwG, Urt. v. 09.08.2007 - 1 C 47.06 - BVerwGE 129, 162 Rn. 15 und Urt. v. 30.04.2009 - 1 C 6.08 -
NVwZ 2009, 1162 Rn. 24). Daraus folgt, dass ein gemäß Art. 7 ARB 1/80 assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger sein
Aufenthaltsrecht nicht allein deshalb verlieren kann, weil er wegen der Verurteilung zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe keine Beschäftigung
ausgeübt hat und dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stand; denn die Rechtsstellung der in Art. 7 ARB 1/80 genannten Familienangehörigen
hängt nicht von der Ausübung einer Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis ab (EuGH, Urt. v. 25.09.2008 - C-453/07 [Er] - NVwZ 2008, 1337
Rn. 31 f.; BVerwG, Urt. v. 30.04.2009 - 1 C 6.08 - a.a.O.). Hier ist die Rechtsstellung durch das Verlassen des Bundesgebiets und den mittlerweile
zehnjährigen Aufenthalt des Klägers in der Türkei nicht erloschen, weil er nicht freiwillig aus einem berechtigten Grund ausgereist ist, sondern
aufgrund einer nicht vom Vorbehalt nach Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 gedeckten rechtswidrigen Ausweisung (siehe unten 3. c)) gegen seinen Willen
abgeschoben wurde und nach Absolvierung des Militärdienstes kontinuierlich von allen rechtlich in Betracht kommenden Möglichkeiten zur
Wiedererlangung seines Aufenthaltsrechts Gebrauch gemacht hat. Er hat konsequent seine Rückkehr nach Deutschland betrieben und zu
keinem Zeitpunkt zu erkennen gegeben, dauerhaft in der Türkei bleiben zu wollen.
28 2. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage des mit der Verpflichtungsklage geltend gemachten Anspruchs auf
Rücknahme einer bestandskräftigen Ausweisungsverfügung ist der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung bzw. - wenn die Entscheidung
ohne mündliche Verhandlung ergeht - der Zeitpunkt, in dem die Entscheidung gefällt wird (BVerwG, Urteil v. 23.10.2007 - 1 C 10.07 - BVerwGE
129, 367 = InfAuslR 2008, 116 = NVwZ 2008, 326 = EZAR NF 48 Nr. 9). Abweichend hiervon kommt es für die im Rahmen des § 48 Abs. 1 Satz 1
LVwVfG entscheidungserhebliche Frage der Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit der bestandskräftig gewordenen Ausweisung auf den
Zeitpunkt des Erlasses der Ausweisungsverfügung an (siehe unten 3. b)).
29 3. a) Die Rücknahme einer Ausweisung gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG ist neben der Befristung ihrer gesetzlichen Wirkungen gemäß § 11
Abs. 1 Satz 3 bis 6 AufenthG bzw. § 7 Abs. 2 Satz 2 und 3 FreizügG/EU möglich; denn die Rechtsgrundlagen von Rücknahme und Befristung
unterscheiden sich sowohl in den Voraussetzungen als auch in den Rechtsfolgen (BVerwG, Urt. v. 07.12.1999 - 1 C 13.99 - BVerwGE 110, 140
<143>; Senatsurteil vom 19.12.2008 - 11 S 1453/07 - VBlBW 2009, 274).
30 b) Die Rücknahmevoraussetzung der Rechtswidrigkeit i.S.d. § 48 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG ist grundsätzlich dann gegeben, wenn der
Verwaltungsakt, um dessen Aufhebung gestritten wird, zum Zeitpunkt seines Erlasses einer Rechtsgrundlage entbehrte (BVerwG, Urt. v.
23.10.2007 - 1 C 10.07 - BVerwGE 129, 367 = InfAuslR 2008, 116 = NVwZ 2008, 326 = EZAR NF 48 Nr. 9; Beschl. v. 07.07.2004 - 6 C 24.03 -
BVerwGE 121, 226 <229> m.w.N.; VGH Bad.-Württ., Urt. v. 24.01.2007 – 13 S 451/06 - InfAuslR 2007, 182 = EZAR NF 93 Nr. 3). Da der Kläger
die Ausweisung nicht angefochten hatte, steht § 121 VwGO ihrer gerichtlichen Inzidentprüfung im Rahmen des § 48 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG nicht
entgegen (vgl. dazu Senatsurteil vom 30.04.2008 - 11 S 759/06 - VBlBW 2009, 32).
31 c) Die Ausweisung war zum Zeitpunkt ihres Erlasses sowohl formell als auch materiell rechtswidrig.
