Urteil des VGH Baden-Württemberg vom 16.04.2008

VGH Baden-Württemberg: aufenthaltserlaubnis, ausnahmefall, abschiebung, erfüllung, sicherheit, probe, lebensgemeinschaft, ausländer, kosovo, wiederherstellung

VGH Baden-Württemberg Beschluß vom 16.4.2008, 11 S 100/08
Versagung der Aufenthaltserlaubnis auf Probe
Leitsätze
Ein Ausnahmefall, der trotz Erfüllung der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 104 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG die Versagung der sog.
Aufenthaltserlaubnis auf Probe rechtfertigt, kann angenommen werden, wenn zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Erteilung der
Aufenthaltserlaubnis mit hinreichender Sicherheit prognostiziert werden kann, dass die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis weder nach § 104 a
Abs. 5 AufenthG noch nach den Härtefallvorschriften des § 104 a Abs. 6 AufenthG in Betracht kommen wird.
Tenor
Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 6. Dezember 2007 - 3 K 2531/07 - wird
zurückgewiesen.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 10.000,-- EUR festgesetzt.
Gründe
1
Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 06.12.2007, mit dem dem Antragsgegner im
Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig untersagt wurde, die Antragstellerinnen abzuschieben, ist zwar fristgerecht eingelegt (§ 147 Abs. 1
VwGO) und begründet worden (§ 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO) und auch sonst zulässig. Die Beschwerde hat jedoch keinen Erfolg. Die von dem
Antragsgegner vorgebrachten Gründe, auf deren Prüfung sich das Beschwerdeverfahren grundsätzlich zu beschränken hat (vgl. § 146 Abs. 4
Satz 6 VwGO), gebieten keine andere Entscheidung.
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Das Verwaltungsgericht hat dem Antrag nach § 123 Abs. 1 VwGO zu Recht stattgegeben. Denn die Antragstellerinnen haben sowohl das
Vorliegen eines Anordnungsgrundes, - der Antragsgegner beabsichtigt, sie abzuschieben -, als auch die Voraussetzungen eines
Anordnungsanspruchs glaubhaft gemacht (vgl. § 123 Abs. 1 und 3 VwGO, §§ 920, Abs. 2, 294 ZPO). Ebenso wie das Verwaltungsgericht geht
der Senat bei der im Eilverfahren allein angezeigten und möglichen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage davon aus, dass die nach
Abschluss der jeweiligen Asylverfahren geduldeten Antragstellerinnen voraussichtlich einen Anspruch auf Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen
nach § 104 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG haben. Für die Dauer eines Erteilungsverfahrens für einen Aufenthaltstitel kann ausnahmsweise durch eine
einstweilige Anordnung gemäß § 123 VwGO eine Aussetzung der Abschiebung erwirkt werden, wenn nur so sichergestellt werden kann, dass
eine ausländerrechtliche Regelung einem möglicherweise Begünstigten zugute kommt, wobei das Vorliegen der Voraussetzungen glaubhaft zu
machen ist. In diesem Fall ist zur Sicherung effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG) eine Ausnahme von dem Grundsatz zu machen,
dass die Erteilung einer Duldung für die Dauer eines Aufenthaltserlaubnisverfahrens aus gesetzessystematischen Gründen ausscheidet, wenn
ein vorläufiges Bleiberecht nach § 81 AufenthG nicht eingetreten ist (vgl. OVG NRW, Beschl. v. 12.02.2008 - 18 B 230/08 - juris). Vorliegend droht
den Antragstellerinnen durch die Abschiebung ein vollständiger Rechtsverlust: Der Senat geht davon aus, dass ein möglicher Anspruch nach §
104 a AufenthG voraussetzt, dass der Betreffende sich (geduldet oder jedenfalls mit einem Duldungsanspruch) in Deutschland aufhält (vgl. OVG
NRW, Beschl. v. 30.08.2007 - 18 B 1349/07 - juris).
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Bei Erfüllung der tatbestandlichen Voraussetzungen „soll“ die Aufenthaltserlaubnis nach § 104 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG erteilt werden. Dies
bedeutet, dass im Regelfall ein Rechtsanspruch auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis besteht und eine Versagung nur in atypischen
Ausnahmefällen in Betracht kommt. Ob ein Ausnahmefall vorliegt, ist gerichtlich voll überprüfbar. Grundsätzlich und im Regelfall wird der
Aufenthaltstitel dem Personenkreis nach § 104 a Abs. 1 AufenthG erteilt, auch wenn der Lebensunterhalt nicht im Sinne des § 5 Abs. 1 Nr. 1
i.V.m. § 2 Abs. 3 AufenthG gesichert ist (Funke-Kaiser in GK-AufenthG, § 104 a Rn. 61). Da auch der Titel nach § 104 a Abs. 1 Satz 3 i.V.m. Satz 1
AufenthG darauf angelegt ist, in eine eigenständige Sicherung des Lebensunterhalts zu münden, kann ein Ausnahmefall bejaht und bereits die
erstmalige Erteilung abgelehnt werden, wenn schon zum Zeitpunkt der erstmaligen Erteilung mit hinreichender Sicherheit prognostiziert werden
kann, dass der Ausländer eine eigenständige Sicherung auf Dauer nicht erreichen wird und im Verlängerungsfall auch die Voraussetzungen
eines Härtefalls im Sinne des Absatzes 6 nicht vorliegen werden. Bloße Zweifel genügen jedoch insoweit nicht, denn das System der
Legalisierung nach § 104 a AufenthG ist gerade auf Probe angelegt (Funke-Kaiser, a.a.O. Rn. 64). Ein Ausnahmefall, der trotz Erfüllung der
tatbestandlichen Voraussetzungen die Versagung der Aufenthaltserlaubnis rechtfertigt, kann insoweit nur angenommen werden, wenn mit
hinreichender Sicherheit absehbar ist, dass die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis weder nach § 104 a Abs. 5 AufenthG noch nach den
Härtefallvorschriften des § 104 a Abs. 6 AufenthG in Betracht kommen wird.
