Urteil des OLG Zweibrücken vom 19.11.2002

OLG Zweibrücken: fahrverbot, nachlässigkeit, höchstgeschwindigkeit, maurer, geschwindigkeitsüberschreitung, erfahrung, quelle, aufmerksamkeit, raststätte, ermessensfehler

OLG
Zweibrücken
19.11.2002
1 Ss 184/02
1 Ss 184/02
5389 Js 14700/02 1 OWi
StA Frankenthal (Pfalz)
Pfälzisches Oberlandesgericht Zweibrücken
Beschluss
In dem Bußgeldverfahren gegen
R.
H.
wegen Verkehrswidrigkeit
hier: Rechtsbeschwerde
hat der Senat für Bußgeldsachen des Pfälzischen Oberlandesgerichts Zweibrücken
durch den Vizepräsidenten des Oberlandesgerichts Dr. Ohler und die Richter am Oberlandesgericht
Maurer und Ruppert
am 19. November 2002
beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Amtsgerichts Frankenthal (Pfalz)
vom 20. August 2002 im Rechtsfolgenausspruch mit den Feststellungen aufgehoben; in diesem Umfang
wird die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des
Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Amtsgericht zurückverwiesen.
G r ü n d e :
Das Amtsgericht hat den Betroffenen wegen fahrlässigen Überschreitens der erlaubten
Höchstgeschwindigkeit außerorts um 81 km/h zu einer Geldbuße von 375,00 € verurteilt. Im
Bußgeldbescheid war ursprünglich die Verhängung einer Geldbuße in gleicher Höhe sowie die
Verhängung eines Fahrverbots von 3 Monaten vorgesehen. Von der Verhängung des Fahrverbots hat das
Gericht im wesentlichen deshalb abgesehen, weil es den Verkehrsverstoß des Betroffenen als ein
„Augenblicksversagen“ gewertet hat.
Gegen dieses Urteil richtet sich die in zulässiger Weise auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte
Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft, mit der die Verletzung materiellen Rechts gerügt und die
Verhängung des im Bußgeldkatalog für derartige Fälle vorgesehenen Fahrverbots angestrebt wird.
Die Rechtsbeschwerde ist zulässig. Sie hat vorläufigen Erfolg.
Nach dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe hat das Amtsgericht nicht verkannt, dass § 4 Abs. 1
BKatV das Vorliegen einer groben Pflichtverletzung im Sinne von § 25 Abs. 1 Satz 1 StVO indiziert, so
dass es regelmäßig der Anordnung eines Fahrverbotes als Denkzettel bedarf (BVerG DAR 1996, 196;
BGHSt 38, 125; ständige Rechtsprechung des Senats). Diese Bindung der Sanktionspraxis dient nicht
zuletzt der Gleichbehandlung der Verkehrsteilnehmer und der Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit der
durch bestimmte Verkehrsverstöße ausgelösten Rechtsfolgen. Von der Verhängung des Regelfahrverbots
kann deshalb nur abgesehen werden, wenn wesentliche Besonderheiten in der Tat oder in der
Persönlichkeit des Betroffenen anzunehmen sind und deshalb der vom Bußgeldkatalog erfasste
Normalfall nicht vorliegt. Somit ist der Tatrichter in jedem Fall gehalten zu prüfen, ob der jeweilige
Einzelfall Besonderheiten aufweist, die ausnahmsweise ein Abweichen von der Regelsanktion gebieten
oder zumindest zulassen. In den Fällen des § 4 Abs. 1 BKatV können dabei sowohl außergewöhnliche
Härten als auch eine Vielzahl minderer Erschwernisse bzw. entlastender Umstände genügen, um eine
solche Ausnahme zu begründen (BGH NZV 1992, 117 und 286; OLG Naumburg NZV 1995, 161 und 201;
BayObLG NZV 1994, 327, 370 und 487; OLG Düsseldorf NZV 1993, 37, 241 und 446; OLG Köln NZV
1994, 161; OLG Oldenburg NZV 1993, 198 und 278; OLG Karlsruhe VRS 88, 476). Im Hinblick auf dieses
Regel - Ausnahmeverhältnis ist für die tatrichterliche Einzelfallprüfung, ob trotz des Vorliegens der
Voraussetzungen eines Regelfalles von einem Fahrverbot abgesehen werden kann, nur noch
eingeschränkt Raum (BGH NZV 1992, 286; OLG Düsseldorf NZV 1995, 161 und NZV 1993, 241;
BayObLG NZV 1994, 327). Gewinnt der Tatrichter die Überzeugung, dass trotz eines Regelfalles die
Verhängung des Fahrverbotes unangebracht wäre, hat er dafür eine eingehende und nachvollziehbare,
auf Tatsachen gestützt Begründung zu geben (BGH NZV 1992, 117 und 286; OLG Naumburg NZV 1995,
161; BayObLG NZV 1994, 487). Diese unterliegt der eingeschränkten Überprüfung durch das
Rechtsbeschwerdegericht, das nur dann eingreift, wenn Ermessensfehler vorliegen, etwa wenn das
Tatgericht den ihm eingeräumten Ermessensspielraum bei der Rechtsfolgenentscheidung überschritten
hat, seine Erwägungen unzureichend, lückenhaft oder in sich fehlerhaft sind, von unzutreffenden
Tatsachen ausgegangen oder gegen rechtlich anerkannte Strafzwecke verstoßen worden ist.