32 aa) In formeller Hinsicht wurde die Verfahrensvorschrift des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG nicht beachtet. Diese Vorschrift ist vorliegend
anzuwenden, da die Richtlinie 64/221/EWG durch die Richtlinie 2004/38/EG erst mit Wirkung vom 30.04.2006 (vgl. Art. 38 Abs. 2 RL 2004/38/EG)
aufgehoben wurde. Die formelle Rechtmäßigkeit von Verfügungen gegen den von Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG erfassten Personenkreis ist nach
dem Grundsatz des intertemporalen Verwaltungsverfahrensrechts, dass neues Verfahrensrecht auf abgeschlossene Verwaltungsverfahren keine
Anwendung findet, nach der Rechtslage zur Zeit der letzten Behördenentscheidung zu prüfen (VGH Bad.-Württ., Urt. v. 18.10.2006 – 13 S 192/06
– InfAuslR 2007, 49 = EZAR NF 19 Nr. 18).
33 In Ausweisungsverfahren gegen Unionsbürger und assoziationsrechtlich privilegierte türkische Staatsangehörige wurde - außer in dringenden
Fällen - Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG verletzt, wenn weder ein Widerspruchsverfahren stattfand noch sonst eine zweite zuständige Stelle im
Sinne der Richtlinie im Verwaltungsverfahren eingeschaltet wurde (vgl. BVerwG, Urt. v. 13.09.2005 – 1 C 7.04 – BVerwGE 124, 217 = InfAuslR
2006, 110 = NVwZ 2006, 472 = EZAR NF 40 Nr. 1). Die zweite Stelle musste dabei, wie sich aus der Rechtssprechung des EuGH ergibt, eine
andere sein als diejenige, welche für die Entscheidung über die Entfernung aus dem Hoheitsgebiet zuständig ist (EuGH, Urt. v. 29.04.2004 – Rs.
C-482/01 und C-493/01 [Orfanopoulos und Oliveri] – Slg. 2004, I-5257 = InfAuslR 2004, 268 = NVwZ 2004, 1099 = EZAR 810 Nr. 14; Senatsurteil
vom 19.12.2008 - 11 S 1453/07 - a.a.O.). Daran hat es hier gefehlt, weil die Ausweisung vom Regierungspräsidium Freiburg ohne Einschaltung
einer zweiten zuständigen Stelle verfügt wurde, so dass das in Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG verankerte Vier-Augen-Prinzip nicht gewahrt war.
34 Es lag auch kein dringender Fall vor, der die Einschaltung einer zweiten unabhängigen Stelle entbehrlich gemacht hätte. Nach der
Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urt. v. 13.09.2005 - 1 C 7.04 -, a.a.O.) ist das Merkmal der Dringlichkeit als Ausnahme vom
Grundsatz der Freizügigkeit „besonders eng auszulegen“; ein dringender Fall kann erst dann angenommen werden, wenn ein Zuwarten mit der
Vollziehung der Ausweisung nicht zu verantworten ist, etwa weil die begründete Besorgnis besteht, die von dem Ausländer ausgehende
erhebliche Gefahr werde sich schon vor Abschluss des „Hauptverfahrens“ realisieren. Die Verzögerung durch Einschaltung einer zweiten
Behörde ist dann nicht hinnehmbar. Daher genügt für die Annahme eines dringenden Falles nicht, dass die Ausländerbehörde die sofortige
Vollziehung der Ausweisung angeordnet hat. Vielmehr muss (vergleichbar den Anforderungen aus § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO für die Anordnung
der sofortigen Vollziehung einer Ausweisung nach den Maßstäben der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts) ein besonderes
öffentliches Interesse daran festgestellt werden, das „Hauptverfahren“ nicht abzuwarten, sondern die Ausweisung sofort zu vollziehen, um damit
einer „weiteren, unmittelbar drohenden erheblichen Gefährdung“ der öffentlichen Ordnung durch den Ausländer zu begegnen. Daran gemessen
lag kein dringender Fall vor. Der Kläger befand sich zum Zeitpunkt des Erlasses der Ausweisungsverfügung in Haft, aus der heraus er später in
die Türkei abgeschoben wurde. Zudem hatte die Ausländerbehörde nicht einmal - was im Übrigen nicht genügen würde - die sofortige
Vollziehung angeordnet.
35 bb) Materiell stand die Ausweisung nicht mit Art. 14 ARB 1/80 in Einklang. Da die in Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 vorgesehene Ausnahme der
öffentlichen Ordnung ebenso auszulegen ist wie die gleiche Ausnahme im Bereich der Freizügigkeit von Unionsbürgern (EuGH, Urt. v.
