Urteil des VGH Baden-Württemberg vom 25.02.2010

VGH Baden-Württemberg: aufschiebende wirkung, treu und glauben, befreiung, subjektives recht, besondere härte, wohngebäude, grundstück, grenzabstand, erlass, begriff

VGH Baden-Württemberg Beschluß vom 25.2.2010, 8 S 2822/09
(Wohnnutzung in Hintergebäuden nach Ortsbausatzung der Stadt Stuttgart)
Leitsätze
1. Zur Zulässigkeit von Wohnnutzung in Hintergebäuden nach § 5 Halbsatz 2 der Ortsbausatzung der Stadt Stuttgart (OBS).
2. Zum Begriff des Hintergebäudes im Sinne der OBS.
3. § 38 Abs. 6 OBS gilt als örtliche Bauvorschrift bauordnungsrechtlichen Inhalts fort.
4. § 38 Abs. 6 OBS ist mit seiner Forderung nach einem Mindestgrenzabstand von 4 m nachbarschützend (wie Urteil des Verwaltungsgerichtshofs
Stuttgart vom 02.11.1956 - 2 S 183/54 -).
Tenor
Auf die Beschwerde der Antragsteller wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 3. Dezember 2009 - 13 K 4093/09 - mit Ausnahme
der Festsetzung des Streitwerts geändert. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragsteller gegen die der Beigeladenen erteilte
Baugenehmigung der Antragsgegnerin vom 20. August 2009 wird angeordnet.
Die Antragsgegnerin und die Beigeladene tragen die Kosten des Verfahrens im ersten Rechtszug je zur Hälfte. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten
des Beschwerdeverfahrens. Hiervon ausgenommen sind die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen in beiden Rechtszügen, die diese selbst
trägt.
Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 7.500,-- EUR festgesetzt.
Gründe
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Die nach § 146 Abs. 1 VwGO statthafte und auch sonst zulässige (§§ 147 Abs. 1, 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO), insbesondere den Anforderungen
des § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO entsprechende Beschwerde der Antragsteller hat Erfolg. Die von den Antragstellern im Beschwerdeverfahren
dargelegten Gründe, auf deren Prüfung der Senat grundsätzlich beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), geben Anlass, den angefochtenen
Beschluss, mit dem das Verwaltungsgericht den Antrag der Antragsteller, die aufschiebende Wirkung ihres Widerspruchs gegen die
Baugenehmigung der Antragsgegnerin vom 20.08.2009 anzuordnen, abgelehnt hat, zu ändern und die aufschiebende Wirkung ihres
Widerspruchs anzuordnen.
2
Die Baugenehmigung gestattet die Errichtung eines Wohnhauses als Hintergebäude auf dem an das Grundstück der Antragsteller
angrenzenden Grundstück Flst.Nr. ... in Stuttgart-... unter Einhaltung eines Grenzabstandes von 2,50 m zum Grundstück der Antragsteller. Das
Verwaltungsgericht hat den Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes mit der Begründung abgelehnt, das Vorhaben verletze
voraussichtlich keine die Rechte der Antragsteller schützenden Vorschriften. Auf dem Baugrundstück sei nach § 5 der Ortsbausatzung der
Antragsgegnerin vom 25.06.1935 - OBS - ein Wohngebäude als Hintergebäude zulässig. Soweit das genehmigte Bauvorhaben die in § 43 Abs.
1 OBS festgesetzte Gebäudetiefe unterschreite und der nach § 38 Abs. 6 OBS vom Hintergebäude einzuhaltende Grenzabstand unterschritten
sei, habe die Antragsgegnerin die erforderlichen Befreiungen erteilt. Eine Verletzung des nachbarschützenden Gebots der Rücksichtnahme
könne nicht festgestellt werden. Ein darüber hinausgehender Schutz könne nicht beansprucht werden, da den Festsetzungen keine
nachbarschützende Wirkung zukomme.
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1. Zwar dürfte die dagegen erhobene Rüge der Antragsteller, dass die zugelassene Wohnnutzung gegen die Festsetzung der Art der Nutzung in
§ 5 OBS für Hintergebäude verstoße, nicht durchgreifen. Die Auffassung der Antragsteller, dass sich die Regelung des § 5 Halbsatz 2 OBS auf
einen Ausschluss von Wohnnutzung in Hintergebäuden erstrecke, begegnet erheblichen Zweifeln.
