Urteil des OLG Stuttgart vom 18.01.2008

OLG Stuttgart (wiedereinsetzung in den vorigen stand, erledigung des verfahrens, beschwerde, rechtliches gehör, sachliche zuständigkeit, beschwerdeführer, zpo, unterhalt, wiedereinsetzung, antrag)

OLG Stuttgart Beschluß vom 18.1.2008, 8 WF 12/08
Vergütungsfestsetzungsverfahren für den Prozesskostenhilfeanwalt in einer Familiensache: Sachliche
Zuständigkeit für die Entscheidung über einen Wiedereinsetzungsantrag wegen Versäumung der
Beschwerdefrist; Rechtsanwaltsgebühren bei Einigung über nicht rechtshängige Ansprüche in
mündlicher Verhandlung und deren Mitprotokollierung im Vergleich; Voraussetzungen der Festsetzung
einer Terminsgebühr
Leitsätze
1. Über einen Wiedereinsetzungsantrag wegen der Versäumung der Beschwerdefrist entscheidet das
Beschwerdegericht, sofern mit dem Antrag die Rechtsmitteleinlegung erfolgt und die Erstinstanz nicht im Rahmen
ihrer Abhilfebefugnis den Wiedereinsetzungsantrag und die Beschwerde für zulässig und begründet erachtet und
deshalb zumindest teilweise abhilft.
2. Wird im Rahmen der mündlichen Verhandlung über nicht rechtshängige Ansprüche nach vorheriger Erörterung
eine Einigung erzielt und protokolliert, so entsteht neben der 1,5-Einigungsgebühr gem. Nr. 1000 RVG-VV, auch
eine 0,8-Verfahrensgebühr nach Nr. 3101 Ziff. 2 RVG-VV und eine 1,2-Terminsgbühr nach Nr. 3104 (Abs. 2) RVG-
VV.
3. Die Terminsgebühr ist ebenso wie die anderen Gebühren für den PKH-Anwalt im
Vergütungsfestsetzungsverfahren gem. § 55 RVG gegen die Staatskasse festzusetzen, wenn der
Prozesskostenhilfebewilligungs- und der Beiordnungsbeschluss auf die Vereinbarung erstreckt werden.
Tenor
1. Auf die sofortige Beschwerde des Beschwerdeführers wird der Beschluss des Familienrichters des
Amtsgerichts Ulm - Familiengericht - vom 22. Oktober 2007, Az. 1 F 972/06,
abgeändert:
Auf die Erinnerung des Beschwerdeführers wird der Vergütungsfestsetzungsbeschluss des Urkundsbeamten der
Geschäftsstelle des Amtsgerichts Ulm vom 28. August 2007, Az. 1 F 972/06, dahin
abgeändert,
dass zusätzlich zu den festgesetzten 1.145,02 EUR
weitere 17,13 EUR, damit insgesamt 1.162,15 EUR
als Vergütung gegen die Staatskasse festgesetzt werden.
2. Die Verfahren über die Erinnerung und die Beschwerde sind gebührenfrei. Kosten werden in beiden Verfahren
nicht erstattet.
Gründe
1.
1
Der Antragstellerin war durch Beschluss des Familiengerichts Ulm vom 19. September 2006
Prozesskostenhilfe bewilligt worden für die Verfahrensgegenstände "Ehescheidung und Versorgungsausgleich"
ohne Zahlungspflichten und unter Beiordnung des Beschwerdeführers.
2
Im Verhandlungstermin vom 12. Juli 2007 erklärten die Parteien, dass sie sich über den Unterhalt einigen
wollen. Hierauf wurde durch Beschluss desselben Tages die Prozesskostenhilfebewilligung unter Beiordnung
des Beschwerdeführers auf "die Vereinbarung über den nachehelichen Unterhalt" erstreckt. Nach Erörterung
der Sach- und Rechtslage schlossen die Parteien einen Vergleich über den nachehelichen Unterhalt. Die
Streitwerte wurden für die Scheidung auf 5.808 EUR, den Versorgungsausgleich auf 2.000 EUR und die
Vereinbarung über den nachehelichen Unterhalt auf 3.600 EUR festgesetzt. Das Scheidungsverfahren wurde
beendet durch Urteil vom 12. Juli 2007, in dem die Kosten des Verfahrens gegeneinander aufgehoben wurden.