20.02.2000 - C-340/97 [Nazli] - Slg. 2000, I-957 = InfAuslR 2000, 161; Urt. v. 11.11.2004 - C-467/02 [Cetinkaya] - Slg 2004, I-10895 = InfAuslR
2005, 13), durfte der Kläger als assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger nur ausgewiesen werden, wenn eine tatsächliche und
hinreichend schwere Gefährdung vorlag, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (vgl. zu diesem Maßstab EuGH, Urt. v. 28.10.1975 -
36/75 [Rutili] - Slg. 1975, 1219 = DÖV 1976, 129; Urt. v. 18.05.1989 - 249/86 [Kommission/Deutschland] - Slg. 1989, 1263; Urt. v. 19.01.1999 - C-
348/96 [Calfa] - Slg 1999, I-11 = InfAuslR 1999, 165), wobei eine strafrechtliche Verurteilung nur insoweit eine Ausweisung rechtfertigen kann, als
die ihr zugrundeliegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefahr der öffentlichen Ordnung
darstellt (z.B. EuGH, Urt. v. 20.02.2000 - C-340/97 [Nazli] - a.a.O.). Die Frage, ob die Begehung einer Straftat ein persönliches Verhalten
erkennen lässt, das ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, lässt sich nur aufgrund der Umstände des Einzelfalls beurteilen. Das Erfordernis
einer gegenwärtigen Gefährdung der öffentlichen Ordnung besagt nicht, dass eine "gegenwärtige Gefahr" im Sinne des deutschen Polizeirechts
vorliegen müsste, die voraussetzt, dass der Eintritt des Schadens sofort und nahezu mit Gewissheit zu erwarten ist. Es verlangt vielmehr eine
hinreichende - unter Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit nach dem Ausmaß des möglichen Schadens und dem Grad der
Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts differenzierende - Wahrscheinlichkeit, dass der Ausländer künftig die öffentliche Ordnung
beeinträchtigen wird. Für die Beantwortung der Frage, ob dies der Fall ist, sind insbesondere die einschlägigen strafrichterlichen Entscheidungen
heranzuziehen, soweit sie für die Prüfung der Wiederholungsgefahr bedeutsam sind. Zu prüfen ist auch, ob eine Verbüßung der Strafe erwarten
lässt, dass der Assoziationsberechtigte künftig keine die öffentliche Ordnung gefährdenden Straftaten mehr begehen wird (vgl. zu alledem
BVerwG, Urt. v. 03.08.2004 - 1 C 30.02 - BVerwGE 121, 297 = InfAuslR 2005, 18 m.w.N.). Dabei können und müssen das Maß der Einsicht in das
begangene Unrecht und die Aufarbeitung der Tat in die vorzunehmende Prognoseentscheidung einfließen. Bei der Entscheidung ist der
Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu wahren (EuGH vom 29.04.2004 - C-482/01 u. C-493/01 [Orfanopoulos und Oliveri] - Slg. 2004, I-5257 =
InfAuslR 2004, 268 = NVwZ 2004, 1099 = EZAR 810 Nr. 14), der eine Einzelfallwürdigung insbesondere auch der durch Art. 8 EMRK geschützten
Rechtspositionen verlangt.
36 Dieser Maßstab wird hier durch Art. 28 RL 2004/38/EG ungeachtet der offenen Frage, ob diese Vorschrift auf assoziationsberechtigte Türken
anwendbar ist (vgl. hierzu VGH Bad.-Württ., Vorlagebeschluss vom 22.07.2008 - 13 S 1917/07 - InfAuslR 2008, 439; BVerwG, Vorlagebeschluss
vom 25.08.2009 - 1 C 25.08 -), schon deshalb nicht modifiziert, weil die Ausweisung, um deren Rücknahme es geht, vor dem 01.05.2006
bestandskräftig wurde und daher das erhöhte Schutzniveau des Art. 28 Abs. 2 und 3 RL 2004/38/EG hier nicht zu beachten ist. Die erhöhten
Anforderungen nach dieser Vorschrift sind nur bei Ausweisungen zu beachten, bei denen der maßgebliche Zeitpunkt für die Beurteilung der
Sach- und Rechtslage nach dem 30.04.2006 liegt (vgl. EuGH, Urt. v. 04.10.2007 – C-349/06 [Polat] – Slg. 2007, I-08167 Rdn. 26 f. = InfAuslR
2007, 425 = NVwZ 2008, 59 = EZAR NF 19 Nr. 22; BVerwG, Urt. v. 03.12.2008 - 1 C 35.07 - NVwZ 2009, 326).
