Urteil des OLG Stuttgart vom 20.11.2003

OLG Stuttgart: entziehung, haschisch, straftat, marihuana, gegenleistung, transport, auflage, verkehrssicherheit, missbrauch, konsum

OLG Stuttgart Beschluß vom 20.11.2003, 1 Ws 335/03
Vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis: Aufhebung im Hinblick auf die abweichenden Auffassungen der Strafsenate des BGH und dem
ungewissen Ausgang des Klärungsprozesses
Tenor
Auf die Beschwerde des Angeklagten wird der Beschluss des Landgerichts Hechingen vom 14. Oktober 2003 über die vorläufige Entziehung der
Fahrerlaubnis aufgehoben.
Dem Angeklagten ist sein Führerschein zurückzugeben.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Angeklagten dadurch entstandenen notwendigen Auslagen fallen der Staatskasse zur Last.
Gründe
I.
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Das Amtsgericht - Schöffengericht - Sigmaringen hatte den Angeklagten am 11. Februar 2003 wegen unerlaubten Handeltreibens mit
Betäubungsmitteln sowie wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu der Gesamtfreiheitsstrafe von 2
Jahren verurteilt. Auf die Berufung der Staatsanwaltschaft hat das Landgericht Hechingen mit Urteil vom 14. Oktober 2003, das der Angeklagte
jetzt mit der Revision anficht, dieses Urteil dahingehend abgeändert, dass der Angeklagte des unerlaubten Handeltreibens mit
Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge schuldig ist und im übrigen freigesprochen wird; der Angeklagte wurde zu der Gesamtfreiheitsstrafe
von 2 Jahren und 3 Monaten verurteilt, seine Fahrerlaubnis wurde ihm entzogen und eine Sperrfrist von einem Jahr festgesetzt. Zugleich
verkündete die Berufungsstrafkammer einen Beschluss über die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis des Angeklagten nach §§ 111a StPO,
69 Abs. 1 StGB. Gegen diese vorläufige Maßnahme wendet sich der Angeklagte mit seiner Beschwerde.
II.
2
Das zulässige Rechtsmittel ist auch begründet. Es sind keine dringenden Gründe im Sinne von § 111a StPO für die Annahme vorhanden, dem
Angeklagten werde die Fahrerlaubnis nach § 69 Abs. 1 StGB endgültig entzogen werden.
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1. Das Landgericht hält den Angeklagten für charakterlich ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen, weil er am 24. April 2002 nach
telefonischer Vereinbarung mit seinem Drogenabnehmer den Pkw Mercedes seiner Mutter von K. in Richtung A. steuerte, um seinem Kunden für
die Gegenleistung von 8 bis 10 hochwertigen Kaffeemaschinen 1971 g Haschisch (THC-Gehalt 147,8 g) und 218,6 g Marihuana zu überbringen.
Unterwegs konnte er von der Polizei gestellt werden, die das Rauschgift sicherstellte.
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2. Die Rechtsauffassung des Landgerichts zur vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis kann nach der neuesten Rechtsentwicklung nicht ohne
weiteres aufrechterhalten werden. Die Rechtslage zur Entziehung der Fahrerlaubnis wegen der Begehung allgemeiner Straftaten nach § 69 Abs.
