Urteil des VGH Baden-Württemberg vom 17.02.2011
VGH Baden-Württemberg: anspruch auf bewilligung, gebühr, bestandteil, einbau, satzung, angemessenheit, synovektomie, kontrolle, orthopädie, operation
VGH Baden-Württemberg Urteil vom 17.2.2011, 2 S 595/10
GOÄ 1982 Ziffer 2119 ist Bestandteil von GOÄ 1982 Ziffer 2144
Leitsätze
Bei der in der GOÄ-Ziff. 2119 beschriebenen "operativen Entfernung freier Gelenkkörper oder Fremdkörperentfernung aus dem Schulter-,
Ellenbogen- oder Kniegelenk" handelt es sich um einen methodisch notwendigen Bestandteil der in der GOÄ-Ziff. 2144 aufgeführten ärztlichen
Leistung ("operativer Einbau eines künstlichen Ellenbogen- oder Kniegelenks"). Für diese Leistung kann deshalb gemäß § 4 Abs. 2a S. 2 GOÄ
neben einer Gebühr nach der GÖA-Ziff. 2144 keine weitere Gebühr nach der GOÄ-Ziff. 2119 berechnet werden.
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 8. Februar 2010 - 12 K 2108/09 - geändert, soweit das
Verwaltungsgericht der Klage stattgegeben hat. Die Klage wird insgesamt abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
1
Der Kläger begehrt von der Beklagten Kassenleistungen zum Ersatz der seiner Ehefrau für eine Knieoperation entstandenen Aufwendungen.
2
Der Kläger ist Mitglied der Beklagten mit einem Bemessungssatz von 30 %. Seine Ehefrau befand sich im November 2007 wegen
Kniebeschwerden in stationärer ärztlicher Behandlung. Dabei wurde ihr am 11.11.2007 ein künstliches Kniegelenk eingesetzt. Für die während
des Krankenhausaufenthalts erbrachten Leistungen wurden der Ehefrau des Klägers 3.096,01 EUR in Rechnung gestellt. In der Rechnung
werden dafür u.a. die GOÄ-Ziffern 2144 ("Op. Einbau/Ellenbg. oder Kniegelenk"), 2119 ("Op. Entf. Gelenk- od. Fremdkörper") und 2112
("Synovektomie/Gelenk") genannt.
3
Auf den mit Schreiben vom 28.2.2008 gestellten Erstattungsantrag des Klägers bat die Beklagte die ... ... GmbH um Stellungnahme zu der
Rechnung. In dem daraufhin erstellten Kurz-Gutachten vom 8.5.2008 heißt es, bei sieben der in der Rechnung enthaltenen GOÄ-Ziffern sei statt
des 3,5-fachen nur der 2,3-fache Gebührensatz angemessen, die GOÄ-Ziff. 212 sei nicht dokumentiert.
4
Die Beklagte anerkannte daraufhin in ihrem Bescheid vom 15.5.2008 statt 3.096,01 EUR nur 2.565,79 EUR als erstattungsfähig an und gewährte
auf dieser Grundlage Kassenleistungen in Höhe von (30 % von 2.565,79 EUR =) 769,74 EUR. Auf den dagegen eingelegten Widerspruch des
Klägers bewilligte die Beklagte am 6.5.2009 weitere Kassenleistungen von 23,12 EUR. Im Übrigen wurde der Widerspruch zurückgewiesen. Zur
Begründung für die teilweise Zurückweisung des Widerspruchs führte die Beklagte aus, der Ehefrau des Klägers sei die GOÄ-Ziff. 2119 (u.a.)
neben der GOÄ-Ziff. 2144, die den operativen Einbau eines künstlichen Ellenbogen- oder Kniegelenks beinhalte, berechnet worden.
Entsprechend der Vorgabe des § 4 Abs. 2a GOÄ sei davon auszugehen, dass es sich bei der Gelenkentfernung um einen methodischen
Bestandteil der operativen Zielleistung handele. Eine Berechnung der GOÄ-Ziff. 2118 und 2119 neben anderen gelenkeröffnenden Eingriffen sei
nach der Kommentierung zur GOÄ nicht zulässig. Die GOÄ-Ziff. 2584 sei nach dem Operationsbericht für eine Verlagerung des unterhalb des
Kniegelenks liegenden Nervs berechnet worden. Dafür, dass die Leistung aufgrund einer eigenständigen Indikation erbracht worden sei, sei den
schriftlichen Erläuterungen nichts zu entnehmen. Eine solche Selbständigkeit liege auch nach den Feststellung des Gutachters nicht vor.