37 Vorliegend war Anlass der Ausweisung die Verurteilung des Klägers zu einer Jugendstrafe wegen Hausfriedensbruchs in zwei Fällen und
versuchten Diebstahls. Bei diesen Straftaten handelt es sich wie bei den vorangegangenen Verurteilungen um Fälle der mittleren Kriminalität, die
sämtlich nach Jugendstrafrecht abgeurteilt worden sind. Nach der Rechtsprechung des Senats liegt bei den in Frage stehenden Delikten eine
tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vor, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, wenn diese Delikte - insbesondere
Diebstahl und Hehlerei - gehäuft auftreten und gewerbsmäßig begangen werden oder sonstige erschwerende Umstände vorliegen
(Senatsurteile vom 10.09.2003 - 11 S 973/03 - EzAR 037 Nr. 8 und vom 23.07.2008 - 11 S 2889/07 - InfAuslR 2008, 429). Daran gemessen lag
hier eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, nicht vor. Eine Häufung von der
Beschaffungskriminalität zuzuordnenden Delikten vermag der Senat entgegen der Auffassung des Beklagten nicht festzustellen. Zwischen der
letzten Tat und der zuvor begangenen lag ein - gemessen am damaligen Alter des Klägers - relativ langer straffreier Zeitraum von über drei
Jahren. Bei den mit Urteilen vom 22.06.1994 und vom 08.03.1995 abgeurteilten Straftaten handelte es sich zudem um jugendtypische
Verfehlungen, die nicht eindeutig mit dem Drogenkonsum des Klägers in Verbindung standen, da eine Drogenabhängigkeit nach den
strafgerichtlichen Feststellungen zweifelsfrei erst ab 1997 vorlag. Insgesamt handelte es sich um Fälle des einfachen Diebstahls und der
einfachen Hehlerei, die Schadenssummen waren nicht besonders hoch (vgl. zu diesem Aspekt BVerwG, Urt. v. 02.09.2009 - 1 C 2.09 - juris) und
der Kläger war nicht derart gehäuft straffällig geworden, dass aus diesem Grund eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung hätte
angenommen werden können. Zwar war mit Blick auf die damals unbewältigte Drogenproblematik eine gewisse Wiederholungsgefahr in Bezug
auf die Begehung weiterer Eigentums- und/oder Vermögensdelikte nicht von der Hand zu weisen, doch war diese nicht derart hoch, dass die
konkrete Gefahr weiterer schwerer Störungen der öffentlichen Ordnung hätte prognostiziert werden können.
38 cc) War die Ausweisung bereits gemessen an Art. 14 ARB 1/80 materiell rechtswidrig, so gilt dies erst recht, wenn man Art. 8 EMRK mit in den
Blick nimmt.
39 (1) Die Ausweisung griff nicht nur in den Schutzbereich des Rechts auf Achtung des Privatlebens, sondern auch in den Schutzbereich des Rechts
auf Achtung des Familienlebens nach Art. 8 Abs. 1 EMRK ein. Bei Beziehungen zwischen nahen Verwandten außerhalb der klassischen
Kleinfamilie kommt es darauf an, ob die tatsächlich bestehenden Bindungen hinreichend für die Annahme einer familiären Beziehung sind.
Beziehungen zwischen Erwachsenen unterliegen nicht notwendig dem Schutz des Art. 8 Abs. 1 EMRK in seiner Ausprägung als Recht auf
Achtung des Familienlebens. Es müssen besondere zusätzliche Aspekte der Abhängigkeit hinzutreten, die weiter reichen als normale affektive
Beziehungen (EGMR, Urt. v. 17.04.2003 - Nr. 52853/99 [Yilmaz] - NJW 2004, 2147 Rn. 44 m.w.N.; Urt. v. 15.07.2003 - Nr. 52206/99 [Mokrani] -
InfAuslR 2004, 183; Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, 3. Aufl., § 22 Rn. 18 m.w.N.). Art. 8 EMRK vermittelt insoweit
grundsätzlich keinen weitergehenden Schutz als Art. 6 GG bei familiären Beziehungen unter Volljährigen. Bei jungen Erwachsenen, die nach
Erreichen der Volljährigkeit weiterhin mit ihren Eltern in häuslicher Gemeinschaft leben, geht der EGMR allerdings davon aus, dass auch ihre
Beziehung zu den Eltern und anderen nahen Familienmitgliedern Familienleben darstellt und aufenthaltsbeendende Maßnahmen daher auch in
das Recht auf Achtung des Familienlebens eingreifen (Urt. v. 23.06.2008 - Nr. 1638/03 [Maslov II] - InfAuslR 2008, 333). Hier hat der Kläger bis zu
seiner Inhaftierung mit seinem Vater und den älteren Geschwistern in häuslicher Gemeinschaft gelebt.
40 (2) Das ebenfalls betroffene Recht auf Achtung des Privatlebens umfasst die Summe der persönlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen
Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind (vgl. EGMR, Urt. v. 09.10.2003 - 48321/99 [Slivenko] - EuGRZ 2006,
560 <561> Rn. 96) und denen angesichts der zentralen Bedeutung dieser Bindungen für die Entfaltung der Persönlichkeit eines Menschen bei
fortschreitender Dauer des Aufenthalts wachsende Bedeutung zukommt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 10.05.2007 – 2 BvR 304/07 – BVerfGK 11, 153 =
InfAuslR 2007, 275 m.w.N.; Hoppe, ZAR 2006, 125 <130>). Die Gesamtheit der sozialen Beziehungen und der Gemeinschaft bildet einen Teil
des Privatlebens i.S.v. Art. 8 EMRK.
