Urteil des VGH Baden-Württemberg vom 04.08.2009

VGH Baden-Württemberg: aufschiebende wirkung, anhörung, ordnungswidrigkeit, täterschaft, verfügung, erfüllung, eigenschaft, geschwindigkeitsüberschreitung, auskunftspflicht, verwaltungsgerichtsbarkeit

VGH Baden-Württemberg Beschluß vom 4.8.2009, 10 S 1499/09
Verpflichtung der Bußgeldbehörde zu angemessenen und zumutbaren Schritten zur Ermittlung des Täters einer Zuwiderhandlung gegen
Verkehrsvorschriften erfordert die Anhörung des Kraftfahrzeughalters als Zeuge, wenn dieser keinesfalls der Fahrer sein kann
Leitsätze
Zur Erfüllung ihrer Verpflichtung zu angemessenen und zumutbaren Schritten zur Ermittlung des Täters einer Zuwiderhandlung gegen
Verkehrsvorschriften muss die Bußgeldbehörde den Halter eines Kraftfahrzeugs im Ordnungswidrigkeitenverfahren als Zeugen und nicht als
Betroffenen anhören, wenn feststeht (z. B. aufgrund des Geschwindigkeitsmessphotos), dass der Kraftfahrzeughalter keinesfalls der verantwortliche
Fahrzeugführer sein kann. Denn im Gegensatz zur Anhörung als Betroffener wegen des dann bestehenden Aussageverweigerungsrechts ist der
Halter bei der Anhörung als Zeuge grundsätzlich zur Aussage und damit zur Mitwirkung an der Aufklärung der Täterschaft verpflichtet.
Tenor
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 9. Juni 2009 - 7 K 1064/09 - geändert. Die
aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin gegen die Verfügung des Landratsamtes Ostalbkreis vom 16.03.2009 wird
wiederhergestellt.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge.
Der Streitwert des Beschwerdeverfahrens wird auf 2.400,- EUR festgesetzt.
Gründe
1 Die Beschwerde ist zulässig und begründet.
2 Nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO ist der Prüfungsumfang des Beschwerdegerichts bei Beschwerden gegen Beschlüsse des Verwaltungsgerichts in
Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes beschränkt. Danach prüft der Verwaltungsgerichtshof nur die in einer rechtzeitig eingegangenen
Beschwerdebegründung dargelegten Gründe. Auf dieser Grundlage hat die Beschwerde Erfolg. Die in der Beschwerdebegründung dargelegten
Gründe führen dazu, dass die vom Gericht im Rahmen des § 80 Abs. 5 Satz 1 2. Alt. VwGO vorzunehmende Abwägung zu Gunsten des Interesses
der Antragstellerin ausfällt, vom Vollzug der Ziff. 1 der Anordnung des Landratsamtes Ostalbkreis vom 16.03.2009 vor einem endgültigen Urteil
über die Rechtmäßigkeit dieses Verwaltungsaktes verschont zu bleiben.
3 Das Aufschubinteresse der Antragstellerin überwiegt gegenüber dem öffentlichen Vollzugsinteresse, weil zum Zeitpunkt der Entscheidung des
Senats nach der im vorläufigen Rechtsschutzverfahren gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage Zweifel an der
Rechtmäßigkeit der Fahrtenbuchauflage bestehen. Nach § 31a Abs. 1 Satz 1 StVZO kann die Verwaltungsbehörde gegenüber einem
Fahrzeughalter für ein oder mehrere auf ihn zugelassene oder künftig zuzulassende Fahrzeuge die Führung eines Fahrtenbuchs anordnen, wenn
die Feststellung eines Fahrzeugführers nach einer Zuwiderhandlung gegen Verkehrsvorschriften nicht möglich war. Wortlaut der gesetzlichen
Regelung und deren Zweck setzen für die Anordnung einer Fahrtenbuchauflage voraus, dass die für die Verfolgung der Zuwiderhandlung gegen
Verkehrsvorschriften zuständige Behörde sämtliche nach Sachlage bei verständiger Beurteilung nötigen und möglichen, aber auch
angemessenen und zumutbaren Schritte zur Ermittlung des Fahrzeugführers unternommen hat, diese aber ergebnislos geblieben sind (BVerwG,
Beschl. v. 21.10.1987 - 7 B 162.87 -, NJW 1988, 1104 = VRS 74, 233). Vorliegend kann im summarischen Verfahren nicht festgestellt werden, dass
die Feststellung des Fahrzeugführers seitens des Landratsamtes Heidenheim (Bußgeldstelle) mit angemessener Sorgfalt versucht worden ist.