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Daran gemessen liegt hier kein Ausnahmefall vor, der trotz Erfüllung der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 104 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG
die Versagung der Aufenthaltserlaubnis rechtfertigen könnte.
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Entgegen der Auffassung des Antragsgegners liegt ein atypischer Sachverhalt nicht darin begründet, dass der Ehemann der Antragstellerin zu 1
und Vater der Antragstellerinnen zu 2 bis 4 am 23.01.2007 abgeschoben worden ist und von der Abschiebung der Restfamilie nur wegen einer
schwangerschaftsbedingten vorübergehenden Reiseunfähigkeit der Antragstellerin zu 1 abgesehen wurde. § 104 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG
differenziert nicht nach bestimmten Duldungsgründen. Maßgeblich für das Eingreifen der gesetzlichen Altfallregelung ist nach der Konzeption
des Gesetzes - neben den weiteren in § 104 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 - 6 AufenthG normierten Voraussetzungen - allein die Aufenthaltsdauer. Ob und
aus welchen Gründen sich der Ausländer geduldet, gestattet oder mit einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen im Bundesgebiet
aufgehalten hat, ist - abgesehen von Fällen des Rechtsmissbrauchs - unerheblich und kann auch für die Frage, ob ein Ausnahmefall gegeben ist,
keine Rolle spielen.
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Eine Atypik liegt auch nicht darin, dass der Vater der Antragstellerinnen zu 2 bis 4 (mit-)sorgeberechtigt ist und die Anwendung der
Altfallregelung auf die Antragstellerinnen ihn „von der Wahrnehmung des Sorgerechts ausschließen würde“. Der Vater der Antragstellerinnen zu
2 bis 4 hat keinen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gestellt und ist auch bei der Frage der Atypik nicht mit in den Blick zu nehmen.
Zum einen hat die Antragstellerin zu 1 im Beschwerdeverfahren durch Vorlage einer eidesstattlichen Versicherung glaubhaft gemacht, dass sie
seit der Abschiebung im Januar 2007 keinen Kontakt mehr zu ihrem Ehemann hat und ihr seine aktuelle Adresse nicht bekannt ist. Zum anderen
würde er durch die Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen an die Antragstellerinnen auch nicht von der Wahrnehmung seines Sorgerechts
ausgeschlossen. Nicht die mögliche Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen an die Antragstellerinnen, sondern die Sperrwirkung der
Abschiebung (§ 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG) hindert ihn an der Ausübung des Sorgerechts im Bundesgebiet. Die Antragstellerinnen sind zudem
bei der Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen zum Verbleib im Bundesgebiet berechtigt, nicht aber verpflichtet. Es steht ihnen frei, zum Zweck
der Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft in das Kosovo auszureisen. Entgegen der Auffassung des Antragsgegners ist auch die
Wiederherstellung der familiären Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet, falls dies zu einem späteren Zeitpunkt angestrebt werden sollte,
keineswegs ausgeschlossen. Zwar könnte dem Vater der Antragstellerinnen zu 2 bis 4 keine Aufenthaltserlaubnis nach § 104 a AufenthG erteilt
werden. Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug nach Abschnitt 6 des Aufenthaltsgesetzes ist durch § 29 Abs. 3 Satz 3
AufenthG ausgeschlossen. In der Rechtsprechung des Senats ist aber geklärt, dass § 29 Abs. 3 Satz 3 AufenthG der Erteilung einer
Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG zum Schutz von Ehe und Familie nicht entgegensteht (Senatsurteil vom 18.04.2007 - 11 S
1035/06 - AuAS 2007, 219).
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Schließlich lässt sich nicht mit der erforderlichen Sicherheit prognostizieren, dass die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnisse mangels
eigenständiger Sicherung des Lebensunterhalts ausgeschlossen sein wird. Erforderlich ist insoweit entgegen der Auffassung des
Antragsgegners nicht eine positive Prognose hinsichtlich der künftigen Sicherung des Lebensunterhalts. Vielmehr kommt ein Ausnahmefall unter
diesem Gesichtspunkt nur in Betracht, wenn zum Zeitpunkt der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach § 104 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG
hinreichend sicher ist, dass eine Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis ausscheidet. Diese Prognose ist nur in extremen Ausnahmefällen
gerechtfertigt. Hier ist zwar absehbar, dass die Antragstellerin zu 1 insbesondere aufgrund ihrer geringen Qualifikation Schwierigkeiten auf dem
Arbeitsmarkt haben wird. Dies rechtfertigt aber nicht die sichere Prognose, es sei ausgeschlossen, dass sie ein Einkommen in Höhe des
Sozialhilfebedarfs der Familie erzielen werde. Zudem dürfte, solange die am 17.04.2007 geborene Antragstellerin zu 4 das 3. Lebensjahr noch
nicht vollendet hat, eine Verlängerung nach § 104 a Abs. 6 Satz 2 Nr. 3 AufenthG in Betracht kommen.
8
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
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Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 63 Abs. 2 Satz 1, 47 Abs. 1 Satz 1, 52 Abs. 1 und 2, 53 Abs. 3 Nr. 1, 39 Abs. 1 GKG.
10 Dieser Beschluss ist unanfechtbar.