41 (3) Der Eingriff in die Rechte des Klägers aus Art. 8 Abs. 1 EMRK war unverhältnismäßig.
42 Ein Eingriff in die Rechte aus Art. 8 Abs. 1 EMRK muss gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK eine in einer demokratischen Gesellschaft notwendige
Maßnahme darstellen, die durch ein dringendes soziales Bedürfnis gerechtfertigt und mit Blick auf das verfolgte legitime Ziel auch im engeren
Sinne verhältnismäßig ist (vgl. EGMR, Urt. v. 18.02.1991 - 31/1989/191/291 [Moustaquim] - EuGRZ 1993, 552 <554>; BVerfG, Beschl. v.
10.05.2007 – 2 BvR 304/07 - BVerfGK 11, 153 = InfAuslR 2007, 275; BVerwG, Urt. v. 09.12.1997 - 1 C 19.96 - BVerwGE 106, 13 <21> m.w.N.).
Dabei ist die Befristung der Ausweisungswirkungen nur eines von mehreren Kriterien im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit der
Ausweisung gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK (vgl. BVerfG, Beschl. v. 10.05.2007 – 2 BvR 304/07 - a.a.O.; EGMR, Urteil vom 22.03.2007 - 1638/03
[Maslov I] - InfAuslR 2007, 221). Vorrangig ist im Hinblick auf die konkreten Umstände des Einzelfalls zu prüfen, ob die Ausweisung überhaupt -
unabhängig von einer Befristung - dem Gebot der Verhältnismäßigkeit entspricht (BVerfG, Beschl. v. 10.05.2007 – 2 BvR 304/07 - a.a.O.). Dies
gilt umso mehr, wenn die Ausweisung ein Daueraufenthaltsrecht vernichtet und - wie hier - dem Kläger auch bei einer Befristung der Wirkungen
der Ausweisung eine dauerhafte Rückkehr versagt bleibt. Erforderlich ist eine Verhältnismäßigkeitsprüfung unter Beachtung der vom EGMR
entwickelten Kriterien, die im Wesentlichen in den Entscheidungen Boultif und Üner zusammengefasst worden sind (EGMR, Urt. v. 02.08.2001 -
Nr. 54273/00 [Boultif] - InfAuslR 2001, 476; Urt. v. 05.07.2005 - Nr. 46410/99 [Üner] - InfAuslR 2005, 450 = DVBl 2006, 688). Dabei kommt es
zunächst auf den jeweiligen Grad der „Verwurzelung“ an; je stärker der Betroffene im Aufenthaltsstaat integriert ist, desto schwerer müssen die
öffentlichen Interessen wiegen. Weiter ist auf den Grad der „Entwurzelung“ abzustellen, d. h. auf die Möglichkeit und Zumutbarkeit der
Reintegration im Herkunftsstaat, insbesondere aufgrund der Vertrautheit mit den dortigen Verhältnissen und den dort lebenden und
aufnahmebereiten Verwandten. Schließlich können im Rahmen der Schrankenprüfung sonstige Faktoren Berücksichtigung finden, etwa ob der
Aufenthalt des Betroffenen zumindest vorübergehend legal war und damit - i.S. einer „Handreichung des Staates“ - schutzwürdiges Vertrauen auf
ein Hierbleibendürfen entwickelt werden konnte.
43 Daran gemessen war die Ausweisung hier unverhältnismäßig. Bis zu seiner Abschiebung im Jahre 1999 verbrachte der Kläger sein gesamtes
Leben in der Deutschland, er besuchte hier die Schule, erreichte den Hauptschulabschluss und verfügte über ein Daueraufenthaltsrecht. Sein
gesamtes soziales Umfeld befand sich ebenfalls in Deutschland. Nähere Beziehungen zur Türkei, die über die eines Urlaubslandes
hinausgingen, hatte er nicht. Die türkische Sprache beherrschte er kaum, da in seiner Familie deutsch und kurdisch gesprochen wurde. Auch
wenn die Familienverhältnisse zerrüttet waren, so lebten die nächsten Familienangehörigen - neben seinem Vater auch seine Geschwister und
Halbgeschwister - ebenfalls im Bundesgebiet und hatten - wie er - ein assoziationsrechtliches, verfestigtes Aufenthaltsrecht. Demnach war bei
dem Kläger von einer weitreichenden „Verwurzelung“ einerseits und von einer vollständigen „Entwurzelung“ andererseits auszugehen.