3
Auf den Antrag des Beschwerdeführers vom 13. Juli 2007 wurden mit dem angefochtenen
Vergütungsfestsetzungsbeschluss vom 28. August 2007 1.145,02 EUR statt der verlangten 1.162,15 EUR in
Ansatz gebracht. Die Kürzung wurde damit begründet, dass sich die Beiordnung auf den abgeschlossenen
Vergleich erstreckt habe, der Rechtsanwalt in diesem Fall aber neben der 1,5-Einigungsgebühr nach Nr. 1000
RVG-VV nur die 0,8-Verfahrensgebühr nach Nr. 3101 Ziff. 2 RVG-VV aus der Staatskasse erhalte, nicht jedoch
eine Terminsgebühr.
4
Die hiergegen gerichtete Erinnerung hat der Familienrichter am 22. Oktober 2007 zurückgewiesen mit im
Wesentlichen gleich lautender Begründung wie im Festsetzungs- und Nichtabhilfebeschluss des
Urkundsbeamten. Gleichzeitig wurde die "Rechtsbeschwerde" zugelassen und mit Beschluss vom 12.
November 2007 klargestellt, dass die Beschwerde gem. § 33 Abs. 3 Satz 2 RVG wegen der grundsätzlichen
Bedeutung der zur Entscheidung stehenden Frage zugelassen werden sollte.
5
Die vom Beschwerdeführer eingelegte Beschwerde ging verspätet ein und wurde deshalb durch Beschluss des
Senats vom 29. November 2007, Az. 8 WF 160/07, als unzulässig verworfen.
6
Hierauf erhob der Beschwerdeführer am 10. Dezember 2007 erneut Beschwerde verbunden mit dem Antrag auf
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der Versäumung der Beschwerdefrist.
7
Der Familienrichter gewährte mit Beschluss vom 7. Januar 2008 die beantragte Wiedereinsetzung und legte im
Übrigen die Akten dem Oberlandesgericht ohne Abhilfe zur Entscheidung vor.
2.
A)
8
Die sofortige Beschwerde ist gem. §§ 56 Abs. 2, 33 Abs. 3 Satz 2 RVG aufgrund der Zulassung durch das
Amtsgericht statthaft, obwohl eine Beschwer von über 200 EUR nicht vorliegt. Der Senat ist als
Beschwerdegericht an die Zulassung gebunden (§§ 56 Abs. 2 Satz 1, 33 Abs. 4 Satz 4 RVG).
9
Das Rechtsmittel ist auch sonst zulässig; insbesondere form- und fristgerecht erhoben worden, nachdem der
Familienrichter für die erneute Rechtsmitteleinlegung dem Beschwerdeführer Wiedereinsetzung in den vorigen
Stand wegen der Versäumung der Beschwerdefrist gewährt hat.
10 Ob diese Entscheidung des Amtsgerichts das Rechtsmittelgericht bindet (Greger in Zöller, ZPO, 26. Aufl.
2007, § 238 Rdnr. 6; Grandel in Musielak, ZPO, 5. Aufl. 2007, § 238 Rdnr. 5; Hüßtege in Thomas/Putzo, ZPO,
28. Aufl. 2007, § 238 Rdnr. 13; je m. w. N.), obwohl dieses zuvor die sofortige Beschwerde wegen der
Fristversäumung verworfen hatte, kann dahingestellt bleiben.
11 Da der Wiedereinsetzungsantrag gem. §§ 233, 234 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2, 236 ZPO zulässig und begründet ist
und dem Beschwerdeführer vor der Verwerfung kein rechtliches Gehör eingeräumt worden ist, wäre ebenfalls
vom Senat als Rechtsmittelgericht die Wiedereinsetzung zu gewähren.
12 In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass über einen Wiedereinsetzungsantrag in die versäumte
Frist für die sofortige Beschwerde, die mit diesem Antrag zugleich eingelegt wird, grundsätzlich das
Beschwerdegericht - gerade auch dann, wenn es das verspätete Rechtsmittel bereits verworfen hatte, - und
nicht das erstinstanzliche Gericht im Rahmen seiner Abhilfebefugnis (§ 572 Abs. 1 ZPO; §§ 56 Abs. 2 Satz 1,
33 Abs. 4 Satz 1 RVG) entscheidet.
13 Der Erstrichter hätte über den Wiedereinsetzungsantrag nur befinden dürfen, wenn er ihn für zulässig und
begründet sowie ebenfalls die sofortige Beschwerde für zulässig und (zumindest teilweise) begründet erachtet
hätte (Greger, a. a. O., § 237 Rdnr. 1; Grandel, a. a. O., § 237 Rdnr. 1; Hüßtege, a. a. O., § 237 Rdnr. 1;
Brandenburgisches OLG, OLG-NL 2005, 208; OLG Koblenz MDR 2002, 909; je m. w. N.). Der Amtsrichter
hätte also nur dann die Wiedereinsetzung gewähren dürfen, wenn er zugleich der Beschwerde abgeholfen hätte
(§§ 56 Abs. 2 Satz 1, 33 Abs. 4 Satz 1 RVG).
