Urteil des OLG Stuttgart vom 29.10.2004
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OLG Stuttgart Beschluß vom 29.10.2004, 18 UF 206/2004; 18 UF 206/04
Sorgerechtsregelungsverfahren: Grundrechtsschutz für Pflegeeltern und Großeltern; Verneinung von Prozesskostenhilfe für den
Beschwerdeführer unabhängig von der Erfolgsaussicht; Verneinung einer einstweiligen Umgangsregelung in einem auf die elterliche Sorge
beschränkten Beschwerdeverfahren
Leitsätze
1. In den Schutzbereich von Art. 6 GG sind sowohl die Großeltern als auch die Pflegeeltern, bei denen sich das Kind längere Zeit aufgehalten hat,
einbezogen. Allerdings ist deren Grundrechtsschutz schwächer ausgeprägt als derjenige der leiblichen Eltern.
2. Aus Art. 6 GG ergibt sich kein Anspruch des Beschwerdeführers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe in Angelegenheiten der elterlichen Sorge
unabhängig von der Erfolgsaussicht seines Rechtsmittels.
3. Einstweilige Anordnungen im Sinne des § 621 g ZPO müssen den Gegenstand des Hauptsacheverfahrens betreffen. Im Rahmen eines auf die
Regelung der elterlichen Sorge beschränkten Beschwerdeverfahrens kann daher keine Umgangsregelung durch einstweilige Anordnung getroffen
werden.
Tenor
1. Die Beschwerden beider Antragstellerinnen gegen den Beschluss des Amtsgerichts Tübingen - Familiengericht vom 23.07.2004 (6 F 713/02)
werden
zurückgewiesen.
2. Die Anträge beider Antragstellerinnen auf einstweilige Anordnung werden
abgelehnt.
3. Für das Verfahren in erster Instanz bleibt es bei der Kostenentscheidung im angegriffenen Beschluss. Gerichtskosten werden im
Beschwerdeverfahren nicht erhoben. Die Antragstellerinnen tragen als Gesamtschuldner die zur zweckentsprechenden Rechtsverteidigung
erforderlichen außergerichtlichen Auslagen der übrigen Verfahrensbeteiligten.
4. Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen.
5. Der Gegenstandswert des Beschwerdeverfahrens beträgt 3.000,00 EUR. Der Gegenstandswert des Antrags auf einstweilige Anordnung beträgt
500,00 EUR.
6. Den Gegenvorstellungen beider Antragstellerinnen gegen die Versagung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren im Beschluss des
Senats vom 11.10.2004 wird
keine Folge gegeben.
Gründe
I.
1
L. ist das nichteheliche Kind von M. (Antragstellerin Ziff. 2). Das Kind kam am als Frühgeburt zur Welt und musste anschließend in der
Universitätskinderklinik Tübingen behandelt werden. Nach der Klinikentlassung wurde L. von der in D. nahe Tübingen wohnenden Pflegefamilie
A. aufgenommen, wo er seitdem lebt. Auch die Mutter lebt in D. in einer Mietwohnung. Die am ... geborene Großmutter von L., Frau L.
(Antragstellerin Ziff. 1) lebt in S. In ihrem Haushalt befindet sich der am ... geborene Halbbruder von L., N.
2
Durch Beschluss des Amtsgerichts Tübingen vom 21.08.2002 (6 F 544/02) wurde der Mutter das Aufenthaltsbestimmungsrecht für L. entzogen
und das Kreisjugendamt Tübingen als Pfleger eingesetzt. Die hiergegen gerichtete Beschwerde der Mutter wurde zurückgenommen.
3
Im hier vorliegenden Verfahren geht es um die Aufhebung der Teilentziehung des Sorgerechts für L. Beide Antragstellerinnen sind der
Auffassung, dass das Aufenthaltsbestimmungsrecht auf die Großmutter übertragen werden soll, damit L. aus der Pflegefamilie A.
herausgenommen und zu dieser gebracht werden kann. Die Mutter beantragt hilfsweise, das Aufenthaltsbestimmungsrecht auf sich zu
übertragen. Auch in diesem Fall soll L. bei der Großmutter aufwachsen. Die Pflegeeltern A. beantragten beim Familiengericht den Erlass einer
Verbleibensanordnung für L. Nach Verbindung zum vorliegenden Verfahren haben sie noch in erster Instanz diesen Antrag für erledigt erklärt,
nachdem das Jugendamt als Pfleger von L. erklärt hatte, eine Herausnahme des Kindes aus der Pflegefamilie sei nicht beabsichtigt.
(...)
4
Das Familiengericht hat im angegriffenen Beschluss vom 23.07.2004 die Anträge von Mutter und Großmutter auf Übertragung des
Aufenthaltsbestimmungsrechts für L. zurückgewiesen. Hiergegen wenden sich beide Antragstellerinnen mit ihren rechtlich selbständigen
Beschwerden. Die Eheleute A. (Pflegeeltern) beantragen, die Beschwerde zurückzuweisen. Die Verfahrenspflegerin hat sich im
Beschwerdeverfahren dafür ausgesprochen, L. in der Familie A. zu belassen. Auch das Kreisjugendamt Tübingen hat sich für einen Verbleib von
L. bei der Erziehungsstelle ausgesprochen (Bericht vom 21.10.2004) und sieht bei einem jetzigen Wechsel von L. zur Großmutter dessen Wohl
massiv gefährdet.