44 Bei Art und Schwere der der Ausweisung zugrunde liegenden Straftaten war zu berücksichtigen, dass der Kläger ausschließlich nach
Jugendstrafrecht, zuletzt als Heranwachsender, verurteilt worden war (vgl. EGMR, Urt. v. 17.04.2003 - Nr. 52853/99 [Yilmaz] - NJW 2004, 2147
und Urt. v. 23.06.2008 - Nr. 1638/03 [Maslov II] - InfAuslR 2008, 333). Von Bedeutung ist auch, dass er nicht wegen Verbrechen, nicht wegen
Betäubungsmitteldelikten und nicht wegen Gewaltdelikten verurteilt wurde (vgl. EGMR, Urt. v. 23.06.2008 - Nr. 1638/03 [Maslov II] - a.a.O.). Mit
Blick darauf, dass der im Bundesgebiet geborene und aufgewachsene Kläger die für sein Familien- und Privatleben nach Art. 8 EMRK
konstitutiven Bindungen und sein Daueraufenthaltsrecht unwiederbringlich verlor, war seine Ausweisung nicht gerechtfertigt. Den für eine
Ausweisung sprechenden Gründe kam, selbst wenn man mit dem Beklagten von einer gewissen Wiederholungsgefahr ausgehen wollte, kein
überragendes Gewicht zu (vgl. hierzu BVerfG, Beschl. v. 10.05.2007 - 2 BvR 304/07 - a.a.O.; EGMR, Urt. v. 23.06.2008 - Nr. 1638/03 [Maslov II] -
a.a.O.).
45 4. Der Kläger hat einen Anspruch auf Verpflichtung des Beklagten zur Rücknahme der Ausweisung, weil deren Aufrechterhaltung ihn schwer und
unerträglich hart trifft und daher das Rücknahmeermessen auf Null reduziert ist.
46 Im Rahmen des § 48 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG besteht im Hinblick auf das Gebot der materiellen Gerechtigkeit einerseits und das der
Rechtssicherheit andererseits nur ausnahmsweise ein Rücknahmeanspruch; die Aufrechterhaltung des Bescheides muss dann „schlechthin
unerträglich“ sein. Dies ist insbesondere der Fall, wenn die Behörde durch unterschiedliche Ausübung der Rücknahmebefugnis in gleichen oder
ähnlich gelagerten Fällen gegen den allgemeinen Gleichheitssatz verstößt oder wenn Umstände gegeben sind, die die Berufung der Behörde
auf die Unanfechtbarkeit als einen Verstoß gegen die guten Sitten oder das Gebot von Treu und Glauben erscheinen lassen. Darüber hinaus
vermag die offensichtliche Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsakts, die sich zum Zeitpunkt des Erlasses beurteilt, die Annahme zu rechtfertigen,
seine Aufrechterhaltung sei schlechthin unerträglich (vgl. BVerwG, Urt. v. 23.10.2007 - 1 C 10.07 - a.a.O. m.w.N.; Discher in GK-AufenthG, Vor §§
53 ff. AufenthG Rn. 1773.7 m.w.N.). Auch außerhalb dieser Fallgruppen kommt eine Ermessensreduzierung auf Null in Betracht, wenn ein
Aufrechterhalten des Verwaltungsakts schlechthin unerträglich ist (BVerwG, Urt. v. 30.01.1974 - VIII C 20.72 - BVerwGE 44, 333 <336>; BVerwG,
Beschl. v. 22.10.1984 - 8 B 56.84 - NVwZ 1985, 265; BVerwG, Urt. v. 23.10.2007 - 1 C 10.07 - a.a.O.; VGH Bad.-Württ., Urt. v. 31.01.1989 - 9 S
1141/88 - NVwZ 1989, 882; Kopp/Ramsauer, VwVfG, 10. Aufl., § 48 Rn. 79; Sachs in Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 7. Aufl., § 48 Rn. 85).
47 a) Anhaltspunkte für eine gegen den allgemeinen Gleichheitssatz verstoßende unterschiedliche Ausübung der Rücknahmebefugnis sind nicht
ersichtlich. Der Vertreter des Beklagten hat in der Berufungsverhandlung dargelegt, dass in den übrigen vom Regierungspräsidium Freiburg in
den vergangenen Jahren entschiedenen Fällen jeweils § 121 VwGO dem geltend gemachten Rücknahmeanspruch entgegenstand und dass es
sich bei dem vorliegenden Fall um den einzigen handelt, bei dem es um eine ohne gerichtliche Überprüfung bestandskräftig gewordene
Ausweisungsverfügung geht. Eine Verwaltungspraxis, an die der Beklagte über Art. 3 Abs. 1 GG gebunden wäre, existiert somit nicht.
48 b) Es sind auch keine Umstände erkennbar, die die Berufung des Beklagten auf die Unanfechtbarkeit als einen Verstoß gegen die guten Sitten
oder das Gebot von Treu und Glauben erscheinen lassen.