14 Eine andere Beurteilung folgt auch nicht daraus, dass der Beschwerdeführer angeregt hat, das Verfahren
zunächst auf die Entscheidung über den Wiedereinsetzungsantrag zu beschränken, da er diesen gerade mit
der Rechtsmitteleinlegung verbunden hatte.
B)
15 Die sofortige Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg.
16 Dem aufgrund der Bewilligung von Prozesskostenhilfe beigeordneten Beschwerdeführer steht - unabhängig
vom Ausgang des zu Grunde liegenden Rechtsstreits (Hartmann, Kostengesetze, 37. Aufl. 2007, § 55 RVG
Rdnr. 1, § 59 RVG Rdnr. 1) ein Anspruch auf Festsetzung der geltend gemachten 1,2-Terminsgebühr zu.
17
a)
18 Nr. 3104 Abs. 2 RVG-VV ist anzuwenden, wenn in einem Termin versucht wird, auf Grund von Verhandlungen
weitere in dem streitgegenständlichen Verfahren nicht rechtshängige Ansprüche in einer Einigung
einzubeziehen. Abs. 2 enthält eine doppelte Aussage. Zunächst einmal ist ihm zu entnehmen, dass eine 1,2-
Terminsgebühr auch dann anfällt, wenn Einigungsgespräche über solche in dem Verfahren nicht
rechtshängigen Ansprüche geführt werden. Denn nur eine entstandene Gebühr kann angerechnet werden. Zum
anderen enthält Abs. 2 eine Anrechnungsbestimmung, die aber allein dann zum Zuge kommt, wenn in einem
anderen Verfahren eine Terminsgebühr wegen desselben Gegenstands entsteht, auf die die Anrechnung zu
erfolgen hat (Müller-Rabe in Gerold/Schmidt/von Eicken/Madert/Müller-Rabe, RVG, 17. Aufl. 2006, Nr. 3104
RVG-VV Rdnr. 73 m. w. N.).
19 In der Niederschrift über den Verhandlungsablauf am 12. Juli 2007 ist eine Erörterung der danach
geschlossenen Vereinbarung protokolliert Dies reicht aus, um die 1,2-Terminsgebühr aus dem
Gesamtstreitwert von 11.408 EUR - also auch aus dem sich für die nicht rechtshängigen Unterhaltsansprüche
ergebenden Streitwert des Vergleichs - anfallen zu lassen.
20 Dabei wird die Terminsgebühr nicht durch die erhöhte 1,5-Einigungsgebühr der Nr. 1000 RVG-VV mit
abgegolten, sondern kann neben der Einigungsgebühr entstehen, wenn die Einigung in einem gerichtlichen
Termin (Nr. 3104 RVG-VV) - wie hier - oder bei einer auf Vermeidung oder Erledigung des Verfahrens
gerichteten außergerichtlichen Besprechung (Vorbem. 3 Abs. 3 RVG-VV) zu Stande kam. Dass diese Tätigkeit
durch die Einigungsgebühr nicht abgegolten ist, betont das RVG-VV ausdrücklich in Vorbem. 1 (von Eicken in
Gerold/Schmidt/von Eicken/Madert/Müller-Rabe, a. a. O., Nr. 1000 RVG-VV Rdnr. 83 m. w. N.).
21 Die 1,2-Terminsgebühr wird dabei berechnet aus dem Gesamtstreitwert der verhandelten Gegenstände (Müller-
Rabe, a. a. O., Nr. 3104 RVG-VV Rdnr. 126; OLG Stuttgart -Senat- AGS 2006, 592; Beschluss des Senats
vom 24. August 2007, Az. 8 W 332/07), so wie auch bei der Einbeziehung anderweitig anhängiger Ansprüche in
einen Prozessvergleich eine einheitliche 1,0-Einigungsgebühr aus dem Gesamtwert der verglichenen
Ansprüche entsteht (OLG Stuttgart -Senat- NJW-RR 2005, 940; von Eicken, a. a. O., Nr. 1000 RVG-VV Rdnr.
