Urteil des OLG Stuttgart vom 29.11.2004

OLG Stuttgart: treu und glauben, unterbrechung der verjährung, verzicht, verjährungsfrist, minderung, erwerbsfähigkeit, vertrauensschutz, schadenersatz, verkehrsunfall, vollstreckung

OLG Stuttgart Urteil vom 29.11.2004, 5 U 112/04; 5 U 112/2004
Verjährung für Schadenersatzansprüche aus Verkehrsunfall: Treuwidrige Berufung auf einen unwirksamen vor Verjährungseintritt erklärten
Verjährungsverzicht
Leitsätze
Ein Verjährungsverzicht, der vor dem Verjährungseintritt ausgesprochen wurde, war nach § 225 BGB a. F. unwirksam. Die Berufung auf Verjährung
verstößt jedoch gegen Treu und Glauben; dies gilt solange der Schuldner das Vertrauen auf den Verzicht aufrechterhält.
Tenor
1. Die Berufung der Beklagten gegen das Grund- und Teilurteil des Landgerichts Ravensburg vom 25.6.2004 - Az.: 4 O 104/04 - wird
zurückgewiesen.
Zur Entscheidung über die Höhe des Anspruchs wird der Rechtsstreit an das Landgericht Ravensburg zurückverwiesen.
2. Die Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar; die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu
vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Streitwert des Berufungsverfahrens: 27.970,08 EUR.
Gründe
I.
1
Die Parteien streiten über Ansprüche der Klägerin wegen Verdienstausfalls; die Beklagte wendet Verjährung ein.
2
Die am 16.12.1971 geborene Klägerin wurde am 22.7.1986 als Radfahrerin bei einem Verkehrsunfall verletzt. Der Fahrer, dessen Fahrzeug bei
der Beklagten haftpflichtversichert war, fuhr mit überhöhter Geschwindigkeit und missachtete die Vorfahrt der Klägerin. Die Haftungsquote der
Beklagten aus diesem Unfall zu 100 % ist zwischen den Parteien unstreitig. Die Klägerin erlitt eine Vielzahl schwerer Verletzungen, u. a. ein
schweres Schädel-Hirn-Trauma mit Subarchnoidalblutung, eine Stammhirnschädigung mit rechtsseitigem Klein- und Großhirninfarkt, mit der
Folge einer beinbetonten Halbseitenschwäche, einer mäßiggradigen Hirnleistungsschwäche, einer leichten Wesensveränderung und
postkontusionellen Kopfschmerzen. Die Klägerin hatte bereits als Kind im Alter von 9 Monaten eine Kinderlähmung erlitten, in deren Folge ihr
rechter Oberarm teilweise gelähmt ist. Schon vor dem Unfall war sie zu 70 % schwerbehindert.
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Am 28.11.1989 unterzeichneten die gesetzlichen Vertreter der damals minderjährigen Klägerin eine Abfindungserklärung, wonach sie durch
Zahlung von 85.000,00 DM wegen aller bisherigen und künftigen Ansprüche aus dem Schadensereignis endgültig abgefunden wurde. Die
Geltendmachung weiterer, künftiger, materieller Zukunftsschäden blieb vorbehalten. Insoweit verzichtete die Beklagte auf den Einwand der
Verjährung. Auf Veranlassung der Beklagten wurde die Klägerin im August 1995 und im April 1999 von Prof. Dr. W., hinsichtlich der
unfallbedingten Minderung der Erwerbsfähigkeit begutachtet. Der Gutachter kam zu dem Ergebnis der unfallbedingten Minderung der
Erwerbsfähigkeit im eigenen Beruf mit 40 %, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt mit 30 %.
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Am 8.10.1999 vereinbarten die Parteien erneut eine Abfindungsvereinbarung, wonach sich die Klägerin wegen aller bisherigen und künftigen
Ansprüche aus dem Schadensereignis nach Zahlung von 266.000,00 DM für endgültig abgefunden erklärte. Vorbehalten blieb eventueller
unfallbedingter Verdienstschaden ab dem 1.1.2003. Nachdem sich die Klägerin über ihre Prozessbevollmächtigten wegen weiteren
Verdienstentganges an die Beklagte wandte, erhob diese mit Schreiben vom 19.3.2004 die Einrede der Verjährung. Am 5.4.2004 beantragte die
Klägerin Gewährung von Prozesskostenhilfe für die vorliegende Klage, welche bewilligt wurde.
