Urteil des OLG Stuttgart vom 20.03.2003

OLG Stuttgart: gesamtstrafe, aussetzung, strafvollstreckung, anschluss, persönlichkeit, erlass, anhörung, anwendungsbereich, untersuchungshaft, rechtsberatung

OLG Stuttgart Beschluß vom 20.3.2003, 2 Ws 36/2003; 2 Ws 36/03
Strafvollstreckung: Entscheidung über Aussetzung des Strafrestes bei Vollstreckung einer Gesamtfreiheitsstrafe; Antrag auf
Vollstreckungsunterbrechung
Leitsätze
1.Auch für Halbstrafenentscheidungen nach § 57 Abs. 2 Nr. 2 StGB gilt uneingeschränkt der Grundsatz der Entscheidungskonzentration nach § 454
b Abs. 3 StPO. Für den Fall von Anschlussvollstreckungen sind Anträge an die Strafvollstreckungskammern gemäß § 57 Abs. 2 Nr. 2 StGB daher erst
in dem Zeitpunkt zulässig, wenn über die Aussetzung sämtlicher Reststrafen entschieden werden kann.
2. Hiervon unberührt bleibt die Möglichkeit, Anträge auf Vollstreckungsunterbrechung an die Vollstreckungsbehörden zu richten. Gegen die
Ermessensentscheidung nach § 43 Abs. 4 StrafVollstrO ist der Rechtsweg gemäß §§ 21 StrafVollstrO, 23 ff EGGVG gegeben.
Tenor
Die sofortige Beschwerde des Verurteilten gegen den Beschluss des Landgerichts Ulm - Strafvollstreckungskammer - vom 20. Februar 2003 wird als
unbegründet verworfen.
Der Beschwerdeführer trägt die Kosten seines Rechtsmittels.
Gründe
I.
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Der Beschwerdeführer wurde durch Urteil des Amtsgerichts Stuttgart vom 05. Juni 2002 (103 Ls 147 Js 34814/99) wegen Betrugs in zwei Fällen
unter Auflösung einer durch das Landgericht Stuttgart durch Urteil vom 04. März 1999 verhängten Gesamtstrafe und unter Einbeziehung dieser
Einzelstrafen zu einer Gesamtstrafe von 2 Jahren und 6 Monaten Freiheitsstrafe verurteilt. Ferner wurde er durch das Urteil des Amtsgerichts
Stuttgart vom 05. Juni 2002 wegen Verstoßes gegen die Gewerbeordnung, Betruges u.a. zu einer weiteren Gesamtstrafe von ebenfalls 2 Jahren
und 6 Monaten Freiheitsstrafe verurteilt. Derzeit verbüßt der Beschwerdeführer die erste der vorgenannten Gesamtfreiheitsstrafen.
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Unter Anrechnung der erlitten Untersuchungshaft war am 25. November 2002 die Hälfte dieser Strafe vollstreckt; 2/3 werden am 25. April 2003
vollstreckt sein. Auf diesen Zeitpunkt ist auch die Unterbrechung der Vollstreckung der ersten Gesamtfreiheitsstrafe zum Zwecke der
Anschlussvollstreckung der weiteren Gesamtfreiheitsstrafe in Höhe von 2 Jahren und 6 Monaten notiert. Die Hälfte dieser zweiten
Gesamtfreiheitsstrafe wird am 25. Juli 2004 vollstreckt sein, der 2/3-Zeitpunkt ist der 24. Dezember 2004.
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Am 28. November 2002 hat der Beschwerdeführer bei der zuständigen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Ulm beantragt, den Strafrest
der ersten, derzeit vollstreckten Gesamtfreiheitsstrafe nach Verbüßung der Hälfte gemäß § 57 Abs. 2 StGB zur Bewährung auszusetzen. Ohne
Anhörung des Beschwerdeführers hat das Landgericht Ulm durch - angefochtenen - Beschluss vom 20. Februar 2003 diesen Antrag als
unzulässig, weil verfrüht, verworfen.