1 StGB ist derzeit im Fluss, da der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs mit Beschluss vom 16. September 2003 - 4 StR 85/03 u.a. das
Anfrageverfahren gemäß § 132 GVG bei den anderen Strafsenaten mit der Absicht eingeleitet hat, in Abweichung von der bisherigen
Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (seit BGHSt 5, 179) zu entscheiden:
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“Die Ungeeignetheit zum Führen von Kraftfahrzeugen ergibt sich nur dann aus der Tat (§ 69 Abs. 1 Satz 1 StGB), wenn aus dieser
konkrete Anhaltspunkte dafür zu erkennen sind, dass der Täter bereit ist, die Sicherheit des Straßenverkehrs seinen eigenen kriminellen
Interessen unterzuordnen (erforderlicher spezifischer Zusammenhang zwischen Tat und Verkehrssicherheit).“
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In Verfolgung seiner jüngsten Rechtsprechung hat der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs - wie schon in seinen in NStZ-RR 2003, 74 und in
DAR 2003, 181 veröffentlichten Entscheidungen - dazu ausgeführt, dass anders als bei den in § 69 Abs. 2 StGB aufgeführten rechtswidrigen
Katalogtaten allein der Umstand, dass ein Angeklagter ein Kraftfahrzeug zur Begehung einer Straftat benutzt hat, nicht bereits eine
Regelvermutung für seine charakterliche Unzuverlässigkeit zum Führen von Kraftfahrzeugen begründe. Die Maßregel nach § 69 Abs. 1 StGB
diene nicht der allgemeinen Verbrechensbekämpfung; vielmehr setze der nach dieser Vorschrift erforderliche Zusammenhang zwischen Straftat
und Führen eines Kraftfahrzeugs voraus, dass durch das Verhalten des Täters eine erhöhte Gefahr für andere Verkehrsteilnehmer eintrete, dass
also spezifische Verkehrssicherheitsinteressen berührt würden. Ergebe die Anlasstat keinen Hinweis darauf, dass der Angeklagte auch die
allgemeinen Regeln des Straßenverkehrs verletzt habe oder zumindest unter Inkaufnahme ihrer Verletzung die Straftat begangen habe, so
entferne sich die Entziehung der Fahrerlaubnis von ihrer Rechtsnatur als Maßregel der Besserung und Sicherung und gewinne den Charakter
einer Nebenstrafe, die sie nach dem Gesetz jedoch gerade nicht sei. Das Bundesverfassungsgericht habe in seiner jüngsten Rechtsprechung
(BVerfG NJW 2002, 2378) zur - allerdings verwaltungsrechtlichen - Entziehung der Fahrerlaubnis die diese Maßnahme rechtfertigenden
charakterlich-sittlichen Mängel dann als gegeben erachtet, wenn der Betroffene bereit sei, das Interesse der Allgemeinheit an sicherer und
verkehrsgerechter Fahrweise den jeweiligen eigenen Interessen unterzuordnen und hieraus resultierende Gefährdungen des Straßenverkehrs in
Kauf zu nehmen.
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Der Rechtsauffassung des 4. Strafsenats wird vom 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs (Beschluss vom 28. Oktober 2003 - 5 ARs 67/03) nicht
widersprochen; dieser Senat hat seine bisherige Rechtsprechung ebenso aufgegeben wie der 2. Strafsenat im Urteil vom 26. September 2002 -
2 StR 161/03.
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Unter Zugrundelegung dieser Rechtsauffassung gibt es im vorliegenden Fall keine konkreten Anhaltspunkte dafür, dass der Angeklagte als
charakterlich ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen angesehen werden muss. Zwar hat er eingeräumt, dass er früher zeitweilig
regelmäßig Haschisch konsumiert habe, das bei seiner MS-Erkrankung als günstig wirkendes Arzneimittel angesehen werde. Nach seinem
schweren Unfall im Jahre 1997, der zu einer hundertprozentigen Schwerstbehinderung (Rollstuhlfahrer) geführt habe, habe er allerdings das
Rauchen von Haschisch weitgehend eingestellt. Anlässlich einer Urinuntersuchung am 01. Oktober 2003 konnte nach den Urteilsfeststellungen
der Konsum von Drogen bei dem nicht vorbestraften Angeklagten ausgeschlossen werden. Für eine Abhängigkeit des Angeklagten vom
Haschischkonsum (vgl. dazu Tröndle/Fischer, StGB, 51. Auflage, § 69 Rdn. 9c m.w.N.) gibt es keine Anhaltspunkte. Die konkrete Besorgnis, er
werde unter dem Einfluss von Haschisch (oder Marihuana) ein Kraftfahrzeug führen, lässt sich daher bei dem vom Landgericht als intelligent und
willensstark eingeschätzten Angeklagten nicht begründen. Der Missbrauch eines Kraftfahrzeugs zum Transport von Haschisch und Marihuana
und der beabsichtigte Missbrauch durch Transport der Gegenleistung im Pkw reichen nach der genannten Rechtsauffassung für sich allein nicht
mehr aus, um die mangelnde Eignung gemäß § 69 Abs. 1 StGB zu begründen; hierfür wäre eine tatspezifisch erhöhte Gefährdung der
allgemeinen Verkehrssicherheit erforderlich, die hier nicht festgestellt werden konnte.