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Nach § 5 OBS gelten in Baustaffel 4, zu der das Baugrundstück unstreitig gehört, die Bestimmungen über das Gemischte Gebiet; jedoch sind
Hintergebäude nur für landwirtschaftliche und kleinere Gewerbebetriebe zugelassen. Das Verwaltungsgericht hat insoweit ausgeführt, dass nach
Sinn und Zweck der Vorschrift sowie dem Regelungszusammenhang mit § 4 OBS (Gemischtes Gebiet) davon auszugehen sei, dass der
Satzungsgeber durch § 5 Halbsatz 2 OBS nicht die im Gemischten Gebiet zulässige Wohnnutzung ausschließen, sondern lediglich die
Zulässigkeit der dort aufgeführten emittierenden Betriebe habe beschränken wollen. Dem dürfte zuzustimmen sein.
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§ 5 Halbsatz 2 OBS enthält seinem Wortlaut nach eine Einschränkung der zulässigen Nutzungsarten von Hintergebäuden. Doch knüpft diese
Regelung - wie sich aus § 5 Halbsatz 1 OBS ergibt - an § 4 OBS an und ist im systematischen Zusammenhang mit dieser Norm auszulegen.
Danach sind im Gemischten Gebiet und wegen der Verweisung in § 5 Halbsatz 1 OBS auch in der Staffel 4 Anlagen der in § 16 Abs. 1 der
(Reichs-)Gewerbeordnung bezeichneten Art nicht zulässig (§ 4 Abs. 1 OBS), wenn nicht - zugunsten solcher Anlagen - die Ausnahmeregelung in
§ 4 Abs. 2 OBS eingreift. Diese Ausschluss- und Ausnahmeregelung wird durch § 5 Halbsatz 2 OBS für Hintergebäude wiederum modifiziert,
indem in Hintergebäuden nicht sämtliche von § 4 Abs. 2 OBS erfassten und unter bestimmten Voraussetzungen zulässigen Nutzungen, sondern
nur landwirtschaftliche und kleinere gewerbliche Betriebe zugelassen sind. Darin erschöpft sich indessen der Regelungsgehalt des § 5 Halbsatz
2 OBS, dem nicht der Charakter einer abschließenden Aufzählung der in Hintergebäuden der Staffel 4 zulässigen Nutzungen entnommen
werden kann. § 5 Halbsatz 2 bezieht sich damit nicht auf die Wohnnutzung, deren Zulässigkeit zwar von §§ 4 und 5 OBS vorausgesetzt, aber
nicht ausdrücklich geregelt und folglich von der Spezialvorschrift des § 5 Halbsatz 2 OBS auch nicht eingeschränkt wird.
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2. Eine Rechtsverletzung der Antragsteller folgt aber daraus, dass die Baugenehmigung gegen die - nachbarschützende - Festsetzung in § 38
Abs. 6 OBS verstößt, wonach von sämtlichen Eigentumsgrenzen mindestens ein Abstand von 4 m einzuhalten ist, und die erteilte Befreiung von
dieser Festsetzung rechtswidrig ist.
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a) Durchgreifende Bedenken gegen die Wirksamkeit der Vorschrift bestehen nicht. Zwar ist § 38 Abs. 6 OBS als bauplanungsrechtliche Vorschrift
mit Inkrafttreten des Bundesbaugesetzes im Jahre 1960 außer Kraft getreten, da nach §§ 233 Abs. 3 BauGB, 173 Abs. 3 Satz 1 BBauG 1960 nur
planungsrechtliche Regelungen der in § 9 BBauG 1960 bezeichneten Art fortgelten. Damit ist gemeint, dass die (überzuleitende) Festsetzung
einen Inhalt haben muss, der nach dem Bauplanungsrecht des BBauG 1960 Inhalt eines Bebauungsplans sein konnte (BVerwG, Urteil vom
03.06.1971 - IV C 64.69 -, BVerwGE 38, 152). Zu Festsetzungen über die Einhaltung von Grenzabständen ermächtigte § 9 Abs. 1 BBauG 1960
jedoch nicht. Die Vorschrift kann insbesondere nicht als eine Festsetzung über die überbaubare oder nicht überbaubare Grundstücksfläche im
Sinne von § 9 Abs. 1 Nr. 1 b BBauG 1960 verstanden werden, da hierfür als Instrument gemäß § 23 Abs. 1 BauNVO nur die Festsetzung von
Baulinien, Baugrenzen oder Bebauungstiefen zur Verfügung steht. Sie ist auch keine Festsetzung über die Stellung der baulichen Anlagen
gemäß § 9 Abs. 1 Nr. 1 b BBauG 1960; damit wird im Wesentlichen die Ausrichtung der Längsachse des Gebäudes zu einer Himmelsrichtung
oder zu einer Straße bestimmt (so VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 09.11.1995 - 8 S 2383/95 -, Juris und Gelzer/Bracher/Reidt,
Bauplanungsrecht, Komm., 7. Aufl., 2004, RdNr. 24 a).