II.
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Die zulässige sofortige Beschwerde des Verurteilten ist unbegründet. Die Strafvollstreckungskammer hat im Ergebnis zu Recht den Antrag des
Verurteilten als unzulässig verworfen.
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1. Die Verfahrensregeln hinsichtlich der Vollstreckung mehrerer Freiheitsstrafen sind in § 454 b StPO gesetzlich geregelt. Insoweit darf gemäß §
454 b Abs. 3 StPO für den Fall einer Anschlussvollstreckung eine gerichtliche Entscheidung nach § 57 StGB erst in dem Zeitpunkt ergehen, wenn
über die Aussetzung sämtlicher Reststrafen entschieden werden kann. Diese Regelung kann der Beschwerdeführer nicht dadurch unterlaufen,
dass er in Abweichung von der gesetzlichen Unterbrechungsregel des § 454 b Abs. 2 Nr. 2 StPO hinsichtlich der ersten Freiheitsstrafe einen
Antrag gemäß § 57 Abs. 2 Nr. 2 StGB an die Strafvollstreckungskammer stellt. Auch für Halbstrafenentscheidungen nach § 57 Abs. 2 Nr. 2 StGB
gilt nach Auffassung des Senats uneingeschränkt der Grundsatz der Entscheidungskonzentration nach § 454 b Abs. 3 StPO (im Anschluss an
OLG Frankfurt NStZ-RR 1997, 95/OLG Düsseldorf VRS 81, 293).
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2. Der Senat verkennt insoweit nicht, dass in der Rechtsprechung teilweise die gegenteilige Auffassung vertreten wird (OLG Oldenburg MDR
1987, 75/OLG Düsseldorf NStZ 1991, 103/LG Hamburg MDR 91, 666). Teilweise wird hieraus der Schluss gezogen, über Anträge gemäß § 57
Abs. 2 Nr. 2 StGB sei auch im Fall einer Anschlussvollstreckung bereits vorab im Zeitpunkt ihres jeweiligen Eingangs zu entscheiden (OLG
Oldenburg aaO/OLG Düsseldorf aaO). Diese Auffassung stützt sich auf den Umstand, dass die Regelung des § 454 b Abs. 2 StPO
Halbstrafenanträge gemäß § 57 Abs. 2 Nr. 2 StGB nicht erfasst. Da § 454 Abs. 3 StPO mittels eines Querverweises auf § 454 b Abs. 2 StPO
Bezug nehme und deshalb den selben Regelungsbereich habe, könnten - so die Gegenauffassung - derartige Halbstrafengesuche nicht der
Konzentrationswirkung unterfallen.
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3. Diese Auffassung überzeugt nicht, da der gesetzliche Regelungszweck des § 454 b Abs. 3 StPO, den Verfahrensaufwand bei
Anschlussvollstreckungen spürbar zu verringern, anderenfalls nicht erreicht werden kann.
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Ferner ergibt sich durch eine derartige Verfahrenskonzentration eine ungleich bessere Beurteilungsgrundlage hinsichtlich der im Rahmen der
Entscheidung nach § 57 StGB zu prüfenden kriminalprognostischen Faktoren als bei einer vorgezogenen Einzelfallprognose hinsichtlich nur
einer zu vollstreckenden Strafe. In aller Regel lässt sich zu einem derart frühen Zeitpunkt, solange noch eine Anschlussvollstreckung bevorsteht,
nicht hinreichend sicher beurteilen, ob eine Strafaussetzung - ob zum 1/2- oder zum 2/3-Zeitpunkt sei dahin gestellt - verantwortet werden kann.