4 Die Antragstellerin ist vom Landratsamt Heidenheim mit Schreiben vom 24.09.2008 im Ordnungswidrigkeitenverfahren ausschließlich als
Betroffene (mutmaßliche Täterin) und nicht vorsorglich wegen ihrer Eigenschaft als Halterin des Kraftfahrzeugs auch als Zeugin (vgl. zu dieser
Konstellation BVerwG, Beschl. v. 21.10.1987 - 7 B 162.87 -, NJW 1988, 1104) angehört worden. Dies ergibt sich aus den verwendeten
Formulierungen „Ihnen wird zur Last gelegt...folgende Ordnungswidrigkeit(en) begangen zu haben:“ oder „Sie überschritten die zulässige
Höchstgeschwindigkeit...“ sowie aus dem Verweis auf § 55 OWiG in den formularmäßigen Hinweisen des vom Landratsamt verwendeten
Vordrucks. Für den Betroffenen besteht aber auch im Verfahren wegen der Verfolgung einer Ordnungswidrigkeit keine Verpflichtung, zur Sache
auszusagen (vgl. Göhler, Ordnungswidrigkeitengesetz, 15. Aufl., § 55, Rn. 8). Der vom Landratsamt versandte Vordruck enthält auch den Hinweis
auf dieses Aussageverweigerungsrecht des Betroffenen. Ferner ist den Hinweisen des Vordrucks zu entnehmen, dass der Betroffene, sofern er die
Ordnungswidrigkeit nicht begangen hat, auch Angaben zu den Personalien des Verantwortlichen machen kann, hierzu aber nicht verpflichtet ist.
Im Übrigen ist die Antragstellerin auch vom Polizeiposten ... in dessen Vorladungsschreiben vom 04.11.2008 als Betroffene im oben genannten
Sinne angesprochen worden.
5 Zur Erfüllung der aus § 31a StVZO folgenden Verpflichtung, zur Ermittlung des Täters einer Zuwiderhandlung gegen Verkehrsvorschriften
sämtliche möglichen, aber auch angemessenen und zumutbaren Schritte zu unternehmen, hätte die Antragstellerin aber zum Zwecke der Klärung
der Täterschaft der Geschwindigkeitsüberschreitung vom 31.08.2008 nicht als Betroffene, sondern als Zeugin angeschrieben und zur Aussage
aufgefordert werden müssen. Denn als Zeugin wäre die Antragstellerin grundsätzlich zur Auskunft verpflichtet gewesen. Aufgrund des hinreichend
deutlichen Geschwindigkeitsmessphotos vom 31.08.2008, das zweifelsfrei einen Mann als Fahrer zeigt und damit als Täter der
Ordnungswidrigkeit ausweist, schied die Antragstellerin von vornherein als Täterin des ihr im Anhörungsschreiben zur Last gelegten
Verkehrsverstoßes aus. Damit war die Antragstellerin, da sie auch keine Nebenbeteiligte im Sinne von § 87 OWiG war, lediglich Zeugin. Wegen
ihrer Eigenschaft als Halterin des Kraftfahrzeugs war nicht auszuschließen, dass sie Angaben zum - männlichen - Fahrer machen konnte. Nach §
46 Abs. 1 und 2 OWiG sind die Vorschriften der Strafprozessordnung über Zeugen im Bußgeldverfahren sinngemäß anzuwenden, soweit sie im
Strafverfahren für die Vernehmung eines Zeugen durch die Staatsanwaltschaft gelten. Auch im Ordnungswidrigkeitenverfahren besteht die Pflicht
des Zeugen grundsätzlich darin, bei der Behörde auf eine entsprechende Ladung hin zu erscheinen und zur Sache auszusagen (vgl. Göhler,
Ordnungswidrigkeitengesetz, § 59, Rn. 3). Einschränkungen kann diese generelle Aussagepflicht durch Zeugnisverweigerungsrechte, z. B. nach §
46 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 52 StPO zugunsten von Angehörigen, erfahren.
6 Aus dem - die Aussage rechtmäßig verweigernden - Verhalten der Antragstellerin im Rahmen der förmlichen Anhörung als Betroffene kann auch
nicht ohne Weiteres zu ihren Lasten geschlossen werden, sie hätte im Ordnungswidrigkeitenverfahren auch als Zeugin, entgegen der ihr dann
obliegenden grundsätzlichen Auskunftspflicht, keine Aussage zur Sache gemacht und damit nicht zur Klärung der Täterschaft beigetragen (a.A.
VG Münster, Urt. v. 16.11.2007 - 10 K 1207/07 -, juris).
7 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
8 Die Streitwertfestsetzung für das Beschwerdeverfahren findet ihre Grundlage in § 63 Abs. 2, § 47 sowie § 53 Abs. 3 Nr. 2 und § 52 Abs. 1 GKG
i.V.m. der Empfehlung in Nr. 46.13 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit vom Juli 2004 (400,- Euro/Monat). Wie bereits das
Verwaltungsgericht unter Hinweis auf die neue Praxis des Senats dargelegt hat (vgl. Senatsbeschl. v. 09.02.2009 - 10 S 3350/08 -), kommt eine
Halbierung des Betrages nicht in Betracht.
9 Der Beschluss ist unanfechtbar.