Vielmehr sei davon auszugehen, dass die Leistungserbringung im Zusammenhang mit der Leistung nach der GOÄ-Ziff. 2144 stehe.
5
Der Kläger hat am 2.6.2009 beim Verwaltungsgericht Stuttgart Klage erhoben mit dem sinngemäßen Antrag, die Beklagte zu verpflichten, ihm
weitere Kassenleistungen in Höhe von 135,95 EUR zu bewilligen und die Bescheide der Beklagten vom 15.5.2008 und 6.5.2009 aufzuheben,
soweit sie dem entgegen stehen.
6
Das Verwaltungsgericht Stuttgart hat mit Urteil vom 8.2.2010 die Beklagte verpflichtet, dem Kläger weitere Kassenleistungen in Höhe von 67,94
EUR zu bewilligen und die Bescheide der Beklagten vom 15.5.2008 und 6.5.2009 aufgehoben, soweit sie dem entgegenstehen. Im Übrigen hat
es die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat das Verwaltungsgericht ausgeführt: Der Kläger habe Anspruch auf die Bewilligung weiterer
Kassenleistungen, soweit in der Rechnung vom 15.2.2008 neben der GOÄ-Ziff. 2144 auch die GOÄ-Ziff. 2119 abgerechnet worden sei. Die in
den Gutachten vom 11.7. und 4.9.2008 vertretene Ansicht entspreche der in der Rechtsprechung und der Literatur verbreiteten Auffassung,
wonach die GOÄ-Ziff. 2144 für die Einsetzung eines künstlichen Gelenks stets die Entfernung des vorhandenen Gelenks mitabdecke. Allerdings
werde in der Rechtsprechung und der Literatur auch das Gegenteil vertreten, nämlich dass außer der GOÄ-Ziffer für die Einsetzung eines
künstlichen Gelenks auch die GOÄ-Ziffer für die vollständige Entfernung des vorhandenen Gelenks abgerechnet werden könne. Dies wäre hier
an Stelle der GOÄ-Ziff. 2119 die noch weitergehende GOÄ-Ziff. 2124. Der von dem Leistungserbringer gewählte Weg, neben der
Gelenkersatzoperation nicht die gesamte Resektion des vorhandenen Gelenks, sondern die Entfernung von Gelenkkörpern abzurechnen,
erscheine daher als vorzugswürdiger Kompromiss, zumal auch der erste von der Beklagten beauftragte Gutachter keinen Anstoß an diesem
Vorgehen genommen habe. Im Übrigen habe die Beklagte die Erstattungsfähigkeit der geltend gemachten Aufwendungen zu Recht verneint. Die
in den Gutachten vom 11.7. und 4.9.2008 vertretene Ansicht, dass neben der GOÄ-Ziff. 2114 nicht auch noch die GOÄ-Ziff. 2584 abgerechnet
werden könne, beruhe auf einer nicht zu beanstandenden Anwendung des in § 4 Abs. 2a GOÄ geregelten Zielleistungsprinzips.
7
Gegen das am 12.2.2010 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 12.3.2010 die vom Verwaltungsgericht zugelassene Berufung eingelegt, die sie
am 12.4.2010 begründet hat. Sie macht geltend: Neben der GOÄ-Ziff. 2119 dürften keine GOÄ-Ziffern für andere gelenkeröffnende Eingriffe
berechnet werden. Dies stehe im Einklang mit den jüngsten Entscheidungen des Bundesgerichtshofs zur Anwendung des Zielleistungsprinzips.
Während die eigenständige Entfernung freier Gelenkkörper und die damit verbundenen vorbereitenden operativen Maßnahmen einer
Gelenkeröffnung einen Arbeitsaufwand erforderten, der dem beim Einbau eines künstlichen Kniegelenks ähnele, sei dies bei der Entfernung
freier Gelenkkörper bei bereits eröffnetem Situs nicht der Fall. Die Entfernung sei mit ein bis zwei Handgriffen erledigt. Der dieser Ziffer
zugeordnete hohe Punktwert sei daher nicht gerechtfertigt.