Diese Erwägung gilt umso mehr für Halbstrafengesuche gemäß § 57 Abs. 2 Nr. 2 StGB, da die Entscheidung hierüber eine umfassende
Gesamtwürdigung nicht nur der Tat und der Persönlichkeit des Verurteilten, sondern insbesondere auch seiner Entwicklung während des
Strafvollzugs voraussetzt. Diese Entwicklung kann hinreichend fundiert erst relativ zeitnah zum Entlassungszeitpunkt beurteilt werden.
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Bei dieser Sachlage ist eine isolierte Vorabentscheidung bezüglich einer einzelnen Strafe durch die Strafvollstreckungskammer - auch wenn
insoweit ein Halbstrafenantrag gemäß § 57 Abs. 2 Nr. 2 StGB gestellt ist - nicht zulässig (so auch KK StPO, 4. Aufl., § 454 b Rdnr. 16).
10 Die vom Senat vertretene Auffassung hat indes nicht zur Folge, dass dem Beschwerdeführer keinerlei Möglichkeit zur Stellung eines
Unterbrechungsantrags hinsichtlich der derzeit verbüßten Freiheitsstrafe verbleibt. Der Gesetzgeber hat bei Erlass der Regelung des § 454 b
Abs. 2 StPO, welche Halbstrafenanträge gemäß § 57 Abs. 2 Nr. 2 StGB nicht erfasst, erkennbar keine abschließende Regelung der
Strafunterbrechung schaffen wollen. Anderenfalls verbliebe nämlich bei Anschlussvollstreckungen für § 57 Abs. 2 Nr. 2 StGB praktisch kein
Anwendungsbereich mehr (so auch OLG Hamm NStZ 1993, 302/OLG Frankfurt aaO). Hieraus folgt, dass dem Beschwerdeführer die sonstigen
Möglichkeiten, auf die Abfolge der Strafvollstreckung mit Anträgen einzuwirken, nach wie vor offen stehen.
11 So bleibt es dem Beschwerdeführer unbenommen, einen Unterbrechungsantrag hinsichtlich der ersten, derzeit vollstreckten
Gesamtfreiheitsstrafe an die Vollstreckungsbehörde zu richten, die hierüber im Rahmen ihres Ermessens gemäß § 43 Abs. 4 StrafVollstrO zu
entscheiden hat. Gegen die Ermessensentscheidung der Strafvollstreckungsbehörde steht dem Beschwerdeführer gegebenenfalls die
Beschwerde gemäß § 21 StrafVollstrO zu, die ihrerseits den Rechtsweg gemäß §§ 23 ff. EGGVG eröffnet (so auch OLG Frankfurt aaO, OLG
Hamm aaO, OLG Celle MDR 1990, 176/Wendisch, JR 1990, 212 f); der Beschluss des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 11. Oktober 1990 (Justiz
1990, 472) betraf einen nicht vergleichbaren Sachverhalt.
12 Soweit teilweise in der Rechtsprechung die Auffassung vertreten wird, bei einer ablehnenden Entscheidung der Vollstreckungsbehörde über
einen Antrag gemäß § 57 Abs. 2 Nr. 2 StGB sei der Rechtsweg gemäß § 458 Abs. 2 StPO gegeben (so OLG Zweibrücken JR 1990, 211/LG
Hamburg MDR 1991, 666), überzeugt dies nach Auffassung des Senats nicht. § 458 Abs. 2 StPO verweist hinsichtlich seines
Anwendungsbereichs ausdrücklich auf die Fälle des § 454 b Abs. 1 und 2 StPO. Anträge nach § 57 Abs. 2 Nr. 2 StGB sind jedoch von der
Regelung des § 454 b Abs. 2 StPO gerade nicht erfasst.
13 Bei dieser Sachlage hat die Strafvollstreckungskammer zu Recht den Antrag des Beschwerdeführers als unzulässig verworfen. Der
Beschwerdeführer wird - sollte er sein Halbstrafenbegehren weiter verfolgen wollen - zunächst eine Entscheidung der Vollstreckungsbehörde
gemäß § 43 StrafVollstrO herbeizuführen haben.