Urteil des OLG Zweibrücken vom 20.07.2005
OLG Zweibrücken: bedingte entlassung, öffentliche sicherheit, bewährung, vollzug, reue, strafrecht, versorgung, aussetzung, familie, inhaftierung
Strafrecht
OLG
Zweibrücken
20.07.2005
1 Ws 205/05
1 Ws 205/05
2 StVK 343/05
LG Zweibrücken
43 VRs 24 Js 1312/03
StA Saarbrücken
Pfälzisches Oberlandesgericht Zweibrücken
Beschluss
In dem Strafvollstreckungsverfahren gegen
J...,
wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln
hier:
hat der 1. Strafsenat des Pfälzischen Oberlandesgerichts Zweibrücken
durch den Vizepräsidenten des Oberlandesgerichtes Dr. Ohler, den Richter am
Oberlandesgericht Maurer und den Richter am Landgericht Schwenninger
am 20. Juli 2005
beschlossen:
1. Auf die sofortige Beschwerde der Verurteilten wird der Beschluss der Strafvollstreckungskammer des
Landgerichts Zweibrücken vom 3. Mai 2005 aufgehoben.
2. Die Vollstreckung des Restes der Gesamtfreiheitsstrafe von 3 Jahren und 6 Monaten aus dem Urteil
der 5. Großen Strafkammer des Landgerichtes Saarbrücken vom 16. Juli 2004 wird mit sofortiger Wirkung
zur Bewährung ausgesetzt.
3. Die Bewährungszeit wird auf
3 Jahre
4. Für die Dauer der Bewährungszeit wird die Verurteilte der Aufsicht und Leitung eines amtlichen
Bewährungshelfers unterstellt.
5. Sie wird angewiesen, ihre Anschrift nach der Entlassung sowie jede Änderung der Anschrift während
der Bewährungszeit unverzüglich der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Zweibrücken zu dem
oben genannten Aktenzeichen mitzuteilen.
6. Die Belehrung über die Strafaussetzung zur Bewährung wird der Justizvollzugsanstalt
Zweibrücken übertragen.
7. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die notwendigen Auslagen, die der Verurteilten darin
entstanden sind, werden der Landeskasse auferlegt.
G r ü n d e :
Die Verurteilte wurde am 16. Juli 2004 von dem Landgericht Saarbrücken wegen unerlaubten
Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 3
Jahren und 6 Monaten verurteilt. Seit dem 24. Juli 2004 verbüßt sie diese Freiheitsstrafe in der
Justizvollzugsanstalt Zweibrücken. Zuvor befand sie sich ab dem 23. Juli 2003 in Untersuchungshaft. Als
Halbstrafentermin ist der 21. April 2005 berechnet gewesen, der Zwei-Drittel-Zeitpunkt wird am 20.
November 2005 erreicht sein; das Strafende ist für den
21. Januar 2007 vorgemerkt.
Die Strafvollstreckungskammer hat die bedingte Entlassung der Verurteilten vor Verbüßung von zwei
Dritteln der Strafe dem Antrag der Staatsanwaltschaft Saarbrücken entsprechend abgelehnt. Hiergegen
wendet sich die Verurteilte mit der sofortigen Beschwerde.
Das zulässige Rechtsmittel hat Erfolg.
Entgegen der Auffassung der Strafvollstreckungskammer sieht der Senat die Voraussetzungen des § 57
Abs. 2 Nr. 2 StGB als gegeben an. Eine Strafaussetzung nach dieser Vorschrift setzt voraus, dass die
Gesamtwürdigung der Taten, der Persönlichkeit der Verurteilten und ihrer Entwicklung im Vollzug das
Vorliegen von besonderen Umständen ergibt. Entsprechend dem Ausnahmecharakter der Regelung des
§ 57 Abs. 2 Nr. 2 StGB sind als besondere Umstände nur solche anzusehen, die im Vergleich mit
gewöhnlichen, durchschnittlichen, allgemeinen oder einfachen Milderungsgründen ein besonderes
Gewicht aufweisen, dass eine Strafaussetzung zur Bewährung in Ansehen des Unrechts- oder
Schuldgehalts der Tat als nicht unangebracht und den vom Strafrecht geschützten Interessen
zuwiderlaufend erscheint (ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. auch OLG Koblenz StV 1991, 428).