49 c) Die Ausweisung war des weiteren nicht offensichtlich rechtswidrig. Eine offensichtliche Rechtswidrigkeit ist dann gegeben, wenn an dem
Verstoß der streitigen Maßnahme gegen formelles oder materielles Recht vernünftigerweise kein Zweifel besteht und sich deshalb die
Rechtswidrigkeit aufdrängt. Hierbei ist maßgeblich auf den Zeitpunkt des Erlasses der Ausweisung abzustellen. Eine spätere Klärung der
Rechtsfrage und die damit eintretende Evidenz desselben bleiben außer Betracht (BVerwG, Urt. v. 23.10.2007 - 1 C 10.07 - a.a.O.; Urt. v.
17.01.2007 - 6 C 32.06 - NVwZ 2007, 709; Beschl. v. 07.07.2004 - 6 C 24/03 - BVerwGE 121, 226 <229 ff.> m.w.N.). Hier war zum damaligen
Zeitpunkt in der Rechtsprechung noch nicht abschließend geklärt, dass die Verfahrensgarantien des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG auch auf
assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige anwendbar sind. Dies hat das Bundesverwaltungsgericht erst mit Urteil vom 13.09.2005 (- 1
C 7.04 - BVerwGE 124, 217) entschieden. Ebensowenig war geklärt, dass Ansprüche nach Art. 7 ARB 1/80 durch Strafhaft nicht verloren gehen.
Dass auch eine längere Strafhaft die Rechte aus Art. 7 Satz 1 zweiter Spiegelstrich ARB 1/80 nicht berührt, hat der Gerichtshof der Europäischen
Gemeinschaften erst 2004 entschieden (vgl. Urt. v. 11.11.2004 - C-467/02 - [Cetinkaya] - Slg. 2004, I-10895 = InfAuslR 2005, 13 und Urt. v.
07.07.2005 - C-373/03 [Aydinli] - Slg. 2005, I-6181 = InfAuslR 2005, 352). Es war daher nicht offensichtlich rechtswidrig, dass bei Erlass der
Ausweisung eine Privilegierung des Klägers nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 verneint wurde. Die Maßstäbe für die Verhältnismäßigkeitsprüfung im
Rahmen des Art. 8 EMRK bei im Inland geborenen jungen Erwachsenen sind ebenfalls erst später hinreichend präzisiert worden (BVerfG,
Beschl. v. 10.05.2007 - 2 BvR 304/07 - a.a.O.; EGMR, Urt. v. 23.06.2008 - Nr. 1638/03 [Maslov II] - a.a.O.), so dass auch insoweit eine
offensichtliche Rechtswidrigkeit zu verneinen ist.
50 d) Der Verstoß gegen die materiellen Schutzbestimmungen der EMRK begründet nur dann einen Rücknahmeanspruch, wenn der EGMR im
konkreten Fall einen Verstoß gegen die EMRK festgestellt hat (Discher in GK-AufenthG, Vor §§ 53 ff. Rn. 763.1; VG Freiburg, Urt. v. 01.10.2007 -
1 K 893/06 - InfAuslR 2008, 252). Liegt eine auf die konkrete Ausweisung bezogene Entscheidung des EGMR nicht vor, führt ein Verstoß gegen
die EMRK nicht bereits als solcher zu einer Reduzierung des Rücknahmeermessens auf Null (VGH Bad.-Württ., Urt. v. 28.06.2007 - 13 S 1045/07
- VBlBW 2008, 68; Discher, a.a.O., Rn. 763.3).
51 e) Das Aufrechterhalten der Ausweisung ist jedoch bei Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls schlechthin unerträglich.
52 Auf dem Gebiet des Ausländerrechts ist eine Ermessensreduzierung auf Null in Betracht zu ziehen, wenn es um eine nicht lediglich formell
rechtswidrige Ausweisung eines Ausländers der zweiten Generation geht, der in Deutschland geboren und aufgewachsen ist, sich rechtmäßig
hier aufgehalten und ein unbefristetes Aufenthaltsrecht erworben hat und bei dem die Befristung der Wirkungen der Ausweisung mangels
Rückkehrrecht ohne praktische Wirkung bleibt (vgl. hierzu BVerfG, Beschl. v. 10.05.2007 - 2 BvR 304/07 - a.a.O.). Dieser Personenkreis wird von
einer Ausweisung besonders hart getroffen, was für sich genommen indes noch nicht zu einer Reduzierung des Rücknahmeermessens auf Null
führen kann. Vielmehr müssen besondere Umstände des Einzelfalls hinzutreten, die die Aufrechterhaltung der Ausweisung als schlechthin
unerträglich erscheinen lassen. Hierbei sind auch die aktuellen Lebensumstände des Ausländers mit in den Blick zu nehmen, soweit noch ein
Ursachenzusammenhang mit der Ausweisung besteht. Ein solcher Kausalzusammenhang besteht nicht mehr, wenn einem ausgewiesenen
Ausländer in seinem Herkunftsstaat zunächst die wirtschaftliche und soziale Wiedereingliederung gelingt und er später aus anderen Gründen -
etwa einer schweren Wirtschaftskrise - in prekäre Lebensumstände gerät, die ihn veranlassen, seine Rückkehr nach Deutschland zu betreiben.