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3. Im Gegensatz zu dieser Rechtsauffassung hat der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs in seinem Beschluss vom 14. Mai 2003 - 1 StR 113/03
an der früheren Rechtsprechung aller Senate des Bundesgerichtshofs (vgl. die Nachweise bei Tröndle/Fischer, StGB, 51. Auflage, § 69 Rdn. 9a
ff.) festgehalten, wonach es für die Annahme der charakterlichen Ungeeignetheit zum Führen von Kraftfahrzeugen genügt, wenn der Angeklagte
die rechtswidrige Tat nicht nur bei Gelegenheit der Nutzung eines Kraftfahrzeugs begangen, sondern dieses gezielt zur Durchführung der Straftat
und damit unmittelbar tatbezogen eingesetzt hat. Der Indizwirkung der Tat für die Beurteilung der Eignung komme umso größere Bedeutung zu,
je gewichtiger der Tatvorwurf sei und je intensiver der Einsatz des Kraftfahrzeugs zur Durchführung der Tat gewesen sei. Entscheidend sei eine
Gesamtwürdigung der tat- und täterbezogenen Umstände.
10 Nach dieser Rechtsauffassung, auf die sich das Landgericht offensichtlich gestützt hat, käme hier eine vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis
nach § 111 a StPO in Betracht, weil der Angeklagte, der als hundertprozentig Schwerstbehinderter und MS-Patient für die Fortbewegung über
längere Strecken zwingend auf die Pkw-Benutzung angewiesen ist, den Pkw seiner Mutter für den Betäubungsmitteltransport eingesetzt hat und
für den Rücktransport der Gegenleistung verwenden wollte. Ohne die Pkw-Benutzung wäre ihm die Tatausführung nicht möglich gewesen. Ob
seine schwierige gesundheitliche Situation daher als besonders günstiger persönlicher Umstand bewertet werden kann, ist zumindest fraglich,
da sich genau dieser Umstand als kriminogener Faktor ausgewirkt hat. Bei Zugrundelegung dieser Rechtsauffassung erscheint die endgültige
Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 69 Abs. 1 StGB zumindest vertretbar.
11 4. Der erkennende Senat, der im noch laufenden Revisionsverfahren an die Rechtsauffassung des Bundesgerichtshofs gebunden ist (§ 121 Abs.
2 GVG), darf der Entscheidung der BGH-Senate im Anfrageverfahren bzw. der Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen des BGH (§ 132
GVG) nicht vorgreifen. Mit einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs kann in den nächsten Monaten nicht ohne weiteres gerechnet werden.
Auch ist der Ausgang des internen Klärungsprozesses im Bundesgerichtshof ungewiss. In dieser Situation sieht der Senat derzeit keine
dringenden Gründe für die Annahme, dem Angeklagten werde die Fahrerlaubnis endgültig entzogen werden (§ 111a Abs. 1 StPO). Er hat die
vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis daher aufgehoben.
12 Über die nach der Klärung der umstrittenen Rechtsfrage durch den Bundesgerichtshof vom Senat zu treffende Revisionsentscheidung ist damit
keine Vorabentscheidung getroffen.