Mehrere zusammentreffende durchschnittliche Milderungsgründe können in ihrer Gesamtheit ein solches
Gewicht erlangen, dass sie die Bedeutung besonderer Umstände erlangen (OLG Hamm StV 1998, 503;
OLG Bamberg StV 1994, 252; Senat StV 2003, 683). Dabei sind auch solche Umstände zu
berücksichtigen, die bereits Eingang in die Strafzumessung des erkennenden Gerichts gefunden haben
(OLG Karlsruhe NStZ – RR 1997, 323; OLG Düsseldorf StV 1997, 94; Senat StV 1991, 223).
Die gebotene Gesamtwürdigung ergibt hier insgesamt besondere Umstände, die eine solche
Strafaussetzung rechtfertigen.
Das Tatgeschehen und die Person der Verurteilten weisen unter Berücksichtigung der Strafmilderungs-
und Strafschärfungsgründe besondere, für sie sprechende Umstände auf. Auch wenn die Urteilsgründe
die für die Bemessung der Strafen maßgebenden Gründe nicht mitteilen, wird deutlich, dass der
Verurteilten neben ihrem Sohn nur eine untergeordnete Rolle bei der Begehung der abgeurteilten Taten
zukam. Der unterschiedliche Umfang des strafrechtlich relevanten Verhaltens macht ebenso wie der
Vergleich des bis dahin tadellosen Lebenswandels der Verurteilten mit dem Werdegang ihres
drogenabhängigen und mehrfach – auch einschlägig - vorbestraften Sohnes deutlich, dass die Verurteilte
entsprechend ihren Angaben ohne den Einfluss ihres Sohnes auch weiterhin keine Straftaten begangen
hätte.
Ausweislich des zugrunde liegenden Urteils hat die Verurteilte nicht nur ein umfassende Geständnis
abgelegt, sondern durch ihre Angaben auch einen darüber hinausgehenden Aufklärungsbeitrag im Sinne
des § 31 BtMG geleistet. Die darin zum Ausdruck kommende Reue und der Wille, mit diesem strafbaren
Tun abzuschließen, haben sich durch die Auseinandersetzung mit ihren Taten in der Haft bestätigt. Das
Verhalten der Verurteilten im Vollzug wird in der Stellungnahme der Vollzugsanstalt durchweg als sehr
positiv beschrieben. Dadurch hat sie aktiv zu der Erreichung des Vollzugsziels beigetragen. Weder im
Rahmen der ab November 2004 gewährten Vollzugslockerungen, noch im offenen Vollzug hat sie Anlass
zu Beanstandungen gegeben. Hinzu kommt, dass sie erstmals eine Freiheitsstrafe verbüßt. Auch wenn
die Voraussetzungen des § 57 Abs. 2 Nr. 1 StGB nicht vorliegen, kommt diesem Umstand im Rahmen der
nach § 57 Abs. 2 Nr. 2 vorzunehmenden Gesamtschau erhebliche Bedeutung zu (Tröndle-Fischer StGB
52. Auflage § 57, Rn. 29). Durch die seit nunmehr fast zwei Jahren andauernde Inhaftierung hat sie sich
deutlich beeindruckt gezeigt.
Besondere Bedeutung kommt auch der Tatsache zu, dass die Verurteilte erstmals im Alter von 50 Jahren
strafrechtlich in Erscheinung getreten ist. Zuvor hat sie ein unbescholtenes Leben geführt, das in erster
Linie der Versorgung ihrer Familie gewidmet war. Trotz dieser Aufgabe hat sie fast durchgängig mit ihrer
Berufstätigkeit wesentlich zum Lebensunterhalt der Familie beigetragen und will alsbald ihre Arbeit wieder
aufnehmen. Die Verurteilte kehrt in ihr altes Zuhause zurück, wo sie die Versorgung ihres kranken
Ehemannes übernehmen wird. Der nach wie vor enge Familienzusammenhalt zeigt sich auch daran, dass
diese Aufgabe bislang von ihren Angehörigen wahrgenommen wurde, zu denen sie immer einen engen
Kontakt unterhielt und auf deren Unterstützung sie auch jetzt zählen kann.
Schließlich kann nicht außer Betracht bleiben, dass die Verurteilte am 21. April 2005 die Hälfte der Strafe
verbüßt hatte und bereits am 20. November 2005 der Zweidrittelzeitpunkt anstünde.
Nach alledem liegen auch in Ansehen der Schwere der vorliegenden Taten besondere Umstände im
Sinne des § 57 Abs. 2 Nr. 2 StGB vor.
