Urteil des OLG Stuttgart vom 01.10.2009

OLG Stuttgart (anspruch auf rechtliches gehör, rechtliches gehör, verteidiger, hauptverhandlung, vernehmung, beweismittel, verhandlung, stpo, aug, kenntnis)

OLG Stuttgart Beschluß vom 1.10.2009, 5 Ss 1369/09
Verkehrsordnungswidrigkeitenverfahren: Voraussetzungen der Verwertung gerichtskundiger Tatsachen
im Abwesenheitsverfahren
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts … vom 15. Juni 2009 mit den
Feststellungen
a u f g e h o b e n .
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere
Abteilung des Amtsgerichts …
z u r ü c k v e r w i e s e n .
Gründe
I.
1
Das Amtsgericht … hat den Betroffenen am 15. Juni 2009 wegen fahrlässiger Überschreitung der
zugelassenen Höchstgeschwindigkeit zu einer Geldbuße von 50 EUR verurteilt und außerdem gem. § 25 StVG
ein Fahrverbot von einem Monat verhängt.
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Gegen dieses Urteil wendet sich der Betroffene, der in der Hauptverhandlung nicht anwesend und dort auch
nicht durch seinen Verteidiger vertreten war, mit der Rechtsbeschwerde, mit der er die Verletzung formellen
und materiellen Rechts rügt.
II.
3
Das Rechtsmittel ist zulässig und hat mit der Verfahrensrüge (vorläufigen) Erfolg.
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Der Betroffene beanstandet mit seiner ordnungsgemäß erhobenen (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO i. V. m. § 79
Abs. 3 Satz 1 OWiG) Verfahrensrüge zu Recht, dass sein Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1
GG) dadurch verletzt worden ist, dass vom Amtsgericht bei erlaubter Abwesenheit des Betroffenen
Beweismittel herangezogen und verwertet wurden, von denen er sowie sein Verteidiger, der ebenfalls an den
verschiedenen Hauptverhandlungsterminen nicht teilgenommen hatte, keine Kenntnis hatten und auf die sich
die Verteidigung daher nicht einrichten konnte.
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Die Generalstaatsanwaltschaft hat zur Begründung ihres Antrags, auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen
das angefochtene Urteil aufzuheben, u.a. folgendes ausgeführt:
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„I. Die Verfahrensrüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs durch die unterlassene Namhaftmachung
von Beweismitteln entspricht den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO. Der Betroffene hat
dargelegt, dass er von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen in der Hauptverhandlung
entbunden war und auch sein Verteidiger an der Hauptverhandlung nicht teilgenommen hat, welche
Beweismittel ihm durch die Ladungen bekannt waren und welche Beweiserhebungen das Gericht
durchgeführt und zur Bildung seiner Überzeugung verwertet hat. Ferner hat er dargelegt, dass er den
vernommenen Zeugen und Sachverständigen „eingehend befragt“ hätte. Zwar wird nicht näher
ausgeführt, welche Fragen gestellt worden wären; angesichts dessen, dass sich aus der
Rechtsbeschwerdeschrift selbst ergibt, dass der Betroffene schon vor der Hauptverhandlung die
Ordnungsgemäßheit der Messung bestritten hat, erscheint dies vorliegend noch ausreichend.
Schließlich hat er hinreichend deutlich ausgeführt, dass und inwiefern das Urteil auf dem
Verfahrensfehler beruhen kann.
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II. In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass der durch Art. 103 Abs. 1 GG garantierte Grundsatz der
Gewährung rechtlichen Gehörs und die prozessuale Fürsorgepflicht des Gerichts in einem Fall wie
vorliegend, in dem der Betroffene von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen entbunden
worden war und auch der Verteidiger am Termin nicht teilnahm, die Unterrichtung des Betroffenen
erfordert, wann welcher Zeuge oder Sachverständige zu welchem Beweisthema vernommen werden
soll und welche relevanten Urkunden in das Verfahren eingeführt werden sollen. Es dürfen zum
soll und welche relevanten Urkunden in das Verfahren eingeführt werden sollen. Es dürfen zum
Nachteil des Betroffenen nur Beweismittel verwertet werden, die entweder im Bußgeldbescheid
aufgeführt, ihn mit der Ladung mitgeteilt oder vor der Verhandlung bekannt gemacht worden sind.