5
Der Senat hat in mündlicher Verhandlung vom 26.10.2004 die Antragstellerinnen, sowie die Pflegemutter persönlich angehört. Auch hat sich der
Senat einen persönlichen Eindruck von L. und seinem Halbbruder N. verschafft.
6
Die Antragstellerinnen verfolgen ihren vorterminlich gestellten Antrag auf Regelung des Umgangsrechts der Großmutter durch einstweilige
Anordnung weiter. Dabei stellen sie klar, dass diese Regelung zur Herbeiführung eines leichteren Übergangs von L. von den Pflegeeltern zur
Großmutter getroffen werden solle.
II.
7
Die Beschwerden beider Antragstellerinnen sind statthaft und auch im Übrigen zulässig. Sie haben in der Sache jedoch keinen Erfolg. Auch der
Antrag auf einstweilige Anordnung zur Regelung des Umgangsrechts der Großmutter mit L. ist nicht begründet.
1.
8
Das Aufenthaltsbestimmungsrecht für L. liegt seit dem rechtskräftigen Beschluss des Familiengerichts vom 21.08.2002 beim Kreisjugendamt
Tübingen. Diese auf § 1666 BGB beruhende Maßnahme ist gem. § 1696 Abs. 3 BGB durch das Gericht in angemessenen Zeitabständen zu
überprüfen. Sie wäre nach Absatz 2 der Vorschrift aufzuheben, wenn eine Gefahr für das Wohl des Kindes nicht mehr besteht. Das
Familiengericht hat jedoch zu Recht ausgesprochen, dass die Aufhebung der Aufenthaltsbestimmungspflegschaft des Jugendamts und
Übertragung der entsprechenden Befugnis auf die Großmutter nicht in Betracht kommt, da das Kindeswohl den Verbleib von L. in der
Pflegefamilie gebietet und bei einem Wechsel zur Großmutter eine akute Kindeswohlgefährdung zu erwarten ist. Aus demselben Grund kommt
eine Rückübertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts auf die Mutter nicht in Betracht, weil diese mit ihrem Antrag gleichfalls das Ziel verfolgt,
eine Herausnahme von L. aus der Pflegefamilie und dessen Überwechseln in den Haushalt der Großmutter herbeizuführen.
9
Das Beschwerdevorbringen der Antragstellerin ist nicht geeignet, die Gründe des angefochtenen Beschlusses zu entkräften. Darüber hinaus gilt
folgendes:
2.
10 Gemäß Art. 6 Abs. 2 GG sind Pflege und Erziehung der Kinder das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über
ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft. Zwar stellt Art. 6 Abs. 1 GG neben der Ehe auch die Familie unter den besonderen Schutz der
staatlichen Ordnung. In den Familienschutz sind auch andere Bezugspersonen des Kindes, darunter sowohl die Großeltern als auch die
Pflegeeltern, bei denen sich das Kind längere Zeit aufgehalten hat, einbezogen. Allerdings ist deren Grundrechtsschutz schwächer ausgeprägt
als derjenige der leiblichen Eltern. Bei konkurrierenden Ansprüchen verschiedener Erwachsener in Bezug auf das Kind sind deren
Grundrechtspositionen gegeneinander abzuwägen, wobei das Kindeswohl im Vordergrund steht. Es ist daher aus verfassungsrechtlicher Sicht
geboten, bei einer Entscheidung nach §§ 1666, 1666a BGB die Tragweite einer Trennung des Kindes von seiner Pflegefamilie - unter
Berücksichtigung der Intensität entstandener Bindungen - einzubeziehen und die Erziehungsfähigkeit der Mitglieder der Herkunftsfamilie im
Hinblick auf ihre Eignung zu berücksichtigen, die negativen Folgen einer eventuellen Traumatisierung des Kindes gering zu halten (BVerfG
FamRZ 2000, 1489).
11 Bei Berücksichtigung des Wohls von L. muss der Grundrechtsschutz der Antragstellerinnen zurückstehen gegenüber dessen Bedürfnis, bei
seinen Pflegeeltern zu verbleiben und von diesen weiterhin betreut und versorgt zu werden. Dies ergibt sich aus dem
Sachverständigengutachten Dr. C., wobei es nach dem Dafürhalten des Senats auf die Eignung der Großmutter zur Erziehung nicht
entscheidend ankommt. Vielmehr verhält es sich nach den Feststellungen der Sachverständigen so, dass die Pflegeeltern, hauptsächlich aber
Frau A. als wesentliche Bindungs- und Beziehungspersonen für L. anzusehen sind. Weiterhin befürchtet die Sachverständige, dass nach einem
Wechsel des Kindes zur Großmutter ein vollständiger Kontaktabbruch zur Pflegefamilie entsteht, weil der Versuch eines behutsamen
stufenweisen Übergangs des Kindes von der Pflegefamilie zur Großmutter in der Vergangenheit gescheitert ist. Darin sieht die Sachverständige
ein Entwicklungsrisiko für das Kind mit der Folge einer Kindeswohlgefährdung für den Fall, dass eine Herausnahme von L. aus der Pflegefamilie
erfolgt. Nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung vom 26.10.2004 sieht der Senat diese Befürchtung der Sachverständigen und des
Familiengerichts in vollem Umfang bestätigt. (wird näher ausgeführt)
3.
