Urteil des OLG Stuttgart vom 16.06.2008

OLG Stuttgart (halten, benutzung, mobiltelefon, auslegung, aug, zweck, aufnahme, fahrzeugführer, aufnehmen, begründung)

OLG Stuttgart Beschluß vom 16.6.2008, 1 Ss 187/08
Ordnungswidrigkeit im Straßenverkehr: Verwendung eines Mobiltelefons unter Benutzung eines
Headsets/Earsets
Leitsätze
Die Verwendung eines Mobiltelefons, das in einer Handy-Vorrichtung des Kraftfahrzeugs abgelegt worden ist, unter
Benutzung eines Headsets/Earsets, welches über eine Bluetooth-Verbindung mit dem Mobiltelefon verbunden ist,
erfüllt nicht den Tatbestand des § 23 Abs. 1 a StVO. Dies gilt auch dann, wenn zur Verbesserung der Hörqualität
das über eine Spange am Ohr gehaltene Headset mit der Hand gegen das Ohr gedrückt wird.
Tenor
Auf die - zugelassene - Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Heilbronn vom 10.
Dezember 2007
aufgehoben.
Der Betroffene wird
freigesprochen.
Die Kosten des Verfahrens und die dem Betroffenen dadurch entstandenen notwendigen Auslagen trägt die
Staatskasse.
Gründe
I.
1
Das Amtsgericht Heilbronn hat den Betroffenen wegen verbotswidrigen Benutzens eines Mobiltelefons durch
Halten des Hörers zu einer Geldbuße von 40,00 EUR verurteilt. Es hat festgestellt:
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Der Betroffene befuhr am 15. Juni 2007 gegen 10:10 Uhr mit einem Lkw … auf Gemarkung … die BAB A6. Auf
Höhe des Streckenkilometers … benutzte er - in Kenntnis der Verbotswidrigkeit - das in die Handyvorrichtung
des Fahrzeugs eingelegte Mobiltelefon, indem er das mittels einer Spange am rechten Ohr befestigte und über
eine Bluetooth-Verbindung (Funkvernetzung über kurze Distanz) mit dem Mobiltelefon verbundene Headset mit
der rechten Hand hielt.
II.
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Die vom Einzelrichter des Bußgeldsenats zur Fortbildung des Rechts (§ 80 Abs. 1 Nr. 1, Abs.2 Nr.1 OWiG)
zugelassene und auf den Senat in der Besetzung mit drei Richtern übertragene (§ 80 a Abs. 3 S. 1 OWiG)
Rechtsbeschwerde des Betroffenen hat mit der Sachrüge Erfolg und führt zum Freispruch.
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1. Das Amtsgericht hat die Auffassung vertreten, der Betroffene, der für ein Telefongespräch das Mobiltelefon
in die fest eingebaute Schale eingelegt und das Earset als Hörer des eingelegten Mobiltelefons am Ohr
getragen hatte, habe mit dieser technischen Variante ein dem in § 23 Abs. 1 a StVO geregelten Sachverhalt
gleichzustellendes Erscheinungsbild geschaffen; mit dem Einlegen des Mobiltelefons in die Schale gewinne
dieses den Charakter eines fest eingebauten Autotelefons, für dessen Benutzung eine weitere Komponente,
nämlich das als Hörer benutzte Earset, erforderlich und hier auch vorhanden gewesen sei.
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2. Die dem Schuldspruch zu Grunde liegende Normauslegung des Amtsgerichts ist mit § 23 Abs. 1 a StVO
nicht vereinbar, weil sie dessen Wortlaut sowie dessen Sinn und Zweck nicht gerecht wird.
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a) Art. 103 Abs. 2 GG verpflichtet den Strafgesetzgeber ebenso wie den Gesetzgeber in
Ordnungswidrigkeitensachen (BVerfG NJW 2005, 349), die Voraussetzungen der Sanktionierung so genau
zu umschreiben, dass sich Tragweite und Anwendungsbereich der Norm durch Auslegung ermitteln lassen.
Auch in Grenzfällen, die wegen der Vielgestaltigkeit des Lebens gerade im Bereich technischer
Neuentwicklungen unvermeidlich sind, muss für den Normadressaten das Risiko einer bußgeldrechtlichen
Ahndung wenigstens voraussehbar sein. Dafür maßgeblich ist in erster Linie der für den Normadressaten
aus dessen Sicht erkennbare und verstehbare Wortlaut des gesetzlichen Sanktionstatbestandes (ständige
Rechtsprechung seit BVerfGE 64, 389, 393).
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Diesen Wortlaut, der auch bei erweiternder Auslegung die äußerste Grenze zur verbotenen Analogie
darstellt, hat das Amtsgericht bei seiner Interpretation des § 23 Abs. 1 a StVO überdehnt. Nach §§ 49 Abs.
