Urteil des VGH Baden-Württemberg vom 08.11.2010

VGH Baden-Württemberg: schutzwürdiges interesse, aufenthaltserlaubnis, wirkung ex nunc, zukunft, ausländer, untätigkeitsklage, therapie, gesundheitszustand, asylverfahren, anschluss

VGH Baden-Württemberg Urteil vom 8.11.2010, 11 S 1873/10
Rechtsschutzbedürfnis für rückwirkende Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis
Leitsätze
1. Die Verpflichtung der Ausländerbehörde, den beantragten Aufenthaltstitel rückwirkend auf den Zeitpunkt der Antragstellung oder jedenfalls des
Entstehens der Erteilungsvoraussetzungen zu gewähren bzw. zu verlängern, setzt das Bestehen eines konkreten Rechtsschutzbedürfnisses voraus
(im Anschluss an BVerwG, U.v. 29.09.1998 - 1 C 14.97 - InfAuslR 1999, 69).
2. Ein solches Rechtsschutzbedürfnis besteht im Hinblick auf eine künftig in Betracht zu ziehende Aufenthaltsverfestigung dann, wenn der Antrag auf
Erteilung des Aufenthaltstitel keine der Rechtsfolgen des § 81 Abs. 3 Satz 1 oder Abs. 4 AufenthG ausgelöst hat.
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 18. Juni 2010 – 12 K 1141/09 – geändert, soweit die Klage
abgewiesen wurde.
Die Beklagte wird verpflichtet, die Aufenthaltserlaubnis vom 11.03.2010 auch rückwirkend für Zeit vom 19.08.2008 bis 10.03.2010 zu erteilen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
1
Der 1993 in Aalen geborene Kläger, ein kosovarischer Staatsangehöriger und Volkszugehöriger der Roma, begehrt (noch) die rückwirkende
Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis.
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Seine Familie reiste im Jahr 1991 in das Bundesgebiet ein und suchte erfolglos um Asyl nach. Nach seiner Geburt wurde auch für ihn erfolglos
ein Asylverfahren durchgeführt. Nach seinen Angaben führte er im Jahr 2004 mit seinen Eltern und einem Bruder eine Besuchsreise in den
Kosovo durch. Die nach ihrer Wiedereinreise ins Bundesgebiet im Jahr 2004 betriebenen Asylfolgeverfahren blieben wiederum ohne Erfolg. In
der Folgezeit wurde er geduldet.
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Am 19.08.2008 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Zur Begründung trug er vor, seine Mutter sei im
Jahre 2004 vor seinen und den Augen seines Vaters und Bruders D... von albanischen Volkszugehörigen mehrfach vergewaltigt worden.
Aufgrund dieses Ereignisses seien bei ihm, seiner Mutter und seinem Bruder schwere posttraumatische Belastungsstörungen festgestellt
worden. Alle drei seien deshalb als schwerbehindert anerkannt worden. Im Hinblick auf die Schwere seiner Erkrankung und seine fortwährende
Behandlungsbedürftigkeit habe er einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG.
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Am 26.03.2009 erhob der Kläger Untätigkeitsklage.
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Am 11.03.2010 erteilte die Beklagte dem Kläger eine bis 10.09.2010 gültige Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG. Der Kläger erklärte
daraufhin in Übereinstimmung mit der Beklagten den Rechtsstreit für erledigt, allerdings nur insoweit, als ihm am 11.03.2010 die
Aufenthaltserlaubnis für die Zukunft erteilt worden war. Bezüglich des Zeitraums von der Antragstellung am 19.08.2008 bis zum 10.03.2010
verfolgte er sein Begehren weiter. Er machte geltend, im Hinblick auf seine weitere aufenthaltsrechtliche Stellung habe er ein schutzwürdiges
Interesse daran, auch für die Zeit von der Antragstellung bis zur Erteilung der Aufenthaltserlaubnis mit Wirkung ex nunc eine Aufenthaltserlaubnis
zu erhalten.
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Die Beklagte trat dem entgegen und berief sich darauf, dass sich der Rechtsstreit durch die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis am 11.03.2010
erledigt habe. Außerdem habe der Kläger keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG, da sie, die
Beklagte, bezüglich der Frage des Vorliegens von Abschiebungshindernissen an die negativen Feststellungen des Bundesamts für Migration
und Flüchtlinge gebunden sei.