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Der Senat sieht § 38 Abs. 6 OBS jedoch - jedenfalls auch - als bauordnungsrechtliche Vorschrift an, die beim Inkrafttreten der Landesbauordnung
am 01.01.1964 trotz der gemäß § 118 Abs. 1 Nr. 2 LBO 1964 erfolgten Aufhebung der Württembergischen Bauordnung vom 28.07.1910 wirksam
übergeleitet worden ist. Nach § 118 Abs. 5 LBO 1964 bleiben Verordnungen und Satzungen, die aufgrund der in Abs. 1 aufgehobenen
Vorschriften erlassen worden sind, bis zum Erlass neuer Vorschriften in Kraft, soweit sie diesem Gesetz nicht widersprechen. Die in § 38 Abs. 6
OBS getroffene Regelung über die Einhaltung eines Mindestabstands von 4 m zu sämtlichen Eigentumsgrenzen steht in Einklang mit § 111 Abs.
1 Nr. 5 LBO 1964, der zum Erlass örtlicher Bauvorschriften über die Festsetzung größerer Abstände, als in § 7 LBO 1964 vorgeschrieben,
ermächtigte. § 38 Abs. 6 OBS schreibt für Hintergebäude die Einhaltung eines Abstandes von mindestens 4 m von sämtlichen Eigentumsgrenzen
und damit größere als die in § 7 Abs. 7 LBO 1964 vorgesehenen Mindestabstände von 3 m vor (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom
09.11.1995 - 8 S 2383/95 - a.a.O.).
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b) Die Festsetzung eines Mindestgrenzabstands von 4 m in § 38 Abs. 6 OBS entfaltet auch eine nachbarschützende Wirkung zu Gunsten der
Antragsteller als Eigentümer des unmittelbar an das Baugrundstück angrenzenden Grundstücks. Die Vorschriften der Württembergischen
Bauordnung und der Ortsbausatzung der Antragsgegnerin, insbesondere des § 38 Abs. 6 OBS, über die Abstände zu Eigentumsgrenzen, sind,
wie der Verwaltungsgerichtshof Stuttgart bereits mit Urteil vom 02.11.1956 - 2 S 183/54 -, DÖV-Baden-Württembergisches Verwaltungsblatt 1956,
184 ff.) entschieden hat, auch im Interesse des Grundstücksnachbarn erlassen und gewähren diesem daher ein subjektives Recht mit der Folge,
dass die Verletzung der Grenzabstandsvorschriften eine Verletzung subjektiv öffentlicher Rechte darstellen kann. Die nachbarschützende
Wirkung beschränkt sich dabei jeweils auf den Eigentümer des angrenzenden Grundstücks, zu dem der Grenzabstand unterschritten wird.
Gegen die Annahme einer nachbarschützenden Wirkung des § 38 Abs. 6 OBS können nicht, wie die Beigeladene meint, die Erwägungen des
Senats in seinem Urteil vom 01.02.1993 (- 8 S 2796/92 -, Juris) zur nachbarschützenden Wirkung des § 40 Buchst. b OBS herangezogen werden,
der für Hintergebäude in Baustaffel 8 bis 10 von den Eigentumsgrenzen einen Abstand gleich der Höhe der der Grenze gegenüberstehenden
Gebäudeseite, jedoch nicht unter 4 m verlangt. Die genannte Entscheidung verneint zwar eine nachbarschützende Wirkung der Forderung nach
einem Abstand in Höhe des Gebäudes, tendiert aber bereits zur Annahme einer nachbarschützenden Wirkung der - mit der vorliegenden
Vorschrift unter Umständen vergleichbaren - Festsetzung eines Mindestabstands von 4 m, wenn auch die Frage nicht näher erläutert und
beantwortet wird, weil der Grenzabstand in jenem Fall eingehalten war.