5
Die Klägerin hat beantragt, die Beklagte zur Zahlung eines Verdienstausfallschadens in Höhe von 5.742,52 EUR für die Monate Januar 2003 bis
März 2004 (Klagantrag Nr. 1), sowie zur Zahlung einer monatlichen Rente wegen Erwerbsminderung in Höhe von 418,18 EUR ab April 2004 bis
zur Regelaltersgrenze (Klagantrag Nr. 2) zu verurteilen, sowie festzustellen, dass die Beklagte zum Ersatz sämtlicher weiterer
Verdienstausfallschäden verpflichtet ist (Klagantrag Nr. 3). Die Beklagte hat eingewandt, dass der Anspruch verjährt sei. Die
Abfindungserklärung von 1999 sei an die Stelle der Abfindungserklärung von 1989 getreten und ersetze diese vollständig. Die zweite
Abfindungserklärung enthalte keinen Verzicht auf die Einrede der Verjährung, weshalb die Beklagte an der Erhebung dieser Einrede nicht
gehindert sei.
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Wegen des weiteren Sachvortrages in erster Instanz wird auf die Schriftsätze samt Anlagen sowie die Feststellungen im Tatbestand des
angefochtenen Urteils (Bl. 62/66) Bezug genommen.
7
Das Landgericht hat durch Teil- und Grundurteil die Klaganträge Nr. 1 und 2 dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt und dem Klagantrag Nr. 3
stattgegeben. Zur Begründung hat das Landgericht ausgeführt, dass die Erklärung der Beklagten in der Abfindungsvereinbarung vom
28.11.1998 zwar ungültig sei, aber Vertrauensschutz begründet habe. Solange die Beklagte den Eindruck erweckte, sie werde diese Zusage
einhalten, verstoße die erhobene Verjährungseinrede gegen § 242 BGB.
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Gegen das Grund- und Teilurteil wendet sich die form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Beklagten unter Aufrechterhaltung und
Vertiefung ihrer Rechtsauffassung.
9
Die Beklagte beantragt,
10
das Grund- und Teilurteil des Landgerichts Ravensburg vom 25.6.2004 - Az. 4 O 104/2004 - abzuändern und die Klage abzuweisen.
11 Die Klägerin beantragt,
12
die Berufung zurückzuweisen.
13 Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien in zweiter Instanz wird auf die gewechselten Schriftsätze der Parteien ergänzend Bezug
genommen.
II.
14 Die zulässige Berufung ist unbegründet.
15 1. Das Grund- und Teilurteil des Landgerichts ist nach §§ 301, 304 ZPO zulässig. Die Klägerin macht einen einheitlichen Anspruch, nämlich
Schadenersatz wegen Verdienstentgangs geltend, der jedoch teilbar ist, hinsichtlich der bezifferten Anträge und hinsichtlich etwaiger, darüber
hinausgehender Beträge im Feststellungsantrag. Bezüglich der Klaganträge Nr. 1 und 2 (Zahlungsanträge) lagen die Voraussetzungen für ein
Grundurteil, nämlich bezifferter Anspruch, Anspruch streitig nach Grund und Höhe, Entscheidungsreife bezüglich des Grundes (vgl.
Zöller/Vollkommer, Kommentar zur ZPO, 23. Auflage, Rn. 2 bis 6 zu § 304, Rn. 7 a zu § 301) vor. Die Gefahr divergierender Entscheidungen
hinsichtlich des Teilurteils besteht nicht, da der Feststellungsantrag andere Beträge erfasst als die mit den Zahlungsanträgen geltend gemachten
Ansprüche und Gegenansprüche von der Beklagten nicht geltend gemacht sind.
16 2. Die Klägerin hat gegen die Beklagten einen Anspruch auf Schadenersatz aus §§ 823 BGB, 7 StVG, 3 Pflichtversicherungsgesetz. Dieser
Anspruch der Klägerin ist verjährt, der Beklagten war es jedoch verwehrt, sich auf den Eintritt der Verjährung insoweit zu berufen.
17 2.1. Die Verjährungsfrist richtet sich nach § 852 BGB a. F. Gemäß Art. 229 § 6 Abs. 3 EGBGB würde nur dann eine längere Frist gelten, wenn im
neuen Verjährungsrecht eine längere Verjährungsfrist festgelegt ist und wenn die Verjährung nicht bereits zum 31.12.2001 eingetreten war.
Unabhängig von der Frage, wann die Verjährung eingetreten ist, gilt nach § 195 BGB n. F. eine Verjährungsfrist von ebenfalls 3 Jahren, mithin
keine längere Verjährungsfrist. Damit bleibt es bei der ursprünglichen Frist des § 852 BGB a. F.
18 2.2. Vereinbarung vom 28.11.1989:
19 Die Vereinbarung vom 8.10.1989 verstieß gegen § 225 BGB a. F. Sie führte nicht zu einer Hemmung (im Sinne des alten BGB) oder
Unterbrechung der Verjährung, da diese Erklärung noch vor Ablauf der Verjährungsfrist abgegeben wurde. Denn die 3-jährige Verjährungsfrist
nach § 852 BGB a.F. war, wegen einer Hemmung infolge von Verhandlungen, die zur ersten Abfindungserklärung führten (§ 852 Abs. 2 BGB a.