8
Die Beklagte beantragt,
9
das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 8.2.2010 - 12 K 2108/09 - zu ändern, soweit das Verwaltungsgericht der Klage
stattgegeben hat, und die Klage insgesamt abzuweisen.
10 Der Kläger beantragt,
11
die Berufung zurückzuweisen.
12 Er verteidigt das angefochtene Urteil.
13 Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Akten des Verwaltungsgerichts sowie auf die Schriftsätze der Beteiligten Bezug
genommen.
Entscheidungsgründe
14 Die Berufung der Beklagten ist begründet. Entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts hat der Kläger keinen Anspruch auf Bewilligung
weiterer Kassenleistungen zum Ersatz der seiner Ehefrau entstandenen Aufwendungen, soweit diese neben der GOÄ-Ziff. 2144 auch die GOÄ-
Ziff. 2119 umfassen. Das Verwaltungsgericht hätte die Klage deshalb auch insoweit abweisen müssen.
15 1. Nach § 30 Abs. 1 S. 1 der Satzung der Beklagten in ihrer hier maßgeblichen Fassung vom 1.10.2007 haben die Mitglieder der Beklagten für
sich und die mitversicherten Angehörigen Anspruch auf die in den §§ 31 bis 48 festgelegten Leistungen. Aufwendungen sind erstattungsfähig,
wenn die zugrunde liegenden Maßnahmen medizinisch dem Grunde nach notwendig waren und soweit sie wirtschaftlich angemessen sind. Die
Entscheidung darüber unterliegt uneingeschränkter verwaltungsgerichtlicher Kontrolle (vgl. BVerwG, Urt. v. 20.3.2008 - 2 C 19.06 - NVwZ-RR
2008, 713 zu der ähnlichen Regelung in § 5 Abs. 1 Satz 1 BhV).
16 Die wirtschaftliche Angemessenheit der Aufwendungen für ärztliche Leistungen beurteilt sich gemäß § 30 Abs. 3 S. 3 der Satzung der Beklagten
nach dem Gebührenrahmen der Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ). Die Satzung verzichtet damit auf eine eigenständige Umschreibung des
Begriffs der "Angemessenheit" und verweist stattdessen auf die Vorschriften der genannten Gebührenordnung. Angemessen und folglich
erstattungsfähig sind danach Aufwendungen, die dem Arzt nach Maßgabe der GOÄ zustehen.
17 2. Das einen Teil der GOÄ bildende Gebührenverzeichnis führt - in über 2.000 Gebührenpositionen und unterteilt nach den verschiedenen
Fachgebieten - die möglichen ärztlichen Leistungen auf und ordnet ihnen jeweils eine Gebührenziffer zu. Die Frage, welche von mehreren
gleichzeitig oder im Zusammenhang erbrachten ärztlichen Leistungen selbständig berechnungsfähig sind, richtet sich außer den im
Gebührenverzeichnis selbst enthaltenen Regelungen nach § 4 Abs. 2a GOÄ. Danach kann der Arzt für eine Leistung, die Bestandteil oder eine
besondere Ausführung einer anderen Leistung nach dem Gebührenverzeichnis ist, eine Gebühr nicht berechnen, wenn er für die andere
Leistung eine Gebühr berechnet. Dies gilt nach § 4 Abs. 2a S. 2 GOÄ auch für die zur Erbringung der im Gebührenverzeichnis aufgeführten
operativen Leistungen methodisch notwendigen operativen Einzelschritte.
18 In den dem Abschnitt L (Chirurgie, Orthopädie) des Gebührenverzeichnisses vorangestellten Allgemeinen Bestimmungen werden Inhalt und
Tragweite dieses als Zielleistungsprinzip bezeichneten Grundsatzes näher verdeutlicht. In den Bestimmungen wird dazu darauf hingewiesen,
dass zur Erbringung der in Abschnitt L aufgeführten typischen operativen Leistungen in der Regel mehrere operative Einzelschritte erforderlich
sind und dass diese Einzelschritte, soweit sie methodisch notwendige Bestandteile der in der jeweiligen Leistungsbeschreibung genannten
Zielleistung sind, nicht gesondert berechnet werden können. Der hinter dieser Regelung stehende Gedanke leuchtet unmittelbar ein: Der Arzt
darf ein und dieselbe Leistung, die zugleich Bestandteil einer von ihm gleichfalls vorgenommenen umfassenderen Leistung ist, nicht zweimal
abrechnen. Daraus folgt zugleich, dass Leistungen, die nicht Bestandteil einer anderen abgerechneten Leistung sind, abrechenbar sind, soweit
es sich um selbständige Leistungen handelt (BGH, Urt. v. 5.6.2008 - III ZR 239/07 - NJW-RR 2008, 1278).