53 Hier ist nach den Umständen des Einzelfalls die Aufrechterhaltung der Ausweisung schlechthin unerträglich, so dass das Rücknahmeermessen
auf Null reduziert ist. Der Kläger ist ein in Deutschland geborener und aufgewachsener Ausländer der zweiten Generation, der sich durchgehend
rechtmäßig in Deutschland aufgehalten, einen Schulabschluss erworben und ein Daueraufenthaltsrecht nach Art. 7 ARB 1/80 erlangt hat. Seine
Ausweisung war nicht nur formell, sondern auch materiell rechtswidrig. Er wurde, wie oben ausgeführt wurde, unter Verstoß gegen Art. 14 ARB
1/80 und Art. 8 EMRK ausgewiesen. Entgegen der Auffassung des Beklagten wäre eine rechtsfehlerfreie Ausweisung nach den zwischenzeitlich
in der Rechtsprechung entwickelten Maßstäben nicht möglich gewesen. Die Befristung der Wirkungen der Ausweisung ist für den Kläger ohne
jede praktische Wirkung geblieben. Sie hat er ihm nicht einmal ermöglicht, seine engsten Familienangehörigen, die inzwischen deutsche
Staatsangehörige sind, hier besuchen können. Alle Anträge auf Besuchsvisa wurden abgelehnt, weil aufgrund seiner fehlenden Verwurzelung in
der Türkei Zweifel an seiner Rückkehrwilligkeit bestanden. Trotz entsprechender Bemühungen ist dem Kläger in der Türkei eine Integration
weder in wirtschaftlicher noch in gesellschaftlicher Hinsicht gelungen. Er hat in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat glaubhaft und in
jeder Hinsicht überzeugend geschildert, dass er bei seinen Verwandten mütterlicherseits in sehr bescheidenen Verhältnissen ein Dasein am
Rande des Existenzminimums fristet, ohne dort wirklich als gleichberechtigtes Familienmitglied aufgenommen worden zu sein, und dass es ihm
auch außerhalb der Familie nicht gelungen ist, mehr als nur oberflächliche soziale Kontakte zu knüpfen. Seine engsten Bezugspersonen sind die
in Deutschland lebenden Geschwister. Der Senat verkennt nicht, dass eine Vermutung dafür spricht, dass ein Ausländer nach einem
zehnjährigen Aufenthalt in dem Staat seiner Staatsangehörigkeit dort gewisse, ein Privatleben begründende Bindungen aufgebaut hat, die die
Aufrechterhaltung dieses Zustandes im Regelfall nicht als unerträglich erscheinen lassen. Der Kläger hat diese Vermutung mit seinen Angaben
in der Berufungsverhandlung (siehe oben) indes eindrucksvoll widerlegt. Er hat glaubhaft gemacht, dass das im Vordergrund stehende
Rückkehrmotiv seine durch die Trennung von seinen engsten Familienangehörigen ausgelöste emotionale Vereinsamung ist.
54 Schließlich kann dem Kläger nicht vorgehalten werden, seine Rückkehr nach Deutschland nicht konsequent genug betrieben und andere
rechtliche Möglichkeiten zur Behebung seiner unerträglichen Lage nicht ausgeschöpft zu haben. Insbesondere wäre ein Weiterbetreiben des auf
Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 37 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 Satz 1 AufenthG gerichteten Verfahrens vor dem Verwaltungsgericht Berlin
nicht erfolgversprechend gewesen, weil es nach der insoweit sehr restriktiven Rechtsprechung des zuständigen Oberverwaltungsgerichts an
einer besonderen Härte im Sinne von § 37 Abs. 2 Satz 1 AufenthG fehlt, wenn der Ausländer nicht alles ihm Mögliche und Zumutbare
unternommen hat, um die aus seiner Sicht ungerechtfertigte aufenthaltsbeendende Maßnahme zu beseitigen. Als möglich und zumutbar wird
dabei die Durchführung eines auf Wiederaufgreifen des Verfahrens und/oder Rücknahme gerichteten behördlichen und gerichtlichen Verfahrens
angesehen (OVG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 30.04.2009 - 12 B 19.07 - juris). Es würde daher einen Zirkelschluss darstellen, wenn man
umgekehrt im auf Rücknahme der Ausweisung gerichteten Verfahren das auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 37 AufenthG gerichtete
Verfahren als vorgreiflich ansehen würde.
III.
55 Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
56 Die Revision ist nicht zuzulassen, weil keine der Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO erfüllt ist.
57
Beschluss vom 4. November 2009
58 Der Streitwert des Berufungsverfahrens wird nach §§ 63 Abs. 2 Satz 1, 47 Abs. 1, 52 Abs. 2 GKG auf 5.000,-- EUR festgesetzt.
59 Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).