F.), noch nicht abgelaufen. Der Verzicht der Beklagten war daher unwirksam (ständige Rechtsprechung, vgl. BGH NJW 79, 866; BGH VersR 84,
689). Der Anspruch verjährte spätestens, wenn man in der Abfindungsvereinbarung von 1989 das Ende der Verhandlungen im Sinne von § 852
Abs. 2 BGB a. F. sieht, 1992. Gleiches gilt, wenn man in der Abfindungsvereinbarung ein die Verjährung unterbrechendes Anerkenntnis (§ 208
BGB a. F.) sehen wollte. Im Zeitpunkt der Vereinbarung vom 8.10.1999 war der Anspruch der Klägerin verjährt, schon seit rund 7 Jahren.
20 Der Verzicht auf die Einrede der Verjährung in der Vereinbarung von 1989 ist zwar unwirksam, aber nicht ohne rechtliche Bedeutung. Denn bei
Abschluss einer solchen Verzichtsvereinbarung verstößt der Schuldner mit einer Berufung auf den Eintritt der Verjährung gegen Treu und
Glauben, § 242 BGB, solange er beim Gläubiger den Eindruck erweckt oder aufrechterhält, dessen Ansprüche befriedigen oder doch lieber mit
sachlichen Einwendungen bekämpfen zu wollen und solange er diesen dadurch von einer Klage abhält (BGH NJW 1998, 903; 2003, 1524). Mit
der Vereinbarung von 1989 begründete die Beklagte bei der Klägerin den Eindruck, sich nicht auf den Eintritt der Verjährung berufen zu wollen.
Diesen Eindruck bestätigte sie, als sie nach Ablauf der Verjährungsfrist die Klägerin zweimal von einem Sachverständigen untersuchen und die
Unfallfolgen begutachten ließ und schließlich einen Betrag in Höhe von 266.000,00 DM an die Klägerin bezahlte.
21 2.3. Vereinbarung vom 08.10.1999:
22 Die Beklagte hat in der Abfindungsvereinbarung von 1999 nicht hinreichend deutlich gemacht, dass sie sich in Abkehr von ihrem bis dahin
geübten Verhalten künftig auf den Eintritt der Verjährung berufen werde. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes kommt es nicht
darauf an, ob ein Verzicht wiederholt wird, sondern darauf, ob der Eindruck des Gläubigers aufrechterhalten wird. Das bedeutet, dass der
Schuldner mehr tun muss, als lediglich den Verzicht nicht fortzusetzen. Da die Verjährungsfrist schon abgelaufen war, hätte die Klägerin bei
Erkennen einer Absicht der Beklagten, nicht weiter an den Verzicht gebunden sein zu wollen, umgehend, jedenfalls noch im Jahr 1999, Klage
erheben müssen. Davon ging jedoch auch die Beklagte nicht aus. Andernfalls hätte der Vorbehalt wegen Ansprüchen infolge Verdienstentgangs
der Klägerin ab Januar 2003 keinen Sinn gemacht. Mit der Vorbehaltsformulierung bezüglich Verdienstentgangsansprüchen ab Januar 2003 hat
die Beklagte den bisher von ihr unterhaltenen Eindruck der Klägerin im Vertrauen auf den Verzicht der Verjährungseinrede perpetuiert. Die
Vereinbarung vom 08.10.1999 kann nur dahin verstanden werden, dass der in den nächsten 3 Jahren, bis 2002, entstehende Schaden
abgegolten wird, wegen danach entstehenden weiteren Verdienstentgangs die Klägerin jedoch das Recht haben sollte, weitere Ansprüche
geltend zu machen und der Verzicht auf die Einrede der Verjährung deshalb - selbstverständlich - weiter gelten sollte. Diesen Eindruck hielt die
Beklagte bis zu dem Tag, als sie sich erstmals auf den Eintritt der Verjährung berief, aufrecht. Erst ab diesem Zeitpunkt endete der
Vertrauensschutz der Klägerin und diese war gehalten, innerhalb einer angemessenen, ihrerseits nach Treu und Glauben zu bestimmenden
Frist, den Anspruch gerichtlich geltend zu machen. Das innerhalb von rund 3 Wochen eingeleitete Prozesskostenhilfeverfahren mit
nachfolgender Klage erfolgte innerhalb der von der Rechtsprechung als im allgemein angemessen erscheinenden Frist von einem Monat.
23 2.4. Die Beklagte war daher an der Erhebung der Einrede der Verjährung gegenüber den mit der Klage geltend gemachten Ansprüchen nach
Treu und Glauben (§ 242 BGB) gehindert. Das Landgericht hat dem Feststellungsantrag zutreffend und mit zutreffender Begründung
stattgegeben und in zulässiger und begründeter Weise ein Grundurteil erlassen, weshalb die Berufung zurückzuweisen war.
24 3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit auf §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
25 Die Revision ist nicht zuzulassen, da die Sache keine grundsätzliche Bedeutung hat und die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer
einheitlichen Rechtsprechung die Zulassung der Revision nicht gebieten, § 543 Abs. 2 ZPO.