1 Nr. 22, 23 Abs. 1 a StVO, 24 StVG handelt ordnungswidrig, wer vorsätzlich oder fahrlässig als
Fahrzeugführer ein Mobil- oder Autotelefon benutzt, indem er hierfür das Mobiltelefon oder den Hörer des
Autotelefons aufnimmt oder hält. Dabei umfasst der für die Umschreibung der Tathandlungen (Aufnahme
oder Halten) verwendete Begriff des Benutzens nach seinem Wortsinn sämtliche Bedienfunktionen
(Amtliche Begründung zur ÄndVO vom 11. Dezember 2000 - VBl 2001, 8). Deshalb muss unter Benutzung
eines Mobiltelefons auch die Wahrnehmung der von neuartigen Geräten zur Verfügung gestellten
zahlreichen Möglichkeiten als Instrument zur Speicherung, Verarbeitung und Darstellung von Daten
(Organisationsfunktion, Diktier-, Kamera- und Spielefunktion) verstanden werden, weil diese Auslegung
vom Wortlaut der Bestimmung gedeckt ist (vgl. OLG Bamberg NJW 2008, 599; OLG Karlsruhe DAR 2007,
99; OLG Hamm NJW 2005, 2469; OLG Köln NZV 2005, 547; Jagow/ Burmann/Heß, Straßenverkehrsrecht,
20. Auflage, § 23 StVO Rdnr. 22 a).
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Den Boden einer solchen zulässigen Auslegung des Begriffs des Benutzens durch Aufnehmen oder Halten
eines Mobiltelefons oder des Hörers eines Autotelefons hat das Amtsgericht hier verlassen. Mit seiner
„Komponentenlösung“, in welcher das eingelegte Mobiltelefon zum Autotelefon und das Earset zum Hörer
eines Autotelefons wird, erweitert es die Bußgeldnorm des § 23 Abs. 1 a StVO in unzulässiger Weise,
indem es die technischen Funktionen umdefiniert. Die Benutzung eines Earsets ist nicht mit der Aufnahme
oder dem Halten des Hörers eines Autotelefons gleich zu setzen, weil das Earset nicht mit der Hand
gehalten werden muss, sondern eine eigenständige Befestigung am Kopf des Fahrers besitzt. Der
Umstand, dass im vorliegenden Fall das Earset zur Verbesserung der Hörqualität vom Betroffenen mit der
rechten Hand ans Ohr gedrückt wurde, ändert an der grundsätzlich andersartigen Funktionsweise nichts.
Die Bestimmung des § 23 Abs. 1 a StVO will offensichtlich verhindern, dass der Fahrer in einer Hand einen
Gegenstand hält, den er nicht ohne weiteres schnell loslassen kann (vgl. OLG Hamm NJW 2006, 2870;
Jagow/Burmann/Heß, Straßenverkehrsrecht, 20. Auflage, § 23 StVO Rdnr. 22 a).
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b) Auch der vom Verordnungsgeber verfolgte Sinn und Zweck des § 23 Abs. 1 a StVO steht der Auslegung
des Amtsgerichts entgegen. Die Vorschrift soll gewährleisten, dass der Fahrzeugführer während der
Benutzung des Mobil- oder Autotelefons beide Hände für die Bewältigung der Fahraufgabe frei hat; der
Fahrzeugführer darf das Mobil- oder Autotelefon nur benutzen, wenn er dazu das Telefon oder den Hörer
nicht aufnehmen oder halten muss (Amtliche Begründung zur ÄndVO vom 11. Dezember 2000 - VBl 2001,
8 ff). Wissenschaftliche Untersuchungen dazu haben ergeben, dass sich durch die Benutzung einer
Freisprecheinrichtung während des Telefongesprächs sowohl die Unsicherheitsfehler (spätes Bremsen,
Nichteinhalten der Fahrspur) als auch die Fahrfehler (Übersehen von Verkehrszeichen, Fahren in die
falsche Richtung) im Vergleich zu einem Gespräch ohne Freisprecheinrichtung um mehr als 50 %
reduzieren lassen (Amtliche Begründung a.a.O.).
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§ 23 Abs. 1 a StVO zielt also auf die Ablenkung des Fahrers durch Aufnahme oder Halten eines
Mobiltelefons oder eines Hörers. Nur die daraus resultierenden erhöhten Gefahrenquellen für die
Verkehrssicherheit sollen durch das Verbot beseitigt oder verringert werden. Werden diese Gefahrenquellen
durch eine technische Neuentwicklung wie die Freisprecheinrichtung (vgl. OLG Bamberg NJW 2008, 599)
oder das Headset/Earset beseitigt, greift der Tatbestand auch nach seinem Sinn und Zweck nicht ein. Die
Umdefinition der Teilfunktionen eines Autotelefons als Gesamtanlage ist wegen der im Sanktionsrecht
notwendigen Tatbestandsbestimmtheit nicht zulässig. § 23 Abs. 1 a StVO ist tatbestandsmäßig hier nicht
gegeben.
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c) Abschließend bemerkt der Senat, dass Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit des § 23 Abs. 1 a
StVO nicht bestehen. Der Verordnungsgeber durfte die Verbotsnorm auf das Aufnehmen oder Halten eines
Mobiltelefons oder Hörers beschränken. Zwar gibt es zahlreiche andere Ablenkungen, die einen
Kraftfahrzeugführer an der uneingeschränkten Wahrnehmung seiner Fahraufgabe hindern können
(Autoradio, GPS-Gerät, intensive Unterhaltung mit dem Beifahrer, Essen oder Trinken während der Fahrt).
Der Verordnungsgeber war jedoch auch durch den Gleichbehandlungsgrundsatz nicht gehalten, alle diese
Faktoren sanktionsrechtlich zu erfassen. Es ist Teil seiner Gestaltungsfreiheit, eine als besonders
gefahrenträchtig erkannte Ablenkungsquelle durch eine Spezialnorm zu erfassen und die übrigen
Gefahrenquellen nur der allgemeinen Sorgfaltspflicht des Kraftfahrzeugführers, die sich aus § 1 Abs. 2
StVO ergibt, zu unterstellen.
12 3. Der Senat hatte den Betroffenen sonach unter Aufhebung des angefochtenen Urteils aus rechtlichen
Gründen freizusprechen (§ 79 Abs. 5 und 6 OWiG).