Beabsichtigt der Richter die Einführung und Verwertung von Beweismitteln, zu denen sich der
Betroffene bisher noch nicht äußern konnte, muss er die Verhandlung unterbrechen oder aussetzen
und den Betroffenen und dessen Verteidiger entsprechend unterrichten, damit der Betroffene die
Gelegenheit zur Äußerung erhält (vgl. Karlsruher Kommentar - Senge, OWiG, 3. Aufl.; § 74 Rdnr. 13
mwN.). Ein Verstoß gegen diese Grundsätze begründet die Rechtsbeschwerde.
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… Jedenfalls durch die Verlesung des Schreibens der Physikalisch- Technischen Bundesanstalt vom
11. Mai 2009 und der Vernehmung des Zeugen … sowie der Verwertung dieser Beweismittel im Urteil
zu Ungunsten des Betroffenen wurde das Urteil auf diesem nicht bekannte Beweismittel gestützt. Der
Akte lässt sich nicht entnehmen, dass der Betroffene oder dessen Verteidiger von dem Schreiben der
Physikalisch-Technischen Bundesanstalt, welches in der Hauptverhandlung vom 15. Juni 2009
verlesen wurde, Kenntnis erlangt hatten oder wussten, dass die entsprechend Urkunde in diesem
Termin verlesen werden würde. Gleiches gilt die Vernehmung des Zeugen …. Er wurde weder im
Bußgeldbescheid noch in einer der dem Betroffenen zugegangenen Ladungen benannt. Die Mitteilung
von der Ladung des Zeugen … wurde auch nicht dadurch entbehrlich, dass ausweislich des Vermerks
des Tatrichters vom 15. Mai 2009 (Blatt 122 Rückseite) mit dem Verteidiger des Betroffenen
telefonisch besprochen wurde, dass zu einem Fortsetzungstermin ein Zeuge der Firma … geladen
werden sollte. Denn zu diesem Zeitpunkt war weder bekannt, welche Person als Zeuge vernommen
werden sollte noch wann die Vernehmung stattfinden sollte. Beide Informationen konnten dem
Verteidiger somit auch nicht mitgeteilt werden. Ausweislich der Urteilsurkunde hat das Gericht seine
Überzeugung von der Ordnungsgemäßheit der Messung im Wesentlichen auf die Vernehmung des
Zeugen … und das verlesene Schreiben der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt gestützt.
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Auf dieser rechtsfehlerhaften Einführung von dem Betroffenen unbekannten Beweismitteln kann das
Urteil auch beruhen. Es ist nicht auszuschließen, sondern vielmehr naheliegend, dass der Betroffene -
wie in der Rechtsbeschwerdebegründung vorgetragen - bei Kenntnis der Stellungnahme der
Physikalisch-Technischen Bundesanstalt und des Vernehmungstermins des Zeugen … anders und
erfolgreicher verteidigt hätte.
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III. Schließlich rügt die Beschwerdebegründung zu Recht, dass der Anspruch des Betroffenen auf
rechtliches Gehör auch dadurch verletzt wurde, dass das Gericht trotz der Abwesenheit des
Betroffenen und seines Verteidigers bei der Vernehmung des Zeugen … im Urteil dessen Erfahrung
und Zuverlässigkeit als gerichtskundig behandelt hat. Nach der Rechtsprechung dürfen
gerichtskundige Tatsachen nämlich nur dann verwertet werden, wenn sie in die Hauptverhandlung
eingeführt worden sind und dabei auch ihre Bewertung als gerichtskundig erörtert wurde. In
Abwesenheitsverfahren müssen solche Tatsachen dem Betroffenen schon vor der Hauptverhandlung
unter Mitteilung der Einführungsabsicht als gerichtskundige Tatsachen bekannt gemacht werden (vgl.
OLG Stuttgart ZfSch 1999, 81). Daran fehlt es hier.“
11 Diesen Ausführungen schließt sich der Senat an.
12 Da das Urteil bereits auf Grund der dargelegten Mängel keinen Bestand haben kann, kommt es auf die
ebenfalls erhobene Sachrüge des Betroffenen nicht mehr an.
13 Das Urteil ist daher mit den zugrunde liegenden Feststellungen (§ 353 Abs. 2 StPO i. V. m. § 79 Abs. 3 Satz 1
OWiG) aufzuheben. Die Sache ist zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des
Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Amtsgericht … zurückzuverweisen (§ 353 StPO i. V. m. § 79 Abs. 3
Satz 1, Abs. 6 OWiG).