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Mit Urteil vom 18.06.2010 stellte das Verwaltungsgericht das Verfahren ein, soweit die Beteiligten den Rechtsstreit übereinstimmend in der
Hauptsache für erledigt erklärt hatten und wies im Übrigen die Klage ab. Zur Begründung führte es aus: Die aufrecht erhaltene Klage sei mangels
Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig, da der Kläger kein schutzwürdiges Interesse an der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für einen in der
Vergangenheit liegenden Zeitraum habe. Nach der Systematik des Ausländerrechts könnten Aufenthaltstitel grundsätzlich nur ab
Entscheidungsreife für die Zukunft erteilt werden. Allerdings könne der Ausländer ein schutzwürdiges Interesse daran haben, dass ihm beim
Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen der Aufenthaltstitel auch für einen in der Vergangenheit liegenden Zeitraum nach der
Antragstellung erteilt werde. Ein solches schutzwürdiges Interesse für die Erteilung eines Aufenthaltstitels für einen in der Vergangenheit
liegenden Zeitraum werde dann angenommen, wenn es für die weitere aufenthaltsrechtliche Rechtsstellung des Ausländers erheblich sein
könne, ob sein Aufenthalt im fraglichen zurückliegenden Zeitraum durch einen Aufenthaltstitel gedeckt gewesen sei oder nicht. Soweit das
Bundesverwaltungsgericht der Ansicht sei, dass der Ausländer ein berechtigtes Interesse an der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für einen in
der Vergangenheit liegenden Zeitraum haben könne, bedeute dies nicht, dass im Hinblick auf eine in der Zukunft liegende (mögliche) Erteilung
einer Niederlassungserlaubnis in jedem Fall ein berechtigtes Interesse an der rückwirkenden Erteilung der Aufenthaltserlaubnis vorliege. Ein
berechtigtes Interesse an der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für einen in der Vergangenheit liegenden Zeitraum könne etwa dann
vorliegen, wenn die Ausländerbehörde die Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis abgelehnt und während des anschließenden
Verwaltungsgerichtsverfahrens mit Rücksicht auf eine zwischenzeitlich eingetretene Änderung des Sachverhalts dem Ausländer eine neue
Aufenthaltserlaubnis erteilt habe. Da ohne die Legalisierung des aufenthaltsrechtlichen Status im Anschluss an den Ablauf der letzten dem
Ausländer erteilten Aufenthaltserlaubnis der legale Aufenthalt unterbrochen würde und die Niederlassungserlaubnis an einen ununterbrochenen
legalen Aufenthalt anknüpfe, habe der Ausländer in einem solchen Fall beim Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen ein berechtigtes
Interesse an der rückwirkenden Erteilung der Aufenthaltserlaubnis, damit keine Unterbrechung seines legalen Aufenthalts eintrete. Etwas
anderes gelte jedoch bei der erstmaligen Beantragung einer Aufenthaltserlaubnis, wie im Falle des bis zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis
am 11.03.2010 geduldeten Klägers. Denn hier werde durch die ursprüngliche Nichterteilung der begehrten Aufenthaltserlaubnis kein legaler
Aufenthalt unterbrochen. Damit habe der Kläger auch kein schutzwürdiges Interesse an der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für den in der
Vergangenheit liegenden Zeitraum von der Antragstellung am 19.08.2008 bis zur Erteilung der Aufenthaltserlaubnis am 11.03.2010. Dem
Interesse des Ausländers am möglichst frühzeitigen Besitz einer Aufenthaltserlaubnis werde bei der erstmaligen Beantragung dadurch
Rechnung getragen, dass nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts die Zeit von der Versagung der Aufenthaltserlaubnis - bei
zulässigen Untätigkeitsklagen müsse an Stelle dieses Zeitpunkts der Zeitpunkt der Klageerhebung treten - bis zur Erteilung oder Verlängerung
aufgrund eines erfolgreichen Rechtsmittels der Zeit des Besitzes der Aufenthaltserlaubnis gleich stehe. Dasselbe müsse für den vorliegenden
Fall gelten, in dem die Ausländerbehörde während des Verwaltungsgerichtsverfahrens die begehrte Aufenthaltserlaubnis erteilt habe.
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Das Urteil wurde dem Kläger am 29.06.2010 zugestellt.
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Am 02.07.2010 beantragte der Kläger die Zulassung der Berufung.
10 Durch Beschluss vom 06.08.2010 – dem Kläger am 12.08.2010 zugestellt – ließ der Senat die Berufung zu.
11 Am 16.08.2010 begründete der Kläger unter Stellung eines Antrags die Berufung wie folgt: Das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis für die
begehrte rückwirkende Erteilung ergebe sich schon daraus, dass der Antrag auf erstmalige Erteilung des Aufenthaltstitels die Rechtsfolge nach §
81 Abs. 4 AufenthG nicht ausgelöst habe. Für die sich später stellende Frage einer Verfestigung nach § 26 Abs. 4 AufenthG seien aber nur die
Zeiten zu berücksichtigen, in denen ein Aufenthaltstitel erteilt worden sei oder in denen zwischen Besitzzeiten der Aufenthalt fiktiv rechtmäßig
gewesen sei. Die Voraussetzungen des § 25 Abs. 5 AufenthG lägen sowohl bei ihm wie bei seiner Mutter vor. Er leide an einer
posttraumatischen Belastungsstörung. Dies sei auch schon am 19.08.2008 der Fall gewesen, wie sich aus den schon im
verwaltungsgerichtlichen Verfahren vorgelegten Stellungnahmen des behandelnden Therapeuten, Herrn M..., ergebe. Aus der nunmehr
eingeholten Stellungnahme M... vom 10.07.2010 und der ärztlichen Stellungnahme Dr. S... vom 15.06.2010 ergebe sich eindeutig, dass –
ungeachtet etwaiger zielstaatsbezogener Abschiebungshindernisse – bereits infolge der Aufenthaltsbeendigung und den dadurch bedingten
Abbruch der seit langer Zeit durchgeführten Therapie zu befürchten sei, dass sich der Gesundheitszustand erheblich verschlechtern werde,
zumal dann, wenn der Kläger noch näher zu den Ereignissen im Kosovo befragt werden würde.
12 Der Kläger beantragt sinngemäß,
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das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 18.06.2010 – 12 K 1141/09 – zu ändern, soweit die Klage abgewiesen wurde, und die
Beklagte zu verpflichten, ihm rückwirkend für den Zeitraum vom 19.08.2008 bis 10.03.2010 eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen.
14 Die Beklagte tritt der Berufung entgegen und macht sich die Ausführungen des angegriffenen Urteils zu Eigen. Ergänzend weist sie darauf hin,
dass mittlerweile die Staatsanwaltschaft Ellwangen unter dem 06.09.2010 gegen den Kläger Anklage zum Amtsgericht (Jugendschöffengericht)
Ellwangen wegen zahlreicher strafrechtlich relevanter Vorwürfe erhoben habe. Weiter sei der Kläger durch Urteil des Amtsgerichts Aalen vom
16.09.2010 wegen Diebstahls geringwertiger Sachen rechtskräftig zu zwei Wochen Dauerarrest verurteilt worden.
15 Wegen weiterer Einzelheiten verweist der Senat insbesondere auf die gewechselten Schriftsätze vom 16.08.2010, 16.09.2010, 22.09.2010 und
23.09.2010.
16 Dem Senat liegen die Akten des Verwaltungsgerichts und die Ausländerakten des Klägers vor.
Entscheidungsgründe
17 Die zulässige, insbesondere form- und fristgerecht begründete Berufung hat in der Sache Erfolg.
18 Das Verwaltungsgericht hätte der Klage stattgeben und die Beklagte auch zur rückwirkenden Erteilung des Aufenthaltstitels verpflichten müssen.
19 Dem Kläger steht das in ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. BVerwG, U.v. 29.09.1998 – 1 C 14.97 – InfAuslR 1999,
69 m.w.N.) für die auch rückwirkende Erteilung (oder Verlängerung) geforderte Sachbescheidungs- bzw. Rechtsschutzbedürfnis zur Seite.
20 Die ergibt sich aus folgendem: Im Falle des Klägers war mit seinem am 19.08.2008 gestellten Antrag auf erstmalige Erteilung eines
Aufenthaltstitels nach § 25 Abs. 5 AufenthG nicht die Rechtsfolge des § 81 Abs. 4 AufenthG verbunden, weil der Kläger nach den erfolglosen
Asylverfahren nur geduldet war. Für eine später vom Kläger – nahe liegend – ins Auge gefasste Aufenthaltsverfestigung nach § 26 Abs. 4
AufenthG würde daher die Zeit zwischen dem 19.08.2008 bis 10.03.2010 ausfallen, da diese als Duldungszeit nicht nach § 102 Abs. 2 AufenthG
anrechenbar wäre. Zwar könnte die Zeit – allerdings nur im Ermessenswege und auch nur teilweise – bis zu einem Jahr gem. § 85 AufenthG
berücksichtigt werden (vgl. BVerwG, U.v. 10.11.2009 – 1 C 24.08 – AuAS 2010, 113). Abgesehen davon hat der Kläger aber auch ein
beachtliches Interesse, dieses Maximum von einem Jahr noch nicht völlig auszuschöpfen, da auch in der Zukunft u.U. Lücken entstehen können.
Zwar hat das Bundesverwaltungsgericht im Urteil vom 29.09.1998 (- 1 C 14.97 - InfAuslR 1999, 69; bestätigt durch U. v. 10.11.2009 - 1 C 24.08 -
AuAS 2010, 113; vgl. auch U.v. 30.03.2010 – 1 C 6.09 – InfAuslR 2010, 343) überzeugend zum Ausdruck gebracht, dass für eine
Aufenthaltsverfestigung (dort nach § 24 Abs. 1 AuslG 1990) Besitzzeiten auch solche Zeiten sein könnten, in denen ein Anspruch nur von Rechts
wegen bestanden habe; die fehlende Titulierung sei unschädlich. In dem entschiedenen Fall waren jedoch die (verschiedenen und mehrfachen)
Verlängerungsanträge sämtlich nicht unanfechtbar negativ beschieden, sondern im konkreten Verfahren ausdrücklich Gegenstand von
Hilfsanträgen. Im Falle des Klägers würde infolge der Klageabweisung diese Offenheit des Verfahrens verloren gehen. Zwar wurde die Klage nur
wegen fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses durch Prozessurteil als unzulässig abgewiesen. Die Beklagte hatte jedoch, wie sich auch aus ihrer
weiteren Einlassung im Verfahren ergibt, mit ihrer Entscheidung nach der anfänglichen Untätigkeit eine rückwirkende Erteilung nicht nur
konkludent, sondern auch ausdrücklich abgelehnt. Da die Untätigkeitsklage zulässig war und das Verwaltungsgericht gerade keine Nachfrist
nach § 75 Satz 3 VwGO gesetzt hatte, ist diese Ablehnung spätestens infolge der entsprechenden Antragstellung im verwaltungsgerichtlichen
Verfahren in zulässiger Weise Gegenstand dieses Verfahrens geworden (vgl. Bader u.a., VwGO, 4. Aufl., § 75 Rdn. 21 und 22; Rennert, in:
Eyermann, VwGO, 13. Aufl., § 75 Rdn. 18 und 20). Wegen der Besonderheiten und der Fristgebundenheit der Verpflichtungsklage würde dann
spätestens mit Ablauf der Jahresfrist (vgl. § 58 Abs. 2 VwGO) diese Ablehnung unanfechtbar. Noch deutlicher wäre die Sachlage, wenn die
Beklagte vor Erhebung der Untätigkeitsklage die Aufenthaltserlaubnis für die Zukunft erteilt, für die Zeit ab Antragstellung aber abgelehnt und der
Kläger hiergegen erfolglos Widerspruch eingelegt und dann Klage erhoben hätte. In diesem Fall würde bei Abweisung der Klage als unzulässig
die Ablehnung unanfechtbar, weil eine erneute Klageerhebung mit Rücksicht auf die regelmäßig bereits abgelaufene Klagefrist von einem Monat
(vgl. § 74 Abs. 2 VwGO) nicht mehr möglich wäre.
21 In der Sache geht der Senat mit der Beklagten und dem Regierungspräsidium Stuttgart davon aus, dass in der Person des Klägers ein nicht
zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot (vgl. § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG) vorliegt. Aus den zahlreichen bis in das Jahr 2005
zurückreichenden ärztlichen Attesten und Stellungnahmen, die auch von der Beklagten und dem Regierungspräsidium in der Sache nicht infrage
gestellt und die unter dem 15.06.2010 und 10.07.2010 aktualisiert wurden, ergibt sich zur Überzeugung des Senats, dass der Kläger im Falle der
Aufenthaltsbeendigung und des damit einhergehenden Abbruchs der langjährigen und intensiven Therapie konkret zu befürchten hätte, dass
sich sein Gesundheitszustand in erheblichem Umfang verschlechtern würde, selbst wenn schon im Hinblick auf die Bindungswirkung nach § 42
AsylVfG davon ausgegangen werden muss, dass im Zielstaat eine Behandlung grundsätzlich möglich ist. Es gibt für den Senat nach den
vorliegenden ärztlichen bzw. therapeutischen Äußerungen auch keinen greifbaren Anhalt dafür, dass angesichts einer bereits am 02.03.2005
begonnenen Behandlung die Lage vor dem 11.03.2010, d.h. auch am 19.08.2008 signifikant anders (besser) gewesen sein könnte.
22 Allerdings liegen, worauf die Beklagte sinngemäß hingewiesen hat, nunmehr neue Ausweisungsgründe im Sinne von § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG
vor. Zwar ist nach ständiger Rechtsprechung bei Klagen, die auf die Verpflichtung zur Erteilung oder Verlängerung eines Aufenthaltstitels
gerichtet sind, grundsätzlich insoweit auf die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz
abzustellen (vgl. BVerwG, U.v. 07.04.2009 – 1 C 17.08 – BVerwGE 133, 329). Im vorliegenden Fall muss jedoch eine Besonderheit gelten, da die
Beklagte den maßgeblichen Sachverhalt für die Zukunft (bis zum 10.09.2010) bereits in der Weise geregelt hat, dass sie sämtlichen schon zum
11.03.2010 bestehenden (zahlreichen) Ausweisungsgründen im Ermessenswege nach § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG keine die Erteilung hindernde
Bedeutung beigemessen hat. Dann jedoch wäre es widersprüchlich, diese Bewertung der Ausweisungsgründe durch die Beklagte für einen
zeitlich abgeschlossen in der Vergangenheit liegenden Lebenssachverhalt nicht mehr zugrunde zu legen. Für die zukünftige Verlängerung
gelten dann allerdings wieder die allgemeinen Grundsätze.
23 Da die Beklagte mithin ihr durch § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG eingeräumtes Ermessen bereits zugunsten des Klägers ausgeübt und von der
Berücksichtigung bestehender Ausweisungsgründe abgesehen hat, war die Beklagte zu verpflichten, die Aufenthaltserlaubnis rückwirkend zu
erteilen. Dass dieser Zeitraum die in § 26 Abs. 1 Satz 1 AufenthG vorgegebene Obergrenze überschreitet, steht dem nicht entgegen, weil diese
nur die Geltungsdauer in die Zukunft hinein begrenzt.
24 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Der Senat ist im Übrigen an die Entscheidung des Verwaltungsgerichts nach § 161 Abs.
2 VwGO gebunden, und zwar schon deshalb, weil die Beklagte sie nicht angegriffen hat (vgl. zur Zulässigkeit einer Anfechtung BVerwG, U.v.
08.05.2005 – 3 C 50.04 - NJW 2006, 536). Der Senat übernimmt diese und trifft eine einheitliche Kostenentscheidung für beide Rechtszüge.
25 Gründe, die Revision zuzulassen (vgl. § 132 Abs. 2 VwGO), liegen nicht vor.
26
Beschluss vom 8. November 2010
27 Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird gemäß § 63 Abs. 2, § 52 Abs. 2 GKG auf 5.000,- EUR festgesetzt.
28 Der Beschluss ist unanfechtbar.