45; je m. w. N.).
22
b)
gem. § 55 RVG für den Beschwerdeführer aus der Staatskasse festzusetzen.
23 Gem. §§ 45, 48 RVG bestimmt sich der Vergütungsanspruch gegen die Staatskasse nach den Beschlüssen,
durch die die Prozesskostenhilfe bewilligt und der Rechtsanwalt beigeordnet worden ist. Dabei erstreckt sich
die Beiordnung in einer Ehesache kraft Gesetzes gem. § 48 Abs. 3 Satz 1 RVG auf den Abschluss eines
Einigungsvertrages im Sinne der Nr. 1000 RVG-VV (1,5-Einigungsgebühr) auf die dort genannten Folgesachen
wie den gegenseitigen Unterhalt der Ehegatten.
24 Zwar hatte der Familienrichter diesen gesetzlichen Umfang durch seinen Bewilligungs- und
Beiordnungsbeschluss vom 19. September 2006 auf die Verfahrensgegenstände "Ehescheidung und
Versorgungsausgleich" beschränkt, dann aber durch den Beschluss vom 12. Juli 2007 wieder erweitert auf die
"Vereinbarung über den nachehelichen Unterhalt". Aus dieser Beiordnung schließt die Vorinstanz unter
Bezugnahme auf von Eicken/Müller-Rabe in Gerold/Schmidt/von Eicken/Madert/Müller-Rabe, a. a. O., § 48
Rdnr. 108, und der dort zitierten Rechtsprechung unter der Geltung der BRAGO, dass eine Terminsgebühr nicht
festgesetzt werden könne.
25 Dem kann nicht gefolgt werden:
26 Sind die Voraussetzungen für das Entstehen einer Terminsgebühr ebenso erfüllt wie die für eine
Einigungsgebühr nach Nr. 1000 RVG-VV hinsichtlich der in § 48 Abs. 3 Satz 1 RVG genannten Folgesachen,
dann spricht nicht nur der wirtschaftliche Zusammenhang und der bestehende Anwaltszwang (§ 78 Abs. 2
ZPO) dafür, dass die Beiordnung des Anwalts die angefallene Terminsgebühr umfasst, sondern auch die
Zielsetzung der Prozesskostenhilfe, durch die die unbemittelte Partei nicht schlechter gestellt sein darf als die
bemittelte Partei.
27 Bei der von der Vorinstanz vertretenen Auffassung müsste der Rechtsanwalt seine Partei darauf hinweisen,
dass die anfallende Terminsgebühr aus der Staatskasse nicht gezahlt werde, so dass die Ansprüche in einem
gesonderten Verfahren, für das wiederum Prozesskostenhilfe unter Beiordnung des Rechtsanwalts zu
gewähren wäre, verfolgt werden müssten, um eine Festsetzung der Terminsgebühr zu erreichen - es sei denn
der Anwalt verzichtet auf diese (§ 122 Abs. 1 Nr. 3 ZPO). Dies kann jedoch dem PKH-Anwalt, der ohnehin zu
geringeren Gebühren tätig sein muss, nicht als weiteres Sonderopfer abverlangt werden.
28 Der Senat schließt sich deshalb der bereits vom OLG Koblenz (AGS 2006, 349) und vom OLG Köln (AGS
2007, 547) vertretenen Auffassung an, dass neben der 1,5-Einigungsgebühr nach Nr. 1000 RVG-VV nicht nur
die 0,8-Verfahrensgebühr gem. Nr. 3101 Ziff. 2 RVG-VV, sondern auch eine - nicht durch die Einigungsgebühr
abgegoltene - 1,2-Terminsgebühr nach Nr. 3104 RVG-VV bei Einigung in einem gerichtlichen Termin oder aber
nach Vorbemerkung 3 Abs. 3 RVG-VV bei einer auf Vermeidung oder Erledigung des Verfahrens gerichteten
außergerichtlichen Besprechung gegen die Staatskasse festzusetzen ist.
C)
29 Auf die sofortige Beschwerde des Beschwerdeführers war deshalb der weitere Betrag von 17,13 EUR (Differenz
zwischen Antrag und Festsetzung - deshalb nicht 17,14 EUR) zur Zahlung aus der Staatskasse festzusetzen.
30 Die Kostenentscheidung folgt aus § 56 Abs. 2 Satz 2 und 3 RVG.