19 Geben unterschiedliche Gebührenpositionen, die ihrer Legende nach in dem konkreten Fall erfüllt worden sind, keine näheren Hinweise über ihr
Verhältnis zueinander, ist demnach zu prüfen, ob es sich um jeweils selbständige Leistungen handelt oder ob eine oder mehrere von ihnen als
Zielleistung und die anderen als deren methodisch notwendigen Bestandteile anzusehen sind. Dabei ist - wie auch sonst bei der Auslegung von
Gesetzen - ein abstrakt-genereller Maßstab zugrunde zu legen. Das ergibt sich daraus, dass der Verordnungsgeber in Abs. 1 S. 1 der
Allgemeinen Bestimmungen von "typischen" operativen Leistungen spricht und in S. 2 bezüglich der Einzelschritte die mangelnde
Berechenbarkeit davon abhängig macht, dass sie "methodisch" notwendige Bestandteile der Zielleistung sind (BGH, Urt. v. 5.6.2008 aaO).
20 3. Gemessen an diesen Grundsätzen sind die Voraussetzungen für eine kumulative Berechnung der in der GOÄ-Ziff. 2119 und 2144
beschriebenen operativen Leistungen nicht gegeben, da es sich bei den Leistungen gemäß GOÄ-Ziff. 2119 um methodisch notwendige
Bestandteile der in der GOÄ-Ziff. 2144 genannten Leistungen handelt.
21 Bei der am 11.11.2007 vorgenommenen Operation wurde am linken Bein der Ehefrau des Klägers ein künstliches Kniegelenk eingesetzt. In der
Rechnung vom 15.2.2008 wird für diese Leistung zu Recht eine Gebühr nach der GOÄ-Ziff. 2144 berechnet. Zur Erbringung der in dieser
Gebührenziffer beschriebenen Leistung ("operativer Einbau eines künstlichen Ellenbogen- oder Kniegelenks") bedarf es mehrerer operativer
Einzelschritte, nämlich zum einen der Entfernung der geschädigten Teile des natürlichen Gelenks und zum anderen des Einsatzes eines
künstlichen Gelenks (Teil- oder Totalprothese). Bei der in der GOÄ-Ziff. 2119 beschriebenen "operativen Entfernung freier Gelenkkörper oder
Fremdkörperentfernung aus dem Schulter-, Ellenbogen- oder Kniegelenk" handelt es sich somit um einen methodisch notwendigen Bestandteil
der in der GOÄ-Ziff. 2144 aufgeführten, als Zielleistung anzusehenden ärztlichen Leistung. Für diese Leistung kann deshalb gemäß § 4 Abs. 2a
S. 2 GOÄ neben einer Gebühr nach der GÖA-Ziff. 2144 keine weitere Gebühr nach der GOÄ-Ziff. 2119 berechnet werden.
22 4. Das Verwaltungsgericht hat davon abgesehen übersehen, dass in der Rechnung vom 15.2.2008 außer einer Gebühr nach der GOÄ-Ziff. 2119
auch eine Gebühr nach der GOÄ-Ziff. 2112 ("Synovektomie in einem Schulter-, Ellenbogen- oder Kniegelenk") berechnet wird. Insoweit trifft
bereits die GOÄ eine eindeutige Regelung, da es in Abs. 1 des dem Abschnitt L III (Gelenkchirurgie) des Gebührenverzeichnisses
vorangestellten Allgemeinen Bestimmungen heißt, dass Leistungen nach (u. a.) den Nummern 2112 und 2119, die an demselben Gelenk im
Rahmen derselben Sitzung erbracht werden, nicht mehrfach und nicht nebeneinander berechnungsfähig sind. Für einen Ansatz der GOÄ-Ziff.
2119 besteht somit auch aus diesem Grund kein Raum.
23 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
24 Die in § 132 Abs. 2 VwGO genannten Voraussetzungen für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor.
25
Beschluss
26 Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 67,94 EUR festgesetzt (§ 52 Abs. 3 GKG).
27 Der Beschluss ist unanfechtbar.