Urteil des VGH Baden-Württemberg vom 22.02.2010

VGH Baden-Württemberg: aufschiebende wirkung, vorläufiger rechtsschutz, tschechische republik, vollziehung, verwaltungsakt, berechtigung, rechtsschutzinteresse, hauptsache, feststellungsverfügung

VGH Baden-Württemberg Beschluß vom 22.2.2010, 10 S 2702/09
Faktischer Vollzug durch Feststellung der Fahrerlaubnisbehörde
Leitsätze
Stellt eine Fahrerlaubnisbehörde - ohne die sofortige Vollziehung anzuordnen - fest, dass eine EU-Fahrerlaubnis nicht zum Führen von
Kraftfahrzeugen im Bundesgebiet berechtigt und weist in der Entscheidung auf die Strafbarkeit weiterer Verkehrsteilnahme hin, so liegt ein faktischer
Vollzug eines feststellenden Verwaltungsaktes vor. Rechtsschutz hiergegen ist in entsprechender Anwendung von § 80 Abs. 5 VwGO durch die
Feststellung zu gewähren, das der eingelegte Widerspruch aufschiebende Wirkung hat; eine Abwägung zwischen öffentlichem Vollzugsinteresse
und dem individuellen Aussetzungsinteresse wie sonst im Anwendungsbereich von § 80 Abs. 5 VwGO findet nicht statt.
Tenor
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 27. November 2009 - 7 K 3943/09 - geändert.
Es wird festgestellt, dass der Widerspruch des Antragstellers gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 30.09.2009 aufschiebende Wirkung hat.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.
Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 2.500,-- EUR festgesetzt.
Gründe
1
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 27.11.2009 ist zulässig (vgl. §§ 146, 147 VwGO)
und begründet.
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Aus den vom Antragsteller in der Beschwerdebegründung dargelegten Gründen (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO) ergibt sich, dass der sachdienlich
verstandene Antrag des Antragstellers auf Feststellung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs vom 02.10.2009 gegen die Verfügung
des Antragsgegners vom 30.09.2009 entgegen der vom Verwaltungsgericht vertretenen Auffassung statthaft und auch im Übrigen zulässig ist.
Der Antrag hat in der Sache Erfolg, weil ein Fall der sogenannten faktischen Vollziehung vorliegt.
3
Bei der Entscheidung des Antragsgegners vom 30.09.2009, die festgestellt hatte, dass die dem Antragsteller erteilte tschechische Fahrerlaubnis
der Klasse B vom 10.01.2005 keine Berechtigung zur Teilnahme am motorisierten Straßenverkehr im Bundesgebiet entfaltet, handelt es sich -
entgegen der wohl in der Erwiderung zur Beschwerde vertretenen Auffassung des Antragsgegners - um einen feststellenden Verwaltungsakt im
Sinne von § 35 LVwVfG. Der Antragsgegner hat damit eine verbindliche und auf Bestandskraft angelegte Rechtsfolgenanordnung gemäß § 35
Satz 1 LVwVfG getroffen, indem er über die von der tschechischen Fahrerlaubnis vermittelte Berechtigung mit Außenwirkung entschieden hat.
Dieser Qualifizierung als Verwaltungsakt steht die Tatsache, dass sich die fehlende Berechtigung zum Ausnutzen der tschechischen
Fahrerlaubnis im Inland möglicherweise bereits unmittelbar aus § 28 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 und 3 FeV ergibt, nicht entgegen. Beschreitet die
Verwaltungsbehörde in dieser Verfahrenssituation den Weg der rechtsnormwiederholenden und -konkretisierenden Verfügung, ohne zugleich
den Sofortvollzug anzuordnen, muss sie billigerweise die Klärung der aufgeworfenen Rechtsfragen im Hauptsacheverfahren vor dem
Verwaltungsgericht abwarten und darf diesen Zustand nicht durch Vollzugsmaßnahmen unterlaufen (vgl. Bayer.VGH, Beschluss vom 06.10.2005
- 8 CE 05.585 -, NJW 2006, 2282).