Das angefochtene Urteil genügt den Begründungsanforderungen nicht; das Absehen von einem
Fahrverbot begegnet nach den hierzu angestellten Erwägungen durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
Der Bußgeldrichter hat sich bei seiner Entscheidung im wesentlichen auf die für ihn als unwiderlegbar
erachtete Einlassung des Betroffenen gestützt, er habe bei Wiederauffahrt von einem Rastplatz auf die
Autobahn das die Geschwindigkeit begrenzende Verkehrszeichen übersehen. Er hat hieraus ohne
nähere Darlegungen das Vorliegen eines „Augenblicksversagens“ hergeleitet und u. a. deshalb von der
Verhängung eines Fahrverbots abgesehen. Die Zulässigkeit einer solchen Vorgehensweise erscheint
zweifelhaft, da die Gerichte bei der Entscheidung über die Verhängung eines Fahrverbotes regelmäßig
davon ausgehen dürfen, dass Vorschriftszeichen von Verkehrsteilnehmern auch wahrgenommen werden
(vgl. BGH Beschluss vom 11.9.1997 – 4 StR 638/96). Beruft sich deshalb ein Kraftfahrer darauf, dass er
ein die Geschwindigkeit begrenzendes Zeichen übersehen habe, scheidet die Verhängung eines
Fahrverbots selbst dann nicht notwendigerweise aus, wenn dem Betroffenen die Einlassung nicht
widerlegt werden kann. Zwar kann dem Kraftfahrzeugführer das für ein Fahrverbot erforderliche, grob
pflichtwidrige Verhalten dann nicht vorgeworfen werden, wenn der Grund für die erhebliche
Geschwindigkeitsüberschreitung allein darin liegt, dass er das die Höchstgeschwindigkeit begrenzende
Zeichen nicht wahrgenommen hat. Grob pflichtwidrig bleibt sein Verhalten aber dann, wenn die
Fehlleistung selbst ihrerseits gerade auf grober Nachlässigkeit oder Gleichgültigkeit beruht. Ob dies in
vorliegendem Falle so war, vermag der Senat angesichts der Lückenhaftigkeit der Feststellungen des
Urteils hierzu nicht abschließend zu beurteilen. Das angefochtene Urteil trifft keine Aussagen dazu, in
welcher Ausgestaltung sich jenes Verkehrszeichen an welcher Stelle befand, das der Betroffene
übersehen haben will. In diesem Zusammenhang wäre von besonderem Interesse gewesen, in welchem
Abstand zu der von dem Betroffenen benutzten Rastplatzaus-/Autobahnauffahrt das Verkehrszeichen
angebracht war. Da das Auffahren auf die Autobahn aus einer Raststätte regelmäßig besondere
Aufmerksamkeit erfordert, kann sich gerade das Übersehen eines dort angebrachten Verkehrszeichens
als Ausdruck besonderer Nachlässigkeit und Gleichgültigkeit und damit als grob pflichtwidriges Verhalten
erweisen.
Unzureichend und lückenhaft sind die getroffenen Feststellungen auch insoweit, als das Urteil
Ausführungen dazu vermissen lässt, ob dem auf der A 61 zwischen Worms und Frankenthal kontrollierten,
in Worms wohnhaften, mit einem in Frankenthal zugelassenen Kraftfahrzeug fahrenden Betroffenen die
Geschwindigkeitsbegrenzung infolge regelmäßiger Benutzung der Strecke bekannt war. Dieser Frage
hätte nachgegangen werden müssen, da die Umstände eine solche Kenntnis nahe legen und ohne
Feststellungen hierzu eine verlässliche Beurteilung und Überprüfung des vom Tatrichter angenommenen
Augenbilcksversagens durch das Rechtsbeschwerdegericht nicht möglich ist. Zwar ist es dem Tatrichter
nicht schlechthin verwehrt, einer Behauptung des Betroffenen zu glauben und diese zur Grundlage seiner
Entscheidung zu machen. Entlastende Angaben des Betroffenen, der sich auf das Vorliegen einer
besonderen Ausnahmesituation beruft, darf er aber nicht ohne weiteres einfach als glaubhaft hinnehmen
(OLG Stuttgart, aaO; OLG Düsseldorf NZV 1995, 405 und VRS 90, 231). Die Verhängung eines
Fahrverbots wird von den Betroffenen regelmäßig als besonders einschränkend empfunden und deshalb
gefürchtet. Die Erfahrung zeigt, dass ein Betroffener sich deshalb nicht selten auf ein
Augenblicksversagen beruft, um der Verhängung eines Fahrverbots zu entgehen. Der Tatrichter wird
deshalb ein derartiges Vorbringen stets kritisch würdigen und die behaupteten Umstände einer
Überprüfung auf ihren Wahrheitsgehalt unterziehen müssen, indem er sich mit naheliegenden
Umständen, die gegen ein solches Vorbringen sprechen könnten, in den Urteilsgründen
auseinandersetzt. Diesen Anforderungen genügt das angefochtene Urteil nicht.
Die dargelegten Feststellungs- und Begründungsmängel stellen einen sachlich-rechtlichen Fehler dar, auf
dem das Urteil beruht. Dieses ist somit im Rechtsfolgenausspruch mit den insoweit zugrundeliegenden
Feststellungen aufzuheben und die Sache ist zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das
Amtsgericht zurückzuverweisen.
Dr. Ohler Maurer Ruppert