12 Der Besitzanspruch der Großmutter in Bezug auf L. steht auch der Entwicklung eines engen und vertrauensvollen Verhältnisses des Kindes zu
seiner leiblichen Mutter entgegen. (wird näher ausgeführt)
13 Der Senat hegt die Hoffnung, dass durch Beibehaltung des Lebensmittelpunktes von L. in der Pflegefamilie A. sich das Verhältnis des Kindes zu
seiner leiblichen Mutter weiter verbessern und der Umgang miteinander entspannen wird. Die Pflegefamilie A. hat in der Vergangenheit
bewiesen, dass sie bereit ist, das Entstehen eines guten Mutter-Kind-Verhältnisses zu fördern. Durch Weiterführung der auf Vermittlung des
Familiengerichts zustande gekommenen Besuchsregelung kann gewährleistet werden, dass sich die Bindungen von L. zur leiblichen Mutter
festigen und nach Maßgabe des Kindeswohls auch Umgangskontakte zur Großmutter und zum Halbbruder möglich bleiben (§ 1685 Abs. 1 BGB).
Hierdurch kann die Grundlage für ein späteres Überwechseln von L. zur Mutter geschaffen werden. Voraussetzung dessen ist, dass sie sich
persönlich weiter festigt und auch die Bereitschaft entwickelt, für L. persönliche Verantwortung zu übernehmen, statt diese auf die Großmutter zu
delegieren. Derzeit sieht der Senat diese Voraussetzungen jedoch noch nicht als gegeben an, weshalb ihrem Antrag auf Rückübertragung des
Aufenthaltsbestimmungsrechts nicht zu folgen ist.
4.
14 Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zum Umgangsrecht der Großmutter mit L. ist unzulässig. Einstweilige Anordnungen im
Sinne des § 621g ZPO müssen den gleichen Verfahrensgegenstand wie das Hauptsacheverfahren haben (Zöller/Phillippi, 24. Aufl., § 621g Rn.
2). Das Umgangsrecht der Großmutter ist jedoch nicht Gegenstand des vorliegenden Beschwerdeverfahrens. Auch ist nicht ersichtlich, dass das
Bedürfnis nach Abänderung der bestehenden Umgangsregelung vorhanden ist, nachdem diese nach den Bekundungen der
Verfahrensbeteiligten ordentlich funktioniert. Soweit mit einem erweiterten Umgangsrecht der Großmutter ein Überwechseln von L. in deren
Haushalt vorbereitet werden soll, ist dieses nicht angezeigt, weil eine solche Maßnahme dem Wohl des Kindes widersprechen würde.
5.
15 Der Gegenvorstellung der Antragstellerinnen gegen den Beschluss des Senats vom 11.04.2004, in welchem ihnen Prozesskostenhilfe für das
Beschwerdeverfahren versagt wurde, kann keine Folge gegeben werden. Dabei verkennt der Senat nicht, dass das PKH-Prüfverfahren nicht
dazu dient, strittige Tatsachen - oder Rechtsfragen endgültig zu beantworten. Im vorliegenden Rechtsstreit hat das Familiengericht durch die Art
seiner Verfahrensführung die für die Entscheidung maßgeblichen Tatsachen bereits umfassend aufgeklärt und hierdurch die
Tatsachengrundlage geschaffen, auf welcher auch die Beschwerdeentscheidung aufbaut. Strittige Rechtsfragen waren im Beschwerdeverfahren
nicht mehr zu klären, weil zur Berücksichtigung des Wohls von Kindern in Pflegefamilien bei gleichzeitiger Wahrung der Grundrechte von
Elternteilen und Anverwandten des Kindes bereits eine gefestigte Rechtsprechung der Obergerichte wie auch des Bundesverfassungsgerichts
und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte existiert, welcher der Senat bei seiner Entscheidung folgt. Aus Art. 6 GG kann nicht
gefolgert werden, dass unabhängig von der Erfolgsaussicht (§ 114 ZPO) in Angelegenheiten der elterlichen Sorge Prozesskostenhilfe für das
Beschwerdeverfahren stets bewilligt werden muss.
6.
16 Die Entscheidung über die Gerichtskosten des Beschwerdeverfahrens ergibt sich aus § 131 Abs. 1 KostO. Die Verpflichtung der
Antragstellerinnen, den weiteren Verfahrensbeteiligten die zur zweckentsprechenden Rechtsverteidigung erforderlichen außergerichtlichen
Kosten zu erstatten, folgt aus § 13a Abs. 1 S. 2 FGG.
17 Die Voraussetzungen für die Zulassung der Rechtsbeschwerde sind nicht gegeben (§§ 621e Abs. 2 i.V.m. § 543 Abs. 2 ZPO).