4
Wie die Beschwerde zutreffend ausführt, liegt eine faktische Vollziehung des feststellenden Verwaltungsakts vor, obwohl der Antragsgegner auf
dem tschechischen Führerschein des Antragstellers keinen Versagungsvermerk angebracht hat. Vollziehung des Verwaltungsaktes im Sinne von
§ 80 Abs. 1 VwGO bedeutet jegliches Gebrauchmachen von dem Verwaltungsakt, jegliche Verwirklichung seines materiellen Regelungsgehalts,
gleichgültig, ob diese Verwirklichung durch die erlassende oder eine andere Behörde erfolgt, ob sie freiwillig oder zwangsweise geschieht, es
einer behördlichen Ausführungsmaßnahme bedarf oder die Rechtswirkung durch den Verwaltungsakt selbst eintritt. Die aufschiebende Wirkung
untersagt jedermann, aus dem angefochtenen Verwaltungsakt unmittelbare oder mittelbare, tatsächliche oder rechtliche Folgerungen gleich
welcher Art zu ziehen (vgl. Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 24.06.1996 - 10 M 944/96 -, NVwZ-RR 997, 655;
Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 5. Aufl. 2008, RdNr. 631). Gerade bei feststellenden
Verwaltungsakten, die ihre Regelungswirkung unmittelbar entfalten und keines weiteren behördlichen Ausführungsaktes bedürfen, ist von einem
weiten Vollzugsbegriff auszugehen. Der erlassenden Behörde ist es deshalb vor Eintritt der Vollziehbarkeit untersagt, dem Bürger die
ausgesprochene Regelungswirkung entgegenzuhalten. Wie insbesondere die rein materiell-rechtlichen Erwägungen des Antragsgegners im
erstinstanzlichen Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes und in seiner Beschwerdeerwiderung vom 19.01.2010 zeigen, geht das
Landratsamt nicht von der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers aus, sondern berühmt sich der Vollziehbarkeit der
Entscheidung vom 30.09.2009. Auch entfaltet die Feststellungsverfügung für den Antragsteller insofern eine nachteilige Rechtswirkung, als er
damit von der Fahrerlaubnisbehörde auf die aus ihrer Sicht nicht vorliegende Berechtigung zum Fahren im Bundesgebiet ausdrücklich
hingewiesen worden ist und somit in Zukunft bei Nichtbeachtung die ernsthafte Gefahr besteht, dass er strafrechtlich wegen Fahrens ohne
Fahrerlaubnis nach § 21 StVG verfolgt wird (vgl. hierzu VG Ansbach, Beschluss vom 10.10.2008 - AN 10 S 08.01570 -, juris).
Bezeichnenderweise hat der Antragsgegner in diesem Zusammenhang in der Feststellungsverfügung selbst ausdrücklich darauf hingewiesen,
dass bekanntgewordene Verstöße hiergegen zur Anzeige gebracht würden. Eine derartige aktive Anregung von Strafverfolgungsmaßnahmen ist
einer Vollzugsmaßnahme durch die Verwaltungsbehörde wertungsmäßig gleichzustellen (vgl. Bayer.VGH, Beschluss vom 06.10.2005, a.a.O., zur
Einleitung eines Bußgeldverfahrens).
5
Setzt sich der Betroffene gegen die faktische Vollziehung des Verwaltungsaktes zur Wehr, ist einstweiliger Rechtsschutz in entsprechender
Anwendung von § 80 Abs. 5 VwGO zu gewähren. Das Rechtsschutzbegehren ist dabei auf die Feststellung gerichtet, dass der in der Hauptsache
eingelegte Rechtsbehelf aufschiebende Wirkung hat. Eine Anordnung der aufschiebenden Wirkung ist in diesen Fällen nicht möglich, weil der
Suspensiveffekt bereits durch die Einlegung des Rechtsbehelfs eingetreten ist (vgl. BVerwG, Beschluss vom 09.06.1983 - 1 C 36.82 -, Buchholz
310 § 80 VwGO Nr. 42 -; Bayer.VGH, Beschluss vom 16.03.2004 - 7 CS 03.3171 -, NVwZ-RR 2005, 679 -, Finkelnburg/Dombert/Külpmann,
a.a.O., RdNr. 1046, m.w.N.). Bei der gebotenen sachdienlichen Auslegung (§§ 86 Abs. 3, 88 VwGO) war das erstinstanzliche
Rechtsschutzbegehren des Antragstellers als Feststellungsantrag im oben dargestellten Sinne zu verstehen. Das so verstandene Begehren des
Antragstellers ist auch nicht wegen fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig. Das allgemeine Rechtsschutzinteresse fehlt nur dann, wenn
die Klage oder der Antrag für den Betroffenen offensichtlich keinerlei rechtliche oder tatsächliche Vorteile bringen kann. Die Nutzlosigkeit muss
dabei eindeutig sein; im Zweifel ist das Rechtsschutzinteresse zu bejahen (st. Rspr. des BVerwG, vgl. Urteil vom 29.04.2004 - 3 C 25.03 -,
BVerwGE 121, 1; Urteil vom 11.12.2008 - 3 C 26.07 -, BVerwGE 132, 315). Hier ergibt es sich jedenfalls daraus, dass dem Antragsteller die
Feststellungsentscheidung - würde hiergegen kein einstweiliger Rechtsschutz gewährt - bis zur Entscheidung der Hauptsache als
eigenständiger Rechtsgrund entgegengehalten werden könnte, ohne dass es noch darauf ankommt, ob ein derartiges Recht möglicherweise
schon von vornherein nach § 28 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 und 3 FeV nicht bestand.
6
Der Antrag hat auch in der Sache Erfolg. Nachdem der Antragsgegner - wie oben näher dargestellt - die aufschiebende Wirkung des
Widerspruchs des Antragstellers derzeit nicht beachtet, ist von dem Verwaltungsgerichtshof antragsgemäß festzustellen, dass dieser
außergerichtliche Rechtsbehelf aufschiebende Wirkung hat. Da die faktische Vollziehung wegen der Missachtung des Suspensiveffekts ohne
weiteres rechtswidrig ist, wägt das Verwaltungsgericht in diesem Falle nicht zwischen öffentlichem Vollzugsinteresse und individuellem
Aussetzungsinteresse wie sonst im Anwendungsbereich von § 80 Abs. 5 VwGO ab (vgl. hierzu Schoch, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner,
VwGO, § 80 RdNr. 273). Deshalb ist dem Senat im vorliegenden Verfahren eine Klärung der die Beteiligten materiell interessierenden Frage, ob
die tschechische Fahrerlaubnis den Antragsteller zum Führen von Kraftfahrzeugen im Inland berechtigt, verwehrt. Eine entscheidungstragende
inhaltliche Prüfung - in einem neuen Verfahren zunächst vor dem Verwaltungsgericht - wäre nur dann möglich, wenn der Antragsgegner - was
trotz des ergangenen Beschlusses möglich ist und keines Verfahrens nach § 80 Abs. 7 VwGO bedarf - nachträglich die sofortige Vollziehung
seines Bescheides vom 30.09.2009 anordnen oder der Antragsteller eine einstweilige Anordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO mit dem Ziel
der Feststellung einleiten würde, dass die Voraussetzungen für einen Anerkennungsausschluss nach § 28 Abs. 4 FeV nicht vorliegen.
7
Lediglich zur Vermeidung von Missverständnissen und im Interesse der Vermeidung weiteren Rechtsstreits weist der Senat auf seine dem
Prozessbevollmächtigten des Antragstellers bekannte ständige Rechtsprechung hin, dass nach den Grundsätzen der Urteile des Europäischen
Gerichtshofs vom 26.06.2008 (Rs. C-329/06 und C-343/06 sowie C-334/06 bis C-336/06) der Aufnahmemitgliedstaat die Anerkennung einer im
EU-Ausland erteilten Fahrerlaubnis ablehnen kann, wenn auf der Grundlage von Angaben im Führerschein oder anderen vom
Ausstellermitgliedstaat herrührenden unbestreitbaren Informationen feststeht, dass zum Zeitpunkt der Ausstellung dieses Führerscheins sein
Inhaber, auf den im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaates eine Maßnahme des Entzugs einer früheren Fahrerlaubnis angewendet worden
ist, seinen amtlichen Wohnsitz im Sinne von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 91/439/EWG nicht im Hoheitsgebiet des Ausstellermitgliedstaates hatte.
Diese Voraussetzungen dürften hier erfüllt sein, weil in dem dem Antragsteller am 10.01.2005 ausgestellten Führerschein in der Rubrik Nr. 8 sein
inländischer Wohnort eingetragen ist. Unerheblich ist, dass das von der Richtlinie 91/439/EWG vorgeschriebene Wohnortprinzip in der
tschechischen Republik erst nach der Erteilung der Fahrerlaubnis eingeführt worden ist. Maßgeblich ist allein, dass die Fahrerlaubnis unter
Verstoß gegen die - auch für die tschechische Republik verbindlichen - gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben erteilt worden ist (vgl. BVerwG, Urteil
vom 11.12.2008 - 3 C 26.07 -, BVerwGE 132, 315; Senatsbeschl. vom 23.11.2009 - 10 S 2209/09 -).
8
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
9
Die Streitwertfestsetzung für das Beschwerdeverfahren findet ihre Grundlage in § 63 Abs. 2, § 47 und § 53 Abs. 2 Nr. 2 sowie § 52 Abs. 1 GKG in
Verbindung mit den Empfehlungen Nrn. 1.5 und 46.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit vom Juli 2004.
10 Dieser Beschluss ist unanfechtbar.