Schließlich ist der Verurteilten in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft
eine positive Sozialprognose gemäß § 57 Abs 1 S. 1 Nr. 2 StGB i.V.m. § 57 Abs. 2 StGB zu stellen. Zwar
wurden gegen die Verurteilte Einzelstrafen von über zwei Jahren wegen Verbrechen nach §§ 29a, 30 a
BtMG verhängt, so dass nach § 454 Abs. 2 S. 1 StPO grundsätzlich die Einholung eines
Sachverständigengutachtens zu veranlassen wäre. Erwägt das Gericht die Aussetzung der Vollstreckung
einer entsprechenden Reststrafe, ist ein Absehen von der Einholung eines Prognosegutachtens nur in
Ausnahmekonstellationen zulässig, in denen die heranzuziehenden Umstände zweifelsfrei die
Beurteilung zulassen, dass von einem Verurteilten praktisch keine Gefahr für die öffentliche Sicherheit
mehr ausgeht (OLG Karlsruhe StV 2000, 156; OLG Köln StV 2000, 155; Senat StV 2003, 683). Das Gericht
muss in der Lage sein, eine Entscheidung aufgrund eigener Sachkunde in Anlehnung an § 244 Abs. 4 S.
1 StPO zu treffen. In Betracht kommen daher nur Fälle, in denen die Einholung eines Prognosegutachtens
eine Erweiterung der Entscheidungsgrundlage nicht erwarten lässt. Dies setzt voraus, dass im Rahmen
der dem Gericht obliegenden Aufklärungspflicht alle übrigen Erkenntnismöglichkeiten zur Schaffung einer
hinreichenden Tatsachengrundlage ausgeschöpft worden sind. Dann nämlich würde sich die Einholung
eines Gutachtens nach § 454 Abs. 2 StPO als bloße Förmelei darstellen. Denn selbst wenn ein Gutachter
sich ohne neue Erkenntnisse nicht zu einer positiven Prognose entschließen könnte, wäre das Gericht
hierdurch nicht der Prüfung enthoben, ob trotzdem eine Aussetzung des Strafrestes verantwortet werden
kann (OLG Köln StV 2000, 156). Dabei ist zu bedenken, dass auch bei einer Aussetzungsentscheidung
auf der Grundlage eines Sachverständigengutachtens ein vertretbares Restrisiko eingegangen werden
kann (BVerfG NStZ 1998, 373).
Der Senat teilt die Ansicht der Strafvollstreckungskammer, dass hier eine solche Ausnahmekonstellation
gegeben ist. Nach der Anhörung der Verurteilten und des zuständigen Anstaltspsychologen durch den
Senat können weitergehende Erkenntnisse ausgeschlossen werden, da auch einem Sachverständigen
keine zusätzlichen Informationen über die Lebensführung der Verurteilten zugänglich wären.
Besonderheiten in der Person der Verurteilten, namentlich psychiatrische Erkrankungen oder eine
Suchtproblematik, deren Beurteilung einer besonderen fachspezifischen Qualifikation bedarf, liegen nicht
vor.
Alle maßgebenden Umstände lassen eine erneute Straffälligkeit der Verurteilten nach menschlichem
Ermessen als ausgeschlossen erscheinen. In der Rückschau erweisen sich die Taten als durch die
Beeinflussung des Sohnes bedingte Episode im Leben der Verurteilten. In Anbetracht der Fortdauernden
Inhaftierung des Sohnes ist eine solche Einwirkung derzeit ausgeschlossen. Überdies ist der Senat in
Übereinstimmung mit der gutachterlichen Stellungnahme des Anstaltspsychologen davon überzeugt, dass
die Verurteilte aufgrund ihrer Entwicklung heute einer entsprechenden Beeinflussung nicht mehr
zugänglich ist. Hierbei kommt der durchweg positiven Führung der Verurteilten in der Haft und ihrer von
Reue und tätiger Aufklärungshilfe geprägten Auseinandersetzung mit ihren Taten besondere Bedeutung
zu. Zudem ist bei Erstverbüßern der Strafeindruck in der Regel so tief greifend und nachhaltig, dass
anschließend mit straffreier Führung in Freiheit gerechnet werden kann (BGH StV 2003, 678). Dies gilt für
die Verurteilte aufgrund ihres straffreien Vorlebens und ihres Alters umso mehr.
Dr. Ohler Maurer Schwenninger