10 c) Die Antragsteller können sich auf einen Verstoß gegen § 38 Abs. 6 OBS auch berufen. Zwar ist nach dem auch im nachbarlichen
Gemeinschaftsverhältnis geltenden Grundsatz von Treu und Glauben ein Nachbar gehindert, einen Verstoß gegen nachbarschützende
Vorschriften geltend zu machen, wenn er in vergleichbarer Weise gegen diese Vorschrift verstoßen hat (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom
18.11.2002 - 3 S 882/02 -, VBlBW 2003, 23 mit Hinweisen auf die Rechtsprechung zahlreicher Oberverwaltungsgerichte). § 38 Abs. 6 OBS ist auf
das Wohngebäude der Antragsteller, welches ebenfalls keinen Abstand von 4 m zur Grenze der Beigeladenen einhält, aber nicht anwendbar.
Denn das Wohngebäude der Antragsteller ist kein Hintergebäude, für welches der Abstand des § 38 Abs. 6 OBS gilt.
11 Wie der beschließende Gerichtshof zum Begriff des Hintergebäudes in §§ 30 und 32 der Badischen Landesbauordnung vom 01.09.1907
entschieden hat (Urteil vom 06.12.1960 - III 20/60 -, Leitsatz in Juris, im Übrigen nicht veröffentlicht), kommt es darauf an, ob das zu beurteilende
Gebäude von der Straße aus gesehen in einem natürlichen Sinne hinter einem an der Bauflucht stehenden Vordergebäude gelegen ist. Im
Verhältnis zur Straße ist jedes Gebäude als Hintergebäude anzusehen, das nicht unwesentlich hinter der Reihe der in der Bauflucht stehenden
Gebäude zurücksteht. Diese Auslegung des Begriffs des Hintergebäudes lässt sich auf Art. 56 (wie auch auf Art. 48 Abs. 2, 53 Abs. 4) WürttBauO
und den darauf gestützten § 38 Abs. 6 OBS übertragen. Diese Regelungen stellen in mit §§ 30, 32 der Badischen Landesbauordnung
vergleichbarer Weise Anforderungen an Hintergebäude (beispielsweise hinsichtlich der zulässigen Größe, der Höhe, der Geschosszahl).
12 Nach diesen Grundsätzen ist das Gebäude der Antragsteller nicht als Hintergebäude zu betrachten. Es steht nicht hinter einer Reihe von in einer
Bauflucht stehenden Gebäuden. Denn die Baufluchten entlang der ...straße und der ... Straße sind nicht maßgebend. Das Gebäude der
Antragsteller ist in Beziehung zu setzen zur ...straße (Flst.Nr. ...), auch wenn diese nur als kurzer, ca. 22 m langer Straßenstich in das Hinterland
der ...straße hinein reicht. Im Verhältnis zur ...straße kann das Gebäude der Antragsteller nicht als Hintergebäude betrachtet werden. Es steht
bezogen auf diese Straße nicht hinter der Reihe von in einer Bauflucht stehenden Gebäuden. Zwischen seiner Westseite und der westlich
gelegenen, dort als Sackgasse endenden ...straße, der das Gebäude zugewandt ist, liegt lediglich ein ca. 6 m breites freies Gelände, das nicht
selbständig bebaubar ist. Das Gebäude der Antragsteller kann daher im Verhältnis zur ...straße nicht als Hintergebäude angesehen werden (vgl.
hierzu auch VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 01.02.1993 - 8 S 2796/92 -, Juris). Damit ist den Antragstellern die Berufung auf die nur für
Hintergebäude geltende Vorschrift nicht verwehrt.
13 d) Die von der Antragsgegnerin wegen des Verstoßes des Bauvorhabens gegen § 38 Abs. 6 OBS erteilte Befreiung ist rechtswidrig und verletzt
die Antragsteller in ihren Rechten. Da von einer nachbarschützenden Festsetzung befreit wurde, können sie verlangen, dass die Befreiung in
vollem Umfang rechtsfehlerfrei ist. Dazu gehört auch eine fehlerfreie Ermessensentscheidung. Die von der Antragsgegnerin ausgesprochene
Befreiung leidet jedoch an Ermessensfehlern. Die Antragsgegnerin hat das ihr eingeräumte Ermessen nicht in einer dem Zweck der
Ermächtigung entsprechenden Weise ausgeübt (§ 114 VwGO). Sie hat die Zulässigkeit einer solchen Befreiung anhand des § 31 Abs. 2 BauGB
beurteilt und aus Gründen der städtebaulichen Vertretbarkeit (§ 31 Abs. 2 Nr. 2 BauGB) erteilt. Diese Vorschrift ist jedoch im vorliegenden Fall
nicht anwendbar. Die Zulässigkeit einer Befreiung von dem als bauordnungsrechtliche Vorschrift übergeleiteten § 38 Abs. 6 OBS richtet sich
vielmehr nach § 56 Abs. 5 LBO. Danach kann von den Vorschriften aufgrund dieses Gesetzes (wozu auch die nach dem Gesetz übergeleiteten
Bestimmungen gehören) Befreiung erteilt werden, wenn die Einhaltung der Vorschrift im Einzelfall zu einer offenbar nicht beabsichtigten Härte
führen würde (Nr. 2). Es spricht einiges dafür, dass die Voraussetzungen dieser Bestimmung erfüllt sind. Eine besondere Härte könnte
möglicherweise darin gesehen werden, dass das Grundstück aufgrund seines schmalen Zuschnitts bei einer Einhaltung des Mindestabstandes
von 4 m zu allen Eigentumsgrenzen nicht mit einem Wohngebäude bebaubar wäre.
14 Die vorliegende Befreiungsentscheidung ist aber selbst dann rechtswidrig, wenn die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 56 Abs. 5 LBO für
eine Befreiung von der Abstandsvorschrift des § 38 Abs. 6 OBS vorliegen. Denn es liegt jedenfalls ein Ermessensfehlgebrauch vor, weil die
Antragsgegnerin ihre Ermessensentscheidung auf eine unzutreffende Rechtsgrundlage gestützt hat (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, Komm., 16. Aufl.,
2007, § 114 RdNr. 12). Die auf § 31 Abs. 2 Nr. 2 BauGB gestützten Ermessenserwägungen tragen eine Befreiungsentscheidung nach § 56 Abs.
5 LBO nicht, da sich die Zwecksetzungen der Vorschriften in wesentlicher Hinsicht unterscheiden. Zudem ist das Interesse der Nachbarn an der
Einhaltung von nachbarschützenden Vorschriften mit anderem Gewicht in die Abwägung einzustellen als ihr Interesse an der Einhaltung einer
nicht nachbarschützenden Vorschrift. Eine dementsprechende Gewichtung der entgegenstehenden Belange hat die Antragsgegnerin aber nicht
vorgenommen. Sie hat die Belange der Antragsteller auf die Maßstäbe des Gebots der Rücksichtnahme beschränkt. Bei der Befreiung von einer
nachbarschützenden Vorschrift sind die Belange des Nachbarn bei der Ermessensausübung aber nicht erst dann zu berücksichtigen, wenn sich
das Bauvorhaben ihnen gegenüber als rücksichtslos erweist. Vielmehr ist es im Rahmen einer Befreiung von nachbarschützenden Vorschriften
geboten, die Belange des Nachbarn auch dann zu berücksichtigen, wenn sie durch das genehmigte Bauvorhaben in einer Weise betroffen
werden, die unterhalb der Schwelle des Rücksichtnahmegebots liegt.
15 Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1 und 3, 159 Satz 1 VwGO, 100 Abs. 1 ZPO. Die Beigeladene war an den Kosten des ersten
Rechtszuges zu beteiligen, da sie im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht einen Antrag gestellt hat (§ 154 Abs. 3 VwGO).
16 Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 47 Abs. 1 Satz 1, 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Nrn. 1.5 und 9.7.1 des Streitwertkatalogs